FRANKREICH: Die Diskussion um den "Neuen Antisemitismus"  Oder: Gibt es einen spezifisch migrantischen Antisemitismus? Debatte, Hintergründe, Literaturbesprechung  

von Bernhard Schmid (Paris), 15. Oktober 2003

11/03    trend onlinezeitung

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GLIEDERUNG 

0. Einleitung 
1. Facetten der Judenfeindschaft: Erlebte Beispiele 
2. Die Gewaltwelle in den Jahren 2000 - 2002 
3. Antisemitismus, "Antifeujs" oder ein anderer Begriff?
4. Antisemitismus und die französische Mehrheitsgesellschaft 
4a. Exkurs: Die extreme Rechte, Israel und der Antisemitimus - Ein komplexes Verhältnis 
5. "Die verlorenen Gebiete der Republik" 
6. "La nouvelle judéophobie" (nach P.-A. Taguieff) 
7. Die Linke, die Migranten und der Antisemitismus

0. Einleitung

In Frankreich lebt sowohl die größte jüdische Community in Europa (ohne Russland), vor allem aufgrund der Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus dem ehemals kolonisierten Nordafrika nach dem Zweiten Weltkrieg. Die dortigen jüdischen Gemeinden, die oft seit vielen Jahrhunderten davor bestanden, waren vor allem nach 1492 bedeutsam geworden, da sie die aus Spanien zur selben Zeit wie die Muslime vertriebenen jüdischen Flüchtlinge aufnahmen. Doch die Kolonialperiode vertiefte die bereits vorher bestehenden, aber nicht zu unmittelbaren Konfrontationen führenden Brüche in den vorgefundenen Gesellschaften. Die muslimischen Bevölkerungsteile konstituierten sich, gegen die im 19. und 20. Jahrhundert zugewanderten Europäer, zur Nation. Dabei fand sich die jüdische Bevölkerung, obwohl sie seit Jahrhunderten ansässig war, meist auf der anderen Seite der Spaltungslinie wieder. Einer der Gründe dafür ist, dass die französische Kolonialbevölkerung sich die jüdische Bevölkerung zu assimilieren suchte, teilweise um einen Keil in die vorhandene Gesellschaft zu treiben und teilweise auch einfach als Ausfluss liberaler Gedanken (die aber nicht auf die "eingeborene" Mehrheitsbevölkerung ausgedehnt wurden). Im zur Siedlungskolonie transformierten Algerien etwa, in dem eine nach Religionsgruppen geschichtete Apartheid-Gesellschaft herrschte, machte das Crémieux-Dekret von 1870 die einheimischen (oder aus Europa zugewanderten) Juden zu französischen Staatsbürgern. Sie standen damit rechtlich auf (fast) gleicher Stufe wie die aus Frankreich, aber auch Italien und Spanien zugewanderten europäischen Siedler. Dagegen wandte sich im späten 19. Jahrhundert eine heftige antisemitische Bewegung in der europäischen Bevölkerung, die durch den Schriftsteller Edouard Drumont - den Autor von "La France juive" (1886) - ngeführt wurde. Doch mit der Unabhängigkeit 1962 verließ der Großteil der algerischen Juden das Land mit den "Pieds-Noirs" genannten europäischen Siedlern, da sie meinten, nicht ihren Platz im neuen Staat finden zu können.

In den Nachbarländern Marokko und Tunesien, die auf unblutigere Weise ihre Unabhängigkeit erlangen konnten, kam es nicht zu einem vergleichbaren einschneidenen Bruch. Doch mit dem arabisch-israelischen Krieg 1967 kam es besonders in Tunesien zu mehrfachen Ausschreitungen gegen die einheimische jüdische Bevölkerung, die der "Sympathie mit dem Feind" verdächtigt wurde. Heute leben in beiden Ländern noch jeweils rund 3.000 bis 5.000 sich offen als Juden bekennende Menschen, während der größere Teil nach Frankreich (oder Israel) ausgewandert ist. In der Regel werden sie repektiert, doch mit den Attentaten gegen die Synagoge von Djerba (April 2002) sowie dem Massaker von Casablanca (Mai 2003) geriet sie ins Visier eines brutalen Terrorismus, der allerdings von transnational operierenden Kleingruppen ausgeht und nicht wirklich aus der "Mitte der Gesellschaft" kommt.

In Frankreich, wo vor dem Zweiten Weltkrieg rund 300.000 Juden lebten von denen ein Viertel während der Shoah ermordet wurde -, wuchs die jüdische Bevölkerung durch diese Zuwanderung von Sepharaden nach 1970 an. Heute leben hier geschätzte 600.000 jüdische Menschen, von denen ungefähr ein Drittel an die kommunitären Einrichtungen religiöser (das Consistoire) oder säkular-politischer Natur (den Zentralrat CRIF) gebunden ist. 60 bis 70 Prozent unter ihnen sind nordafrikanisch-spanischer Herkunft. Aus dieser Vorgeschichte erklärt sich indirekt mit, warum mitunter ein besonderes Misstrauensverhältnis zwischen "jüdischer" und "arabischer" Bevölkerungsgruppe herrscht. Beide Begriffe sind eigentlich ungenau, vor allem wenn sie gegeneinander gestellt werden: Ein Teil der Juden ist arabischer Muttersprache. Und viele angebliche "Araber" stammen in Wirklichkeit aus der berberischen Bevölkerung in Marokko und Algerien, die eigene Sprachen spricht; einige von ihnen kultivieren diese Differenz, manche pflegen sogar einen anti-arabischen (pro-berberischen) Rassismus, während andere sich unter die Sammelbezeichnung "Araber" aufnehmen lassen. Diese "Kollektiverinnerungen", die unter anderem an die Konflikte in Nordafrika gebunden sind, würden unter den Bedingungen allgemeiner gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation vielleicht nur Spuren im Gedächtnis darstellen, die kaum praktische Relevanz hätten. Individuelles Missverhalten würde es vermutlich geben. Aber in Zeiten der Spannungen, die durch die Misere (von Teilen der Bevölkerung, vor allem auch der eingewanderten) und die gesellschaftliche Ausgrenzung der Migranten angeheizt werden, brechen diese Konflikterinnerungen auf kollektiver Ebene wieder auf. Dann drohen sie zu Spaltungs-, zu Bruchlinien zu werden. Im Extremfall, und dieser ist in den letzten drei Jahren wiederholt eingetreten, führen sie zu Gewalt.

Dabei bilden die historische Erinnerung und zugleich der vermeintlich größere ökonomische Erfolg der jüdischen Community nach ihrer Eingliederung in Wirklichkeit lebt ein Teil der Juden aus Nordafrika und Osteuropa in wirklich armen Verhältnissen eine Grundlage für Missgunst bei einem Teil der maghrebischen Community. Jene steht im allgemeinen auf der untersten Stufe in der Hierachie der französischen Gesellschaft, wobei auch hier die individuellen Situationen heterogen ausfallen. Für manche Angehörigen der letzt genannten Community bildet der Ausdruck negativer Gefühle gegen "die Juden" aber auch ein wohlfeiles Mittel zur Frustrationsabfuhr. Denn wenn man die eigenen Schwierigkeiten - die oftmals auf manifeste Diskriminierung bei der Arbeitsplatzsuche zurückzuführen sind - auf eine noch kleinere Minderheit schieben kann, die vermeintlich an der Zurücksetzung schuldig ist, dann kann man sich subjektiv doch irgendwie "dazu gehörig" fühlen. Es ist vermutlich einfacher, damit subjektiv umzugehen, als sich bewusst kritisch gegen die Mehrheitsgesellschaft zu stellen.

In manchen Fällen wird diese Kanalisierung der Frustration durch "die Juden" durch organisatorische Kerne gefördert, die in den Banlieues Fuß fassen konnten. ("Organisatorische Kerne" deswegen, weil so gut wie keine strukturierte Organisation unter den oft gesellschaftlich atomisierten BewohnerInnen der Trabantenstädte wirklich verankert ist, jedenfalls nicht als "Massen"organisation. Das galt früher für die KP, doch ist auch diese in den Trabantenstädten auf dem Rückzug.)

1. Facetten der Judenfeindschaft: Erlebte Beispiele

Ein Beispiel: Am Rande der Demonstrationen gegen den Irakkrieg im März dieses Jahres machte anfänglich eine "Vereinigung der Iraker Frankreichs" (Association des irakiens de France) auf sich aufmerksam. Es handelte sich dabei um eine regimetreue Vereinigung, die ihre Verflechtungen mit der irakischen Botschaft und den "Diensten" des damals amtierenden Regimes kaum versteckte. (In der zweiten Hälfte des Irakkriegs allerdings war sie aus den - linken und gewerkschaftlichen - Anti-Kriegs-Demonstrationen verbannt worden, da führende Mitglieder der Pro-Regime-Gruppierung irakische Oppositionnelle in den Demos angegriffen hatten. So war am 29. März der irakische Kommunist und Poet Salah Al-Hamdani, der seine Ablehnung des Krieges ebenfalls kundtat, auf dem Boulevard Saint-Germain tätlich angegriffen und verletzt worden, unter tatkräftiger Mithilfe des Spitzenfunktionärs der "Association des Irakiens de France". Daraufhin fand eine dankenswerte Klärung statt, und so wurden die "Iraker gegen Krieg und Diktatur" an die Spitze der folgenden Demonstrationen genommen, und die Handlanger des Regimes von ihnen ausgeschlossen.)

Während der ersten Kriegstage, genauer am 25. März 2003, kann diese Vereinigung allerdings noch einen Lautsprecherwagen während der Kundgebung von Schülern und Jugendlichen auf der Pariser Place de la Concorde stellen. Zu Hilfe kommt ihr dabei die relative Schwäche der Präsenz anderer Kräfte an diesem Spätnachmittag (wir sind an einem Werktag Nachmittag). Aus diesem Anlass können die Umstehenden, die allerdings aufgrund der starken Zerstreuung auf dem riesigen Platz nur 100 bis 200 an der Zahl sind, eine gruselige Rede aus dem Lautsprecher der Organisation hören - den die Pro-Regime-Vereinigung dabei an ein ihr nahe stehendes "Kulturzentrum" abgetreten hatte. Europa und die Araber müssten zusammen halten, wie die Geschichte beweise; dagegen hätten die Amerikaner stets nur Unrecht gestiftet. So sei, fährt der Redner - ein modern gekleideter Schönling mit "mesopotamisch" wirkendem Stufenhaarschnitt - fort, im Zweiten Weltkrieg durch die US-Intervention in Europa mehr Unheil angerichtet worden als durch die Deutschen, sprich die Nazis. Mein Übelkeitsgefühl ist bereits erheblich. (Wenigstens leugnet der Redner den Holocaust nicht, sondern beschränkt sich auf die Aussage, die Araber trügen keine Mitschuld an ihm.) Im folgenden appelliert er an die Jugendlichen aus Einwandererfamilien, die ihn vorwiegend umgaben, wie an eine Elite von morgen: "Ihr müsst Euch bilden, Ihr müsst Euch um Euere Zukunft kümmern, Ihr dürft Euch nicht hängen lassen." Aber warum? Um künftig das Gegengewicht zu jenen zu bilden, die das Land auf den Weg zum Unheil führen, also - man hatte es an dieser Stelle erwartet - "die jüdische Lobby". Denn diese ist gut organisiert, aber in Wirklichkeit doch schwach, so dass man sich nicht unterkriegen lassen darf. Ein solcher Diskurs kann verfangen, erstens, weil er Mut zu spenden scheint: Die Mauer der Erfolglosigkeit und der Diskriminierungen ist nicht so hoch, wie es aussieht, da sie letztlich doch nur durch eine kleine Bevölkerungsgruppe bewacht zu werden scheint. Zweitens, weil er diesen Jugendlichen aus Einwandererfamilien einen Sinn, ein zielstrebig zu verfolgendes Projekt für ihr Leben vorzugeben scheint. Und drittens, weil er ihnen scheinbar erlaubt, Teil einer "großen Sache", die gemeinsam verfolgt wird, zu sein.

In diesem Fall ging dieser bedrohliche Diskurs nur von einer organisierten Kleingruppe aus, und um die "Association des Irakiens de France" ist es seit dem Ende des Krieges - sei es mangels Betätigungsfeld oder wegen ausbleibender Unterstützung vom Regime - still geworden. Doch zugleich lässt die Schilderung erahnen, welche Zutaten zum Erfolg eines - vorwiegend - gegen die jüdische Community gerichteten Diskurses führen können, falls sie von anderen Akteuren aufgegriffen werden. Malen wir nicht den Teufel an die Wand: Es gibt derzeit keine übergreifende (ideologisierte) Massenbewegung, und das dominierende Element in den französischen Trabantenstädten ist die soziale Atomisierung und gesellschaftliche Ohnmacht. Dennoch ist ein geistiges Grundklima vorhanden, das die Voraussetzungen bietet, um sich - und sei es auf unorganisierte Weise, oder in von Mikrogruppen bestimmter Form - unter Umständen in Bedrohungen und in Gewalt gegen jüdische Menschen zu entladen.

Szenenwechsel. Paris, Ende Juli 2003, an einem heißen Freitagnachmittag (dem muslimischen Gebetstag). Im unteren Teil der rue Polonceau, im 18. Pariser Arrondissement, einem der mit Abstand ärmsten und am stärksten von Einwanderung geprägten Stadtbezirke. Unweit der von vielen maghrebinischen und westafrikanischen Immigranten besuchten Moschee in der rue Polonceau hat ein, reichlich verwahrlost aussehender, "wilder" Prediger für kurze Zeit sein Publikum unter freiem Himmel gefunden. Rund 50 Personen umringen ihn, die meisten dürften Algerier oder Marokkaner sein, auch wenn der auf eigene Faust Predigende Hocharabisch spricht. Einige hören ihm zu, andere sehen etwas verwirrt drein oder wissen anscheinend nicht genau, was der Zirkus soll. Doch der "Spuk" hält nur einige Minuten an.

Der Mann redet sich beinahe in Trance, wild gestikulierend, seine Stimme ist heiser. "Häl hädä hokm eslami? Häl hädä hokm eslami?" fragt er beschwörend in die Runde (Sieht so eine islamische Herrschaft aus?). Sein ausgestreckter Zeigefinger fuchtelt auf der Titelseite einer marokkanischen Tageszeitung herum, man sieht ein Foto des derzeitigen Königs Mohammed VI. und darunter einen Bericht über einen politischen Gefangenen (konkret handelt es sich um den nicht-islamistischen, demokratischen Journalisten Ali Lamrabet, der eine mehrjährige Haftstrafe wegen Majestätsbeleidigung absitzt). Die Antwort erteilt er sich vor seinen Zuhörern gleich selbst: "Lä! Hädä hokm al-yahudi! Hädä hokm al-sijuni!" (Nein, das ist die Herrschaft des Juden, das ist die zionistische Herrschaft!) Und weil es so schön war, wiederholt er es gleich noch mal.

In den Worten des selbsternannten Predigers ging es zwar nicht um die französische Situation, sondern um sein mutmaßliches Herkunftsland. Doch die paranoide, um "die Juden" kreisende, verschwörungstheoretische Welterklärung lässt sich auf unterschiedliche Gesellschaften und ihre jeweiligen Probleme übertragen. Das hier Dargestellte ist ohne jeden Zweifel nicht repräsentativ für "den französischen Islam", sondern beschreibt eine Randfigur, die in einem gesellschaftlich desintegrierten Publikum Neueinwanderer, am Rande der Gesellschaft lebende Arme ihre Zuhörer findet. Allerdings können einige der gedanklichen Versatzstücke, die der Redner benutzt, in erheblich weiteren Kreisen zirkulieren.

Fahren wir mit einem kleinen "Krimi" fort. Paris, Anfang Mai 2002. Es klingelt an der Wohnungstür. Ein junger Mann stellt sich vor: Guten Tag, ich bin der neue Nachbar vom Stockwerk obendran, gerade frisch eingezogen. Wo kommen Sie denn her, fragt er; ich antworte ausweichend. "Ich, ich bin Israeli", meint der andere ungefragt; ich hätte spontan wohl getippt, er stamme aus einem Maghrebstaat, aber es ist mir reichlich egal. "Meine Eltern haben einen der koscheren Läden gegenüber"- die Straßenzeile besteht überwiegend aus koscheren Lebensmittelgeschäften und Supermärkten, die sich hier rund um das ehemalige Gelände der Pariser Schlachthöfe (wo heute der Parc de la Villette liegt) angesiedelt hatten. Einen Moment lang kommt mir das komisch vor, denn die Inhaber sind meines Erachtens in der Regel keine Israelis, sondern jüdische Franzosen oder Einwanderer aus Tunesien und Osteuropa. Aber er muss es ja wissen, außerdem bin ich abgelenkt, da ich mich zum Gehen ankleide. Na, willkommen im Haus.

Ja, ich habe da nur eben ein Problem, meint der junge Mann: Ich habe mich gerade ausgesperrt, und meine Freundin ist auf der Arbeit. Könnte ich nicht mal kurz telefonierenŠ Aufgrund meiner Eile will ich ihn nicht hereinbitten,also gebe ich ihm das Handy. Der junge Mann sagt ein paar Worte zu seiner Freundin. Um besser zu verstehen, tritt er kurz auf den Treppenabsatz. Nanu, wo ist der Typ denn geblieben? Schon ist er weg, das Handy natürlich gleich mit.

Diese kleine Begebenheit soll nicht illustrieren, dass die Kriminalität oder jene von Einwanderern in Frankreich angeblich überhand nehme. Entgegen konservativer Propaganda gibt es keinen dramatischen Anstieg. Auch als "Opfer" brauche ich mich nicht zu beklagen, und Ersatz für das versicherte Handy zu besorgen, kostete mich 50 Cents und eine Stunde Zeit. Aber viel interessanter ist der psychologische und ideologische Mechanismus, den der mutmaßliche Kleinkriminelle eingesetzt hatte. Man könnte von einer offenkundigen (gedanklichen) Abspaltung als negativ empfundener Eigenschaften von sich selbst sprechen, verbunden mit ihrer Projektion auf andere auf eine zur Verkörperung des Übels bestimmte Bevölkerungsgruppe. Der junge Mann schickte sich an, eine Straftat zu begehen und in das Eigentum eines anderen einzugreifen. Doch für seine Tat machte er wohlweislich vorab jüdische Menschen verantwortlich, vielleicht in der Hoffnung, dies möge hinterher im Kopf des Gegenübers hängenbleiben. Erlebnisse wie die geschilderten sind keine repräsentative Darstellung, sofern es darum geht, das Leben der rund vier Millionen Einwanderer und ihrer NachfahrInnen aus muslimischen Ländern in Frankreich zu beschreiben. Unter ihnen befinden sich engstirnige ebenso wie weltbürgerlich denkende, strenge religiöse Praxis betreibende ebenso wie faktisch ungläubige Menschen, Fußball spielende Mädchen und "sexy" gekleidete Schülerinnen ebenso wie schwarz eingehüllte Töchter mit "züchtig" bedecktem Haupthaar, sensible KünstlerInnen ebenso wie eine kleine Zahl terroristisch Handelnder (die 1995/96 einige Bombenanschläge in Frankreich, u.a. auf die Pariser Metro, verübten). Dennoch bezeichnen sie eine Tendenz, die seit einigen Jahren zunimmt, drücken sie ein gewisses Klima aus, dessen Einfluss bestimmte Teile der Gesellschaft erfasst.

Doch es gibt auch positivere Beispiele. So fanden nach der Gewaltwelle im Frühjahr 2002 zahlreiche gemeinsame Veranstaltungen von Institutionen beider Bevölkerungsgruppen - der jüdischen und der "arabischen" - statt. Etwa gemeinsame Sondersendungen und öffentliche Veranstaltungen von Radio Shalom und Radio Beur ("Beurs" heißen seit den 80er Jahren die arabischstämmigen Einwandererjugendlichen). Und es war ein arabischstämmiges Einwandererkind, das vor anderthalb Jahren bei Indymedia Frankreich Alarm schlug, als dort offen antisemitische Texte zu kursieren begannen und von einigen französischen und belgischen Betreibern des Projekts zumindest sträflich verharmlost wurden. So hatte ein Khaled Amyreh u.a. geschrieben, das Übel gehe auf das 7. Jahrhundert (christlicher Zeitrechung) zurück, als "die Juden sich mit den Polytheisten vom (arabischen) Stamm der Quraisch verbündet (hätten), um den Propheten des Islam zu töten". Derselbe (!) Konflikt setze sich auch nach dem 11. September 2001 fort, wobei die "zionistisch kontrollierte Presse" in den westlichen Ländern dazu aufrufen, Moslems zu töten. Doch "die Juden" hätten nunmehr "die Verantwortung für ihre widerliche Dummheit selbst zu tragen". Die am Projekt beteiligten Franzosen und BelgierInnen spielten dieses übel riechende Zeug zunächst herunter. Vielleicht weniger aus Zustimmung denn aus einem paternalistischen Herangehen heraus - man müsse das doch zumindest von der Situation in Palästina her verstehen (unausgesprochen steckt dahinter, man solle mit arabischen Menschen vielleicht nicht zu anspruchsvoll sein).

Eine Tochter arabischer Immigranten, die unter dem Aktivistennamen "Massalia" zu den führenden BetreiberInnen des Projekts zählte, zog daraufhin die Alarmglocke. Sie schaltete u.a. die autonome Antifagruppe Scalp-Reflex und eine KP-nahe Palästina-Solidaritätsvereinigung (die antisemitischen Interpretationen des Nahostkonflikts explizit entgegentritt) ein. Beide bezeichneten die umstrittenen Texte sofort als antisemitisch und verurteilten ihre Veröffentlichung scharf; für den Fall ihrer Nichtentfernung drohten sie damit, Indymedia Frankreich künftig zu boykottieren. Das war dann gar nicht erforderlich, denn der Konflikt in der Redaktion bzw. dem "Animateurskollektif" des angeblich alternativen Mediums eskalierte derart, dass es im Juni 2002 sein Betreiben einstellte. Seitdem existieren nur noch ein halbes Dutzend regionaler Inndymedia-Websites in manchen französischen Städten, aber kein Indymedia Frankreich mehr. Was angesichts dessen, was dort publiziert worden war, aber auch kein Verlust sein dürfte. (FUSSNOTE 1)

Oftmals befinden sich die Jugendlichen arabisch-migrantischer Herkunft in einer Grauzone, wo sie zwischen verschiedenen Einflüssen hin- und hergerissen sein können. Viele von ihnen lehnen die kommunitaristische Borniertheit ab, da sie wissen, dass sie nur selbst Schaden davon nehmen können. Andererseits haben viele, aufgrund des realen Auseinanderdriftens verschiedener Bevölkerungsgruppen, mitunter gar keinen persönlichen Kontakt mit jüdischen Menschen. Das erleichtert das Projizieren von Bildern und das Kultivieren angesammelter Ressentiments oder Stereotypen ("Juden, das sind die mit ihrer dummen Mauer" in Palästina). Jedenfalls dort, wo sich das Ressentiment nicht so verfestigt hat, dass es erfahrungsresistent geworden ist - es ist zu befürchten, dass das bei einem "harten Kern" der Fall ist, doch interessanter sind die anderen Personen - lässt sich dem durchaus entgegentreten.

So zum Abschluss eine andere Begebenheit. Am 6. April 2002, einem Samstag, in einem vollbesetzten Waggon der Pariser Metro. Dieser fährt auf die Place de la République zu, wo kurz darauf eine Demonstration gegen die israelischen Militäroperationen in den besetzten Gebieten stattfinden wird. Die meisten Insassen des Abteils befinden sich auf dem Weg dorthin. Ein junger Mann fängt irgendwann zu schimpfen, erst leise und dann immer lauter: "Die Juden, die Juden. Was machen sie mit unseren Brüdern. Und auch in Frankreich sind sie frechŠ" Plötzlich steht ein älterer Mann auf, wohl deutlich über 60, und fährt ihn an: "Was willst Du? Was weißt Du überhaupt? Du hast doch keine Ahnung. Ich bin Jude. Und ich bin auf dem Weg dorthin, wo Du auch hinfährst. Und ich habe gegen den Einmarsch im Libanon demonstriert, als Du noch nicht die Augen aufgemacht hattest. Also sag mir, was willst Du?" Die Spannung im Waggon steigt, doch der Angesprochene bringt nur einige unzusammenhängende Satzfetzen hervorgestammelt. Die meisten Anwesenden beobachten die Szene, vorwiegend stumm, doch die Sympathien scheinen ganz überwiegend auf der Seite des älteren Herrn zu liegen. Der junge Mann, der sich blamiert hat, zieht beim Aussteigen den Kopf zwischen die Schultern und grummelt gegenüber seinen Freunden vor sich hin.

Typische Szenen? Keine von ihnen, oder alle von ihnen. Die gesellschaftliche Realität ist komplex. Dennoch lassen sich klare klimatische Tendenzen ausmachen.

2. Die Gewaltwelle in den Jahren 2000 und 2002

Der schlimmste Ausdruck dieses Grundklimas sind die beiden Wellen von Gewalttaten, die vor allem im Herbst 2000 (kurz nach Ausbruch der Zweiten Intifada) und im März / April 2002 (nach Beginn der Auseinandersetzungen um Jenin) für eine Dauer von jeweils ein bis zwei Monaten zu verzeichnen waren. Die schlimmsten Erinnerungen wurden vor allem im Frühjahr 2002 wachgerüttelt. In Marseille brannte eine Synagoge weitgehend aus. Nahezu zeitgleich wurde die Vorderwand eines jüdischen Gebetshauses in La Duchère einem "sozialen Problemviertel" bei Lyon mit Hilfe eines so genannten Rammbock-Autos (voiture-bélier) eingedrückt. Es handelt sich um eine kriminelle Methode, wie sie seit einigen Jahren in mehreren französischen Banlieues verbreitet ist: Ein Auto wird in volle Fahrt gebracht, und seine Wucht zum Rammen eines Gebäudes eingesetzt. 14 jüdische Jugendliche des Fußballclubs Maccabée in Bondy, einer Trabantenstadt nördlich von Paris, wurden durch eine größere Bande angegriffen und mit Schlägen malträtiert. Und diese Attacken bildeten nur die Spitze eines Eisbergs. Zwischen dem 29. März und dem 17. April des vergangenen Jahres wurden insgesamt 395 Straftaten unterschiedlicher Schwere gegen jüdische Menschen und Einrichtungen festgestellt. Das reichte vom Verbaldelikt (Beleidigung, Bedrohung) über das Anspucken bis zu Gewalttaten wie den genannten. Das Schlimmste scheint in dieser Hinsicht vorüber zu sein; Mitte August 2002 meldete die Pariser Abendzeitung "Le Monde" (vom 11./12. 08.), die konstant über die Gewaltwelle informiert hatte: "Die antijüdischen Gewaltakte sind der Welle vom April stark zurückgegangen." Das bedeutet nicht, dass es zu keinen Gewalttaten mehr komme (ebenso, wie es eine konstante Rate von rassistischen Straftaten gegen Einwanderergruppen gibt). Eines der jüngsten Beispiele ist die Schändung einer Synagoge in der Pariser Vorstadt Saint-Denis in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli dieses Jahres. Noch jüngeren Datums ist die körperliche Aggression gegen den Rabbiner der Pariser Vorstadt Ris-Orangis, Michel Serfaty, der am vorigen Freitag abend (17. Oktober) von vier in einem Auto sitzenden Männer ins Gesicht geschlagen und beschimpft wurde. Die beiden mutmaßlichen Haupttäter, ein 21- und ein 25jähriger aus der Pariser Banlieue, sitzen in Haft.

Das Profil der Täter, soweit bekannt, lässt sich im Wesentlichen in zwei Gruppen einteilen. Die deutlich größere Gruppe der gefassten Urheber von Gewalt- oder Straftaten gegen jüdische Menschen oder Symbole, soweit es um die letzten beiden Jahre geht, besteht aus jungen Männern oder Jugendlichen aus der arabischstämmigen Einwanderergruppe. Diese sind in den meisten Fällen bereits polizeibekannt oder vorbestraft, bevor sie mit Gewaltakten gegen Juden in Erscheinung treten, und gehören in der Regel keiner organisierten Bewegung (welcher Natur auch immer) an. Sie scheinen in losen Kleingruppen zu handeln, die sich in einer allgemein von Gewalt geprägten Umgebung bewegen wie sie in bestimmten Zonen der "sozialen Brennpunkte" in den Trabantenstädten, wohin die Gesellschaft ihre Armen und ihre Probleme abschiebt, anzutreffen ist. Ein kleinere Teil dagegen besteht aus "klassischen", ideologisch strukturierten Antisemiten aus dem Umfeld der französischen extremen Rechten.

Daher konzentrieren sich auch die Gewalttaten räumlich auf jene Zonen, wo entweder sichtbare jüdische Communities selbst in sozialen Unterschichtvierteln wohnen das gilt vor allem für aus Nordafrika eingewanderte jüdische Bevölkerung oder aber wo gemischte Wohngebiete mit jüdischem Bevölkerungsanteil unmittelbar dicht an marode Hochhaussiedlungen angrenzen. Ersteres ist etwa in Sarcelles der Fall, wo Ende der Fünfziger Jahre eine der allerersten (und bis heute größten) Hochhaussiedlungen Frankreichs 15 Kilometer nördlich von Paris entstand und zugleich eine der größten jüdischen Gemeinden Frankreichs lebt, mit hohem Anteil an Einwanderern aus Nordafrika. Zweiteres gilt etwa für größere Teile des 19. Pariser Arrondissements: In diesem Bezirk herrscht einer der höchsten Armutsraten innerhalb von Paris, mit einigen der verrufensten Hochhaussiedlungen innerhalb der Stadtgrenzen. Dabei existieren auch hier einige halb "abgeschriebene" Zonen, in denen ein Teil der Einwandererbevölkerung "geparkt" wird, wenngleich sie weit weniger ausgedehnt sind als in den Trabantenstädten. Zugleich bestehen hier mehrere Straßenzüge intensiven und sichtbaren (da orthodoxen) jüdischen Lebens, etwa nördlich des Parc de la Villette oder auch, südlich davon (in der rue Manin, oder im Stadtteil Belleville). In diesem Dreieck im nordöstlichen Paris war die Spannung vor allem im Herbst 2000 deutlich spürbar. Mittlerweile dagegen ist sie zumindest aus dem jüdischen Alltagsleben, wie es auf der Straße sichtbar ist, wieder verschwunden.

Dennoch darf der Eindruck nicht darüber hinweg täuschen, dass die Ereignisse psychische Spuren hinterlassen haben. Viele jüdischen Menschen haben an Vertrauen verloren und reagieren mit unterschiedlichen Strategien darauf. Eine Zeitlang neigten einige von ihnen dazu, ihr Judentum zu verbergen, indem sie etwa die Kippa durch eine "unverfänglichere" Kopfbedeckung, wie Baseballkappen, austauschten. Diese Erscheinung ist aber seit einem Jahr stark zurückgegangen, und die Kippa wird wieder deutlich sichtbar getragen. Andererseits aber reagiert ein Teil von ihnen auch durch einen geistigen Rückzug auf die Grenzen ihrer eigenen Community, oder auf den Gedanken nach Auswanderung. (FUSSNOTE 2) Wieder andere warnen davor, sich zu isolieren und "selbst zu ghettoisieren", und legen die Betonung darauf, jüdische Menschen seien nicht die einzigen Opfer von Gewalt in jenen "Problemzonen", in denen sich die Mehrzahl der Angriffe in den vergangenen Jahren ereigneten.

3. Antisemitismus, "Antifeujs" oder ein anderer Begriff?

Erweist sich der Begriff des Antisemitismus als angemessen, um das zu beschreiben, was in jüngerer Zeit in Teilbereichen der französischen Gesellschaft vorging? Oder ist er deswegen untauglich dafür, weil er diese Erscheinungen "essenzialisieren"würde, d.h. ihnen durch ein Begriff, der unweigerlich sehr starke Erinnerungen und historische Erfahrungen transportiert, einen umfänglichen Bezugs und Interpretationsrahmen überstülpen würde?

Diese Debatte existiert unter JournalistInnen und WissenschaftlerInnen, die den Gewalt- und anderen Phänomenen einen Begriff zu geben suchen. Sie existiert vor allem auch unter französischen Juden selbst. Vergröbert ließe sich feststellen, dass derjenige Teil der kommunitären Sprecher und Institutionen, die für eine verstärkte Bindung an den Staat Israel eintreten (d.h. die oft auch die konkrete israelische Politik verteidigen), und / oder die das Land Israel als potenziellen Lebensort für sich betrachten, stärker zur Verwendung des Begriffs "Antisemitismus" neigen. Umgekehrt neigen jene, die für eine "republikanische", universalistische Perspektive eintreten und das Judentum vor allem als Bestandteil einer multiplen französischen Gesellschaft sehen, eher zur Benutzung anderer Begriffe, geht es um die Ereignisse der letzten drei Jahre.

Exemplarisch wird dies an der Debatte zwischen Theo Klein, der zwischen 1983 und 1989 Präsident des CRIF des jüdischen Zentralrats in Frankreich war, und dem Rechtsanwalt Arno Klarsfeld. Sie wurde im Januar 2002 im Wochenmagazin "Le Point" dokumentiert. Arno Klarsfeld meint in diesem Zusammenhang: "Wenn man einen Rabbi angreift und eine Synagoge beschmiert, ist das eine antisemitische Handlung. Man sollte nicht versuchen, sie zu rechtfertigen, indem man sagt, dass ihre Urheber Opfer des Gesellschaftssystems seien" (wie dies für die, am unteren Rand der Gesellschaft stehende, maghrebinische Bevölkerungsgruppe tendenziell zutreffen mag). Die Taten entsprechen seiner Ansicht nach einem ideologischen Klima, "in dem eine Kampagne von linken Intellektuellen Israel zu diabolisieren versucht". Hingegen argumentiert Theo Klein: "Ich habe das traurige Privileg gehabt, in den 30er Jahren den wirklichen Antisemitismus zu erleben, der im Juden-Statut vom Oktober 1940 gipfelt. Ich denke, dass die aktuellen Ereignisse keine direkte Verbindung zu jenem Antisemitismus aufweisen. Ich bestreite nicht, dass es gegen Juden gerichtete Angriffe gibt. Aber diese gewalttätigen Elemente sind die gleichen, die auch Polizisten angreifen, Feuerwehrleute (Anm.: die tatsächlich manchmal bei Löscharbeiten in besonders krisenhaften Trabantenstädten attackiert wurden) und Lehrer! (Š) Diese Taten sind Bestandteil einer allgemeinen Gewalt, diein diesem Teil der Jugend sei sie nun maghrebinischstämmig oder nicht weit verbreitet ist. Sie wird aber vielfach von gewissen Predigern angefacht, die einen allgemeinen Kampf gegen die westliche Gesellschaft im Namen des Islamismus führen wollen."

Auf andere Weise haben die jüdische Studentenunion UEJF und die Antirassismus-Organisation SOS Racisme das Problem der Benennung gelöst. Im März 2002 gaben sie gemeinsam ihr "Weißbuch" (Livre blanc) heraus, in dem sie auf 236 Seiten mehrere hundert verbale und physische Aggressionen auflisten, die zwischen September 2000 und Ende Januar 2002 gegen jüdische Menschen in Frankreich begangen wurden.

Ihm gaben sie den schlichten Titel Les antifeujs. Der Begriff, den die Herausgeber neu geprägt haben, übernimmt einen Terminus der Jugendsprache in den Trabantenstädten, die systematisch die Silbenfolge der Wörter umdreht. In ihr werden folglich aus juifs (Juden) feujs, so wie auch Frauen (femmes) zu meufs werden oder Bullen (flics) nurmehr keufs heißen.

Damit deuten sie einerseits auf eine spezifische gesellschaftliche Lokalisierung der Urheber solcher Taten hin, die ja nun (in der Regel) tatsächlich nicht aus der sprichwörtlichen "Mitte der Gesellschaft" kommen, deren Beifall oder zumindest stumme Zustimmung den Hass auf eine Minderheit erst zum veritablen Vernichtungsprogramm werden lassen kann. Andererseits umgehen sie das Bennungsproblem, indem sie sowohl auf eine spezifisch gegen Juden gerichtete Dimension der Taten (und der dahinters stehenden ideologischen, oder alltagsideologischen, Versatzstücke) hinweisen als auch den historisch mit konkreten Erscheinungsformen verbundenen Begriff "Antisemitismus" vermeiden.

"Frankreich ist kein antisemitisches Land, und jene, die das Gegenteil behaupten, lügen, und zwar bewusst", schreiben Patrick Klugman - der Enkel polnischer Juden - und Malek Boutih, der Sohn maghrebinischer Eltern, in ihrem gemeinsamen Vorwort. Aber, fahren der Vorsitzende der UEJF und jener von SOS Racisme fort, "die Wiedergeburt eines Antisemitismus ist eine Tatsache"; an dieser Stelle führen sie den Begriff also dennoch ein. Doch Patrick Klugman fügte auf der Pressekonferenz im März 2002, anlässlich derer das Buch der Öffentlichkeit präsentiert wurde, fort: "Man muss sich vor einer Gefahr hüten : Diesen unorganisierten Verhaltensformen eine ideologische Bedeutung zu verleihen, eine spontane Gewalt in eine theoretische Form zu gießen."Gleichzeitig warnen die beiden Autoren in ihrem Vorwort auch davor, die Jugend "ignoriere vielleicht, wie leicht die Hände, die ŒTod den Juden¹ an die Wand schreiben, dazu übergehen können, Juden zu töten."

Zugleich publiziert die UEJF am selben Tag eine Befragung französischer Jugendlicher zwischen 15 und 24 Jahren, die sich - anonym - zu Ihrer Sichtweise gegenüber Juden und Jüdinnen äußern sollten. Die Ergebnisse sind nach Ansicht des Verbands global ermutigend. 89 Prozent hätten kein Problem damit, einen Juden oder eine Jüdin als LebenspartnerIn zu haben, und 87 Prozent finden die Übergriffe auf französischem Boden schlicht "skandalös", während 11 Prozent der jüdischen Bevölkerung einen Anteil von Mitschuld geben. Allerdings : Zwar finden nur 5 Prozent der Befragten die Ansicht "richtig", die Juden hätten zu viel Einfluss in der Finanzwelt, und 7 Prozent "in den Medien". Aber 17 bzw. 14 Prozent können dieser Auffassung "teilweise" etwas abgewinnen. Doch diese Ziffer entspricht dem, was seit längerem als Sockel antisemitischer Urteile in der Gesamtbevölkerung festgestellt werden kann (die abrufbar sind, aber nicht jederzeit in akutes Handeln umschlagen) - nicht aber einer Zunahme solcher ideologischen Elemente seit dem Herbst 2000.

Auch die Jugendlichen maghrebinischer Herkunft - die getrennt befragt wurden - teilen diese Geisteshaltung grundsätzlich. Auch wenn bei ihnen, das ist der auffälligste Unterschied zur übrigen französischen Jugend, nur 68 Prozent mit einem Juden oder einer Jüdin als Paar zusammenleben möchten - was allerdings eher Ausdruck kommunitärer Mechanismen ist (man heiratet innerhalb der Community, oder jedenfalls der eigenen Religionsgruppe), die es genau so auch in anderen Bevölkerunsgruppen gibt. Doch auch 95 Prozent unter den maghrebinischstämmigen (und 98 Prozent der französischstämmigen) Jugendlichen sind der Ansicht, in Frankreich solle jedermann eine Kippa ohne Belästigung tragen können, da dies keine Provokation, sondern ein selbstverständliches Recht sei.

Eine Minderheit freilich sieht dies anders. Ihre Handlungen können ausreichen, um das Klima zu vergiften.

4. Antisemitismus und die französische Mehrheitsgesellschaft

Feindprojektionen auf "Juden" sind dabei keine originär "islamischen" oder "migrantischen" Mechanismen, die vorrangig in der muslimischen Einwandersbevölkerung entstanden wären. Tatsächlich waren sie in Frankreich nicht nur vorhanden, sondern virulent, bevor es zu einer zahlenmäßig stärkeren Einwanderung aus den damaligen nordafrikanischen Kolonien kam. Der isrealische Historiker Zeev Sternhell - ein eminenter Spezialist der französischen faschistischen und präfaschistischen Bewegungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert schrieb (FUSSNOTE 3) zu Ausgang des vorletzten Jahrhunderts hätte man die Metropole des europäischen Antisemitismus, wo sich eine brisante Mischung aus "nationaler" und "sozialer Frage" zusammenbraute, wohl in Paris und nicht in Berlin angesiedelt. Im Zuge der sogenannten Dreyfus-Affäre, in deren Verlauf die Anhänger und Gegner einer Amnestierung des unschuldig wegen "Spionage" verurteilten Militärs jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus zusammenstießen, mobilisierte eine antisemitische Massenbewegung in den Säalen und auf der Straße. Doch von dieser Zeit ab hat es in der französischen Gesellschaft auch mächtige Gegenbewegungen gegeben, und der politisch organisierte Antisemitismus hat wichtige Niederlagen einstecken müssen. Den ersten bedeutenden Rückschlag musste er in der Debatte um das Dreyfus-Urteil einstecken. Als erste griffen anarchistische, libertär-sozialistische Gruppen auf militante Weise antisemitische Veranstaltungen an. Nach einigem Zögern warf die organisierte sozialistische Arbeiterbewegung unter Jean Jaurès ihr bereits erhebliches Gewicht in die Waagschale, und verbündete sich mit den liberalen Republikanern gegen die antisemitische Bewegung, die drohend die Dritte Republik herausforderte. Bürgerliche und fortschrittliche Intellektuelle, wie Emile Zola (mit seiner berühmten Schrift "J¹accuse") engagierten sich und spielten eine Schlüsselrolle in der politisch-moralischen Debatte.

Die GegnerInnen des Antisemitismus hatten Erfolg: Das Urteil gegen Dreyfus wurde aufgehoben, und am Ende der innenpolitischen Auseinandersetzung stand die 1905 beschlossene Trennung von Kirche und Staat. Der bis heute institutionnel festgeschriebene französische Laizismus ist ein direktes Ergebnis des Ausgangs der Dreyfus-Affäre. Eine zweite erhebliche Niederlage für die antisemitische Massenagitation bedeutete die Wahl des französischen Juden Léon Blum zum Premierminister der linken Front populaire-Regierung (FUSSNOTE 4) im Mai 1936. Der sozialistisch orientierte Jurist war zuvor zur Zielscheibe einer systematisch angelegten antisemitischen Massen- und Hasskampagne geworden. In deren Verlauf wurde u.a. behauptet, Blum heiße in Wirklichkeit Karfunkelstein und stamme aus Bessarabien, insgeheim sei er reich und man wisse nichts von der Herkunft seines Vermögens. Die rechte Massenpresse bezeichnete ihn nach einem klassischen antisemitischen Topos als juif errant, also wurzellosen und "umher irrenden (oder streunenden) Juden". Dennoch ist der Name Léon Blums bis heute im Massenbewusstsein eher mit positiven Dingen verbunden, namentlich mit der erstmaligen gesetzlichen Einführung von Jahresurlaub.

Der staatliche Antisemitismus, wie er wenige Jahre später in Vichy zum Programm wurde und zur NS-Vernichtungsmaschinerei beitrug -, ist hingegen eng mit der deutschen Besatzung und ihren Kollaborateuren verbunden, und daher zumindest im Nachhinein in weitesten Kreisen fraglos diskreditiert. Dagegen lebt er natürlich in Kreisen der extremen Rechten fort. Doch innerhalb der extremen Rechten existieren (wie zu anderen ideologischen Fragen) verschiedene Standpunkte nebeneinander her. Denn ein Teil des politischen Rechtsextremismus hat in den 50er Jahren, weniger aus Ablehnung des Antisemitismus als vielmehr aufgrund außenpolitischer und internationaler Konstellationen, pro-israelische Positionen angenommen.

4a. Exkurs: Die extreme Rechte, Israel und der Antisemitimus - Ein komplexes Verhältnis

Hintergrund dieser Tatsache ist, dass der Staat Israel damals eng mit Frankreich verbündet war, als dieses seine Kolonialkriege gegen arabisch-nordafrikanische Länder führte, vor allem in Algerien (1954 bis 1962) sowie gegen Ägypten (mit der "Suezexpedition" 1956), da im nasseristischen Kairo die Ursache für die vermeintlich sonst unbegreifliche Rebellion gegen die französische Herrschaft gesucht wurde. Dem ultrakolonialen Lager verpflichtete Rechte, die selbst aus antisemitischer Tradition kamen und die mit der innenpolitischen Aufheizung während des Algerienkrieg wieder aus ihren Schlupflöchern und Vichy-nostalgischen Zirkeln hervor an die Öffentlichkeit kamen - , wurden in dieser Situation dennoch (in außenpolitischer Hinsicht) zu Unterstützern Israels. Sie schafften es, das nicht in Widerspruch zu ihrer antisemitischen Grundhaltung zu bringen: Sie gingen davon an, nunmehr die "jüdische Frage" in Europa dadurch lösen zu können, dass die jüdische Bevölkerung künftig geschlossen nach Israel gehen solle. "Ethnische Reinheit" sollte so mit militärischen Allianzen im kolonialen "Hinterhof" des Landes einhergehen. Kulminationspunkt dieser Entwicklung ist die "Suezexpedition" im Oktober 1956 (Frankreich, Grobritannien und Israel greifen zusammen Ägypten an, nachdem dieses den Suezkanal nationalisiert hat). An ihr nimmt Jean-Marie Le Pen als freiwillg dienender Unteroffizier teil, bevor er drei Monate später in Algerien an Folterungen teilnimmt. Später hat Le Pen seinen Biographen von der Faszination erzählt, welche die israelischen Truppen in diesen Tagen auf ihn ausgeübt hätten. (FUSSNOTE 5)

Ein Teilbereich der extremen Rechten setzt diese Parteinahme bis heute in ähnlicher Form fort: Ihm gilt Israel, ähnlich wie in ihren Augen Europa, als "Insel im Meer der barbarischen Dritten Welt". Diese müsse auf ähnliche Weise verteidigt werden, wie Europa sich muslimischer Zuwanderer zu erwehren habe. Die Sympathie für eine israelische Politik, der militaristische Positionen und eine reine Strategie der Stärke "empfohlen"werden, beruht also im Wesentlichen auf einer Projektion gemeint ist vielmehr Europa selbst und "seine" Abwehr afrikanischer oder asiatischer Einwanderer. Oftmals schwingt bei dieser Variante der extremen Rechten der Gedanke mit, dass "die jüdische Lobby" (im Land oder auf internationaler Ebene) angeblich so stark sei, dass man sich besser nicht oder noch nicht! mit ihr anlegen möge.

Solche Positionen nahm etwa der nationalkonservative Flügel des FN ein, der eine Brücke zum rechten Flügel den bürgerlichen Parteien hätte bilden können und der Ende der 80er Jahre mehrheitlich absprang. Einer seiner Köpfe war damals Olivier d'Ormesson, der vor allem einen der führenden Südafrika-Lobbyisten (also Pro-Apartheid-Politiker) in Frankreich bildete. Er kehrte dem FN Ende 1987 den Rücken; Jean-Marie Le Pen würde ihn später öffentlich als "israelischen Agenten" bezeichnen (in "National Hebdo" vom 27. Februar 1997).

Später, zu Anfang dieses Jahrzehnts hat der vom FN abgespaltene Teil unter Bruno Mégret, der mit geringem Erfolg eine eigene Partei (den MNR, Mouvement national républicain) gründete, diese Haltung vor allem nach dem 11. September 2001 eingenommen. Und dabei ziemlich lautstark bekundet, "gemeinsame Positionen mit den jüdischen Organisationen Frankreichs" zu teilen, was allerdings auf kein Gegenecho stieß. Aus verschiedenen Gründen, u.a. dem Mangel einer charismatischen "Führer"figur (Mégret ist ein harter Ideologe, doch wirkt er wie ein blasser Technokrat, und mit 1,62 Meter Körpergröße verkörpert er nicht den "starken Mann" nach dem Geschmack eines autoritären Publikums) ist der MNR heute so gut wie tot. Im benachbarten Belgien nimmt der Vlaams Blok vorwiegend diese Position ein, namentlich in seiner Hochburg Antwerpen, wo er auf eine Stillhaltetaktik gegenüber der starken örtlichen jüdischen Gemeinde setzt.

Dagegen hat ein anderer Teil der extremen Rechten in den letzten Jahrzehnten verstärkt aus dem Fundus antisemitischer Verschwörungstheorien geschöpft, an den Jean-Marie Le Pen ab Mitte der 80er Jahre mehr oder minder offen anknüpfte. Oftmals (aber nicht immer) geht dies auch mit außenpolitischer Ablehnung Israels einher, so beim offenen Neonazi-Flügel innerhalb und am Rande des FN. Er wird vor allem durch die - am 6. August 2002, nach dem Attentat eines jungen Mitglieds auf Präsident Chirac, verbotene - Gruppierung Unité Radicale verkörpert, die nach ihrem gesetzlichen Verbot vom vorigen Jahr im März 2003 eine (bisher erheblich schwächere) Nachfolgeorganisation gegründet hat, den "Bloc identitaire". Diese, einige hundert Aktivisten zählende, Fraktion ruft mitunter bei Demonstrationen auch Slogans wie "In Paris wie in Gaza, Intifada". Anlässlich einer Tagung ihrer Kader im September 2001 wurde etwa großsupurig verkündet: "Die Palästinenser sind unsere objektiven Verbündeten (gegen die Israelis). Wir gehen ein Stück Weges mit dem objektiven Verbündeten, und danach verpassen wir ihm eine Kugel in den Kopf." (FUSSNOTE 6)

Innerhalb des Front National, der unbestritten führenden Partei auf der extremen Rechten, koexistieren heute beide Positionen - ähnlich, wie es auch Unterstützer kroatischer (namentlich auf dem katholisch-fundamentalistischen Flügel des FN) und serbischer Ultranationalisten (namentlich in den "nationalrevolutionären" Fraktionen) nebeneinander gibt. Allerdings entwickelte sich zwischen 1985 und 1995 der damalige Mainstream der extremen Rechten (deren Kader- und Intellektuellenpotenzial nach der Parteispaltung Le Pen/ Mégret von 1999 abgenommen hat) weg von in den Achziger Jahren noch Ton angebenenden pro-amerikanischen und pro-israelischen Positionen, hin zu völkisch-antiwestlichen.

Das ist auch mit der damaligen persönlichen Entwicklung von Parteichef Le Pen verknüpft. Dieser war noch im Februar 1987 mit Vertretern des Jewish World Congress zusammengetroffen, unter ihnen Vertreter der rechten Herut-Partei in Israel (die heute dem weit rechts stehenden Wahlbündnis "Israel unser Haus" angehört); das Treffen hatte Jack Torcyner organisiert. (FUSSNOTE 7) Nachdem es anscheinend zufriedend stellend verlaufen war und beide Seiten sich in Augenschein genommen hatten, war Jean-Marie Le Pen offensichtlich fest davon überzeugt, nun mit den "Strippenziehern" einer weltweiten "jüdischen Macht" am Tisch gesessen zu haben, und sich bei ihnen seinen Frieden erkauft zu haben. Als seine Auschwitz relativierenden Äußerungen im französischen Fernsehen (Stichwort: "die Detail-Affäre" vom September 1987) sieben Monate später in Frankreich für einen politischen Skandal sorgten, da fühlte Le Pen sich schmählich verraten. Hatte er doch felsenfest geglaubt, nun mit der jüdischen Weltverschwörung eine Art Stillhalteabkommen geschlossen zu habenŠ Besonders in den darauffolgendenJahren erging Jean-Marie Le Pen sich also öffentlich in Verschwörungs-Thesen und Kritik an einem "Big brother", der von der "amerikanischen Ostküste" aus die französische Politik dirigiere und der auch dafür verantwortlich sei, dass die bürgerliche Rechte seine Bewegung nicht für bündnisfähig erachte. Später hat die Parteispaltung die ideologische, programmatische Arbeit in den Hintergrund treten lassen. Denn in ihrer Folge kümmerten sich die verschiedenen Fraktionen der extremen Rechten zunächst vorwiegend darum, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, wobei ideologische Positionen in diesem Sinne instrumentalisiert wurden. Selbst der scharfe Anti-Einwanderungs-Diskurs (der normalerweise beim FN im Mittelpunkt steht) wurde dabei vorübergehend relativiert und abgeschwächt, um der anderen Fraktion - in diesem Fall dem MNR - in der Öffentlichkeit "Rassismus" vorwerfen zu können. Diese Phase dauerte in ihrer zugespitztesten Form das gesamte Jahr 1999 über an. Die extreme Rechte hat sie später überwunden und sich neu strukturiert, doch spielt die Persönlichkeit von Le Pen heute ein viel zentralere Rolle (bzw. die langfristige ideologische Arbeit der Kader heute eine geringere Rolle) als vor der Spaltung. Das Parteileben des FN hat sich vorwiegend auf seine Wahlkandidaturen konzentiert. Daher ist die Bedeutung ideologischer Orientierungspunkte heute geringer als noch in den Neunziger Jahren, und Jean-Marie Le Pen erlaubte sich geradezu eine ideologische Beliebigkeit in weltpolitischen Fragen. So bezog sich Le Pen in den Tagen vor der französischen Präsidentschaftswahl im April 2002 zugleich positiv auf Ariel Sharon (seine eigene Algerien-Erfahrung lehre ihn ja, dass man im Kampf gegen den Terrorismus eine harte Hand haben müsse) und auf "seinen Freund" Saddam Hussein (die beiden Männer haben sich im November 1990 und im Mai 1996 getroffen). Auf politische Stimmigkeit kam es dabei nicht so sehr an, sondern im Grunde vor allem darauf, möglichst alle Ressentiment-Potenziale - sowohl das gegen Juden als auch jenes gegen arabische Einwanderer - auszuschöpfen.

Zugleich bestehen an den aktivistischen Rändern der extremen Rechten Strömungen, die ein klares und unverwechselbares ideologsches Profil haben, auch in der Frage "Antisemitismus oder antiarabischer Rassismus zuerst?". Aus beiden Strömungen heraus gab und gibt es begrenzte Bemühungen, Mitglieder jeweiliger Communities als Ansprech- oder zumindest als Vorzeige- und Sparringspartner zu gewinnen. Einerseits gab es in den letzten Jahren eine, vor kurzem durch die Gerichte unterbundene, Kooperation zwischen den Webpages französischer Rassisten und französisch-jüdischer sowie israelischer Rechtsextremisten. Insgesamt umfasst dieses Spektrum rund 30 Websites, die in den meisten Fällen im Laufe des 2003 gerichtlich zum Abschalten gezwungen wurden. Das bekannteste Beispiel ist die gegenseitige Verlinkung zwischen den beiden Homepages SOS Racaille ("SOS Gesocks") und www.amisraelhai.org ("Das Volk Israels lebt"). Beide Internet-Sites verwiesen aufeinander, auf beiden wurden arabische Menschen als "Ratten", "Abfälle" und Ähnliches tituliert. Ihrem Treiben wurde jedoch durch die Justiz ein Ende gesetzt, und der Hauptbetreiber von www.amisraelhai.org Alexandre Attali stand am 30. September dieses Jahres in Paris vor Gericht, wo noch an den Toren des Justizpalastes geladene Zeugen durch Extremisten bedroht wurden. Am folgenden Tag wurde sein flüchtiger Webmaster in Nordfrankreich verhaftet.

Die Aktivisten dieses Milieus kommen aus zwei Richtungen. Einerseits aus dem Umfeld (vor allem) der Ligue de Défense Juive (LDJ, Jüdische Verteidigungs-Liga), dem französischen Ableger der extremistischen Kach-Bewegung des Rabbi Kahane. Diese ist in den USA sowie in Israel verboten, vier ihrer Webpages wurden vor wenigen Tagen in den USA auf die Liste terroristischer Organisationen aufgenommen. Andererseits stammen sie aber auch aus rechtsextremen französischen Gruppen (nicht-jüdischer Franzosen), denen es bei dieser begrenzten Kooperation vor allem darum geht, mit allen erdenklichen Mitteln die Spannungen zwischen Communities zu verstärken, um dem "globalen Rassenkrieg" den Weg zu ebnen. (FUSSNOTE 8) Aus ihren Reihen stammt etwa Florian Schekler (mit richtigem Namen Jean-Florian Trouchaud), der am 24. September dieses Jahres in Paris zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, weil er ein - vereiteltes - Selbstmordattentat auf die Pariser Zentralmoschee im 5. Arrondissement geplant hatte. Er war im Februar dieses Jahres rechtzeitig verhaftet worden.

Umgekehrt bemühten sich vor allem im Herbst 2000, kurz nach Beginn der zweiten Intifada, französische Neonazis und Rechtsextremisten darum, mit jungen arabischstämmigen Einwandererkindern in den Banlieues in¹s Gespräch zu kommen. Laut einem Polizeibericht, der im November 2000 durch das Wochenmagazin "Le Point" zitiert wurde, gediehen die Bemühungen aber in der Praxis nicht sehr weit.

Neben den militanten, aktivistischen Flügeln innerhalb verfügt auch der "parlamentarische Arm", der "respektable" Teil der rechtsextremen Großpartei, sowohl über seine Alibi-Juden als auch daneben über seine "Arabes de service". Zu ersteren zählt etwa der (aus Altersgründen nicht mehr aktive) Robert Hemmerdinger, der in den Neunziger Jahren im Regionalparlament des Großraums Paris saß und sogar ehemaliger Résistance-Teilnehmer war; er ist mittlerweile aus Altersgründen nicht mehr aktiv, nachdem er 1992/94 eine gewisse Rolle bei der Aufdeckung von Korruptionsskandalen der Parteigänger Jacques Chiracs gespielt hatte. Zu zweiteren gehört der derzeitige Pariser Regionalparlamentarierer Farid Smahi. Die Hauptgründe für die Betätigung dieser Personen auf der extremen Rechten liegen in beiden Fälle in einer Vorgeschichte in Gestalt des Algerienkriegs begründet.

Dieser Krieg (1954 - 62) brachte eine Reihe ehemaliger Résistance-Angehöriger, im Namen der Verteidigung der Republik und ihres Kolonialreichs, im Rahmen neuer politischer Konstellationen an die Seite von Rechten und extremen Rechten. Zugleich brachte der Algerienkrieg eine Hilfsarmee von pro-französischen Kolonialsubjekten hervor, die damals auf Seiten der "Metropole" (des kolonialen "Mutterlands") gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung kämpften: Die "Harkis". Die Motivationen dieser Harkis waren unterschiedlicher Natur: Manche kämpften aus persönlicher Vorteilsuche als Hilfstruppe für die französische Armee (als eine Art Kollaborateure im klassischen Sinne). In anderen Fällen dagegen sind die Ursachen in den inneren Brüchen der traditionellen algerischen Gesellschaft selbst zu suchen, welche die Kolonialmacht sich zunutze machen konnte. Bspw. in Phänomenen von (lang zurückreichender) Rache zwischen verschiedenen algerischen Familien, die etwa einen Teil eines Dorfs auf die Seite der französischen Armee brachte, weil andere Teile des Dorfes am Kampf für die Unabhängkeit teilnahmen. Ein Teil dieser "Harkis" ließ sich Verbrechen wie etwa die Teilnahme an Folterungen und persönliche Vorteilnahme bei Plünderungen zuschulden kommen, andere sind im Endeffekt eher als Opfer des Konflikts zu betrachten. Ein Teil der nach 1962 in Algerien verbliebenen Harkis wurden bei Racheakten getötet oder massakriert, während andere an anderen Orten unbehelligt blieben. Die in größerer Zahl nach Frankreich geflüchteten Harkis wiesen später oft Eingliederungsschwierigkeiten in die französische Gesellschaft auf. Vor diesem Hintergrund, verbunden mit einer Art Minderwertigkeitskomplex gegenüber der französischen Gesellschaft (und dem Willen zu einem unbedingten, extremen Loyalitäts- oder französischen Identitätsbeweis), wurden einige Harkis beim Front National aktiv. Manche von ihnen auch an führender Stelle. Sie sollten Jean-Marie Le Pen als öffentlichen Nachweis demokratischer Reinheit dienen: Wie könne man seine Partei denn als rassistisch oder faschistisch bezeichnen, wo doch "Araber und Juden bei ihr Mitglied" seien - ein klassisches Alibi-Argument.

5. "Die verlorenen Gebiete der Republik"

Wie oben (unter 4.) beschrieben, schien der Antisemitismus in Frankreich - jedenfalls auf Massenebene - nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgedrängt zu sein, oder hauptsächlich noch im engeren Milieu der extremen Rechten zu existieren. Zugleich wurde nach dem Ende des Vichy-Regimes die, zuerst 1905 als Konsequenz aus der Dreyfus-Affäre eingeführte, laizistische Trennung von Staat und (katholischer) Religion wieder eingeführt, somit universalistisch-republikanischen Werten wieder Geltung verschafft. Droht nun dieser weitgehend erreichte historische Konsens der Französischen Republik einzureißen? Etwa konkret im Zusammenhang damit, dass der staatliche Laizismus etwa im Schulunterricht durch die Präsenz muslimischer Einwanderer(kinder) in Frage gestellt wird? (FUSSNOTE 9) Diese Idee, in Verbindung mit dem Aufkommen eines neuen Antisemitismus, der spezifisch islamisch-migrantische Züge trage, wird durch einige AutorInnen verfochten. Beispielsweise durch die AutorInnen des Sammelbands "Die verlorenen Gebiete der Republik" FUSSNOTE 10). Entgegen dem selbstgesteckten Anspruch, der im Untertitel formuliert wird "Antisemitismus, Rassismus und Sexismus in schulischer Umgebung" behandelt das 238 Seiten umfassende Buch nicht alle Formen von Diskriminierung, die es in diesem Bereich gibt, sondern fast ausschließlich Manifestationen von Hass gegen jüdische SchülerInnen, die von "arabischstämmigen" Kindern und Jugendlichen ausgehen. Sich auf diesen Problembereich zu konzentrieren, ist prinzipiell legitim, zumal er im Zeitraum der Entstehung des Buches im Frühsommer und Sommer 2002 eine Quelle besonders spektakulärer Gewalttaten darstellte. Nur hätte man dann wohl den Anspruch nicht so hoch stecken und so umfassend formulieren dürfen, wie dies auf der Titelseite des Sammelbands geschieht. Alle drei dort genannten Problemfelder ausführlich zu behandeln, dafür hätte ein Buch von diesem Umfang sicherlich auch nicht genügt. Insofern war die Herausgabe des, freilich schnell geschriebenen und eilig zusammengefassten, Bandes sinn- und verdienstvoll; er fasst tatsächlich einige kritikwürdige bis erschreckende Beobachtungen zusammen. Das betrifft vor allem die sich häufenden Berichte über die Schwierigkeit, Unterricht über die Shoah namentlich in Schulen, die in so genannten Problemzonen oder sozialen Brennpunkten liegen, zu halten. Hier zeigt sich die Kehrseite eines Prozesses, der mit einem im Prinzip legitimen Anliegen begann: Die Kinder arabischer, auch afrikanischer Einwanderer wehren sich im Unterricht dagegen, dass "ihre" Geschichte etwa jene der Kolonialisierung entweder zu kurz kommt oder aber auf sehr parteiische Weise verhandelt wird. Doch von diesem Ansatz ausgehend, hat sich die Auseinandersetzung in der Praxis auf ein anderes Terrain verschoben ähnlich wie in manchen US-Städten streben unterschiedliche Communities zunehmend danach, "ihre" Wahrheit, "ihre" Version von der Welt verabsolutieren und von jener der Anderen nichts mehr hören zu wollen.

Weit problematischer an dem Buch aber ist die Sichtweise, die im Hinblick auf diskriminierende oder anderweitige negative Verhaltensweisen von SchülerInnen, die meist der Migrationsbevölkerung entstammen, eingenommen wird. Quer durch die Beiträge zieht sich dabei sehr oft eine Herangehensweise, die den Anspruch auf Respekt der (schulischen) Autorität und auf Unterbindung als "abweichend" empfundenen Verhaltens mit dem Problem antisemitischer oder rassistischer, stigmatisierender Ideologien vollkommen vermengt. So wird häufig (auch wenn dies durch den Herausgeber nicht beabsichtigt ist, der in seinem Vorwort eine umfassendere kritische Perspektive formuliert) objektiv ein Standpunkt eingenommen, der das Problematische vorwiegend im Abweichen von den Ansprüchen der Mehrheitsgesellschaft und der Autorität der schulischen Amtsperson sucht. Etwa, wenn die Autoren mehrerer Beiträge sich ausführlich darüber empören, dass bestimmte SchülerInnen deren migrantische Herkunft dabei stark betont wird sich nicht für die drei Schweigeminuten erheben wollten, die nach dem 11. September 2001 durch die Schulleitungen angeordnet wurden. Die Motive für dieses widerstrebende Verhalten waren dabei jedenfalls durchmischter Natur: Drückten manche ihren Hass gegen alles "Amerikanische" oder "Pro-Israelische" aus, der auch über den Tod von zahlreichen ZivilistInnen in New York hinwegging, so handelte es sich bei anderen eher um einen Protest gegen die Autorität, die als parteiisch und keineswegs aus humanistischen Motiven heraus handelnd empfunden wurde. ("Für 200.000 Tote in Algerien während der Neunziger Jahre und eine Million Tote in Ruanda hat niemand uns gebeten, aufzustehen", sagten maghrebinische Jugendliche zum Verfasser dieser Zeilen.)

Besonders fatal aber sind jene Beiträge, die tatsächlich eine "Ethnisierung" des Untersuchungsgegenstands vornehmen. Dabei sticht etwa der Beitrag einer Geschichtslehrerin hervor, die auf S. 102 schreibt: "Je nach der ethnischen Zusammensetzung der Schule und der dabei vorherrschenden Komponente, griff der Negationismus (Anm.: der französische Begriff für die Negierung, also Leugnung des Holocaust) den einen oder den anderen Genozid an", die Autorin spricht dabei vom Holocaust sowie vom Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges. "Die Nicht-Existenz einer türkischen Community in meiner Schule erklärt die Abwesenheit von Reaktionen zu diesem Thema (Anm.: bezüglich des Armenier-Mords). Hingegen gab der Unterricht zum Zweiten Weltkrieg und dem Genozid an den Juden den Vorurteilen der maghrebinischen Schüler freien Lauf."

Man muss in diesem Fall darauf bestehen, dass es weder "die ethnische Zusammensetzung" einer Schule, noch die "Existenz oder Nicht-Existenz einer Community" für sich genommen sind, welche das Aufkommen von Tendenzen zur Leugnung des Holocaust oder aber der Massenmorde an Armeniern zu erklären vermögen. Sondern dass es sich um gesellschaftliche und politische bzw. alltagsideologische Prozesse handelt, die in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zugleich am Werk sind und die in der Zunahme des Kommunitarismus (auf Kosten gesamtgesellschaftlicher, universeller Wertvorstellungen), dem Anwachsen von Ressentiments, der Abnahme von Mitgefühl für die Angehörigen anderer Communities bestehen. Eine solch essentialistische und ethnisierende Herangehensweise wie jene der Autoren führt über den Umkehrschluss aus ihrer Aussage also: "Es befinden sich Türken in meiner Klasse, also ist es normal, dass die Morde an Armeniern geleugnet werden" geradezu zu einer Entlastung des Individuums. Denn dieses "kann" dann gar nichts anders, als gemäß seiner Herkunft den Holocaust oder den Armenier-Mord zu leugnen, wenn nicht zu begrüßen das Gegenteil müsste dann Erstaunen hervorrufen.

6. "La nouvelle judéophobie" (nach P.-A. Taguieff)

Bereits einige Monate vorher war ein anderes, noch mehr Aufsehen erregendes Buch zum Thema erschienen, das in gewisser Weise die philosophische Grundlage für "Die verlorenen Territorien der Republik" bildet (und in dessen Einleitung bereits zu Beginn zustimmend angeführt wird). Es handelt sich um "Die neue Judenfeindschaft" von Pierre-André Taguieff (FUSSNOTE 11) Der Autor entwickelt darin eine zentrale These: Die von ihm so bezeichnete nouvelle judéophobie sei als Ersatz an die Stelle der revolutionären Utopie getreten und deswegen hauptsächlich die Sache der Linken, die wiederum mit Einwanderergruppen aus muslimischen Ländern und mit der (so genannten) Dritten Welt im Bunde stehe. Sie entspringe "dem Verlangen nach Sinn und nach mobilisierungsträchtigen Anliegen all derjenigen, die, als Waisenkinder der Revolution, weiterhin am Revolutions-Mythos der kommunistischen Tradition orientiert bleiben, in seinen unterschiedlichen marxistischen oder anarchistischen Varianten."

Aber auch derjenigen "Teil der Eliten, ob links oder rechts, liberal oder sozialdemokratisch, der die Überwindung des Nationalstaats" anstrebt, stehe mit dieser Allianz im Bunde, genauso wie "die neo-christlichen humanitären Milieus" und "die neuen Antiimperialisten kommunistischer, trotzkistischer und anarchistischer Tradition". Der Grund dafür ist demnach im Bedürfnis nach einer mobilisierenden Ideologie zu suchen, nachdem das sinnstiftende gemeinsame Band der Nation wegfällt. Dagegen scheint bei dem Autor die "traditionelle extreme Rechte" lediglich als ein eher folkloristisches Phänomen auf.

Ebenso erstaunlich wie ärgerlich an dem Buch wie Taguieff ist, dass er schlicht keinerlei Belege für seine Kernthesen präsentiert. Das ist in fast allen Rezensionen moniert worden, vor allem bezüglich der Behauptung von der strukturellen Allianz zwischen Islamismus und linken (zuzüglich globalisierungskritischer) Milieus in Frankreich (FUSSNOTE 12). Für einige Sektoren, wie die (in Frankreich schwachen) traditionell "antiimperialistischen" Gruppen, von denen manche tatsächlich Affinitäten zum Islamismus aufweisen (freilich mit Sicherheit nicht für "die Linke" in Frankreich insgesamt) hätte sich diese These zumindest konkret diskutieren lassen. Doch Taguieff formuliert eine ideologische, keine wissenschaftliche These, für welche er die Beweisführung antreten müsste. Im Interview mit dem sozialliberalen Wochenmagazin "Le Nouvel Observateur" antwortete er, auf den Mangel an konkreten Materialien und Belegen angesprochen: "Ich formuliere eine Diagnose, ich betreibe keine Denunzierung." Angesichts der Tatsache, dass er dennoch konkrete politische Strömungen benannt hatte, erscheint dies dann doch als eher billige Ausflucht.

Dennoch lassen sich Aussagen zu Taguieffs Beweggründen treffen. Eine wichtige Motivation des Autors erscheint dabei ideologischer, die andere biographischer Natur. Erstens ist Pierre-André Taguieff bereits kurz vor Erscheinen des Buches als offensiver Unterstützer des (links)nationalistischen Politikers und Präsidentschaftskandidaten Jean-Pierre Chevènement aufgetreten. Dieser EU-Skeptiker, der eine eigene Partei anführt sie heißt nach einigen Umbenennungen heute "Republikanisch-staatsbürgerliche Bewegung" (MRC) und spaltete sich zur Zeit der Maastrichter EU-Verträge von der Sozialdemokatie ab -, amtierte von 1997 bis 2000 unter den Sozialdemokraten als Innenminister. Er ist der wichtigste Wortführer eines "republikanischen Nationalismus" französischer Tradition, der sich sowohl aus ideologischen Quellen der Französischen Revolution als auch der Résistance und des Gaullismus speist.

Diese spezifisch französische Unterform des Nationalismus lehnt den "völkischen" oder ethnischen, auf "Rasse" und Herkunft fixierten Nationalismus ab und ist vielmehr auf den Staat, als "politische Gemeinschaft, die von der Herkunft ihrer Mitglieder abstrahiert", fixiert. Insofern ist dieser "staatsbürgerliche Nationalismus" heute zwar politisch rückwärts orientiert er strebt die Wiederherstellung des nationalstaatlichen Sozialkompromisses an, wie er bis in die 60er Jahre bestand -, aber jedenfalls zumindest antifaschistisch ausgerichtet. Dennoch trägt er autoritäre Züge, da er systematisch die Staatsautorität als Ausdruck einer fiktiven "volonté générale" (die wiederum die Indvon den Fesseln ihrer Herkunft emanzipiere) verteidigt. Das war historisch progressiv, als es etwa 1905 die laizistische Schule für alle Kinder gegen die Partikularinteressen und ideologien religiöser Gemeinschaften durchzusetzen galt. Es wird zugleich autoritär oder reaktionär, wenn Ex-Innenminister Chevèment heute die Defizite an gesellschaftlicher Integration und Teilhabe von Teilen der Einwandererjugend durch Appelle an "das republikanische Gesetz", an die Polizei sowie durch schulische Autorität beheben will. Oder wenn er Nicht-Staatsbürger zwar nicht aufgrund "rassischer" Merkmäle diskriminieren, wohl aber sofern sie "illegal" eingewandert sind wegen Verstößen gegen das "republikanische Gesetz" in größerer Zahl als unter seinen Vorgängern abschieben ließ. In Bezug auf Rassismus und Antisemitismus verteidigt Chevènement, und mit ihm Taguieff, im Kern den Appel an die Staatsautorität als Repräsentanten der Vernunft gegen die "Leidenschaften, die mit den Partikularinteressen der verschiedenen Communities verbunden sind". Daraus erwächst die Kompatibilität der Herangehensweise von Taguieff mit solchen Standpunkten, die etwa auch die Insitution "Schule" gegen ihre störenden Elemente etwa unzureichend sozial integierte Einwandererkinder verteidigen will. Ferner wird dadurch deutlich, warum Taguieff etwa jene "Eliten, die den Nationalstaaten überwinden wollen" vorrangig für das Anwachsen von Antisemitismus verantwortlich macht.

Zum Zweiten ist an Taguieffs Biographie zu denken, und insbesondere an seinen Bruch mit der Linken, der in den frühen Neunziger Jahren erfolgte. Damals ging es um andere Dinge, nämlich das Verhältnis zu den Intellektuellen der Nouvelle Droite (Neuen Rechten) wie Alain de Benoist. Konnte und sollte man mit ihnen in den Dialog treten? Der damals auf Rechtsextremismus spezialisierte Taguieff war dafür weil er sich davon ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse versprach. Andere Linke und Antifaschisten waren dagegen. Manche unter ihnen denunzierten Taguieff, ziemlich voreilig, als "Kollaborateur" oder verkappten Sympathisanten der neu erwachenden extremen Rechten. Aus dieser Polemik heraus (FUSSNOTE 13) entstand ein lebensgeschichtlicher Bruch Taguieffs mit der Linken, welcher er damals - seinerseits vorschnell verallgemeinernd - vorwarf, ihr Kampf gegen die extreme Rechte widerspiegele "demagogischen" und falschen Alarmismus. Diese alten Spaltungslinien brechen erneut auf, indem Taguieff der an die Seite Chevènements gerückt ist die Brüche von gestern auf eine Weise verarbeitet, wie er es mit seiner generalisierenden Klage an die Linke tut.

7. Die Linke, die Migranten und der Antisemitismus

Die politische Linke, die seit Jahrzehnten gegen Kolonialismus sowie rassistische Diskriminierung und ebenfalls den Antisemitismus kämpfte, sieht sich natürlich auch mit dem Anwachsen von Kommunitarismus und den daraus begründeten Spannungen und Gewaltphänomenen konfrontiert. Daraus erwächst für sie ein Spannungszustand zwischen ihren Ansprüchen, einerseits die reale israelische Politik gegenüber der israelischen Bevölkerung deutlich zu kritisieren, andererseits aber nicht solchen kommunitarstischen Aufheizungen nachzugeben oder sie gar zu nähren.

Man muss vorausschicken, dass der Kontext, in dem die Debatten der französischen Linken angesiedelt sind, ein völlig anderer ist als der derzeitige deutsche Kontext. Letzterer wird allem durch die deutsche nationale Selbstfindungsdebatte geprägt, durch die "Erwachende Nation", die wieder souverän geworden ist und die (auch moralischen) Fesseln ihrer Vergangenheit abzustreifen sucht. Der Nahost-Konflikt ist dabei vor allem Spiegel- und Projektionsfläche, auf der ein neues positives "nationales" Selbstbild hergestellt werden soll. Seine deutsche Rezeption dient daher in erster Linie dem Streben nach Entlastung der "eigenen Nation", etwa durch geschichtsrelativierende Vergleiche (mit der NS-Vernichtungspolitik) oder durch den impliziten Hinweis darauf, dass "die" (die Juden und/oder Israelis) ja "auch nicht besser" seien. An allererster Stelle steht hier also eine Form von Selbstgerechtigkeit. Ohne diesen Hintergrund lässt sich weder die deutsche Debatte insgesamt verstehen, noch jene in den Resten der deutschen Linken, die sich zum Teil scharf von jener der us-amerikanischen, israelischen, französischen oder sonstigen Linken unterscheidet. Hintergrund und Projektionsfläche - da Projektionen aus der oder auf die innnergesellschaftlichen Zustände sich wohl nie gänzlich vermeiden lassen - in Frankreich sind bspw. völlig andere als in Deutschland. Denn hier wird die Wahrnehmung etwa israelischer Militäroperationen in den palästinensischen Gebieten durch einen anderen Perzeptionsfilter hindurch wahrgenommen, nämlich jenen der französischen Kolonialkriege und insbesondere des Algerienkriegs und der Suezexpedition (siehe oben unter 4a.) Das gilt sowohl für größere Teile der konservativen Rechten und einen Teil der extremen Rechten, die aus diesem Grund für diese Militäroperationen eintreten - als auch für den größten Teil der Linken, welcher sie ablehnt. Nicht zuletzt bestärkt hat diese Wahrnehmung übrigens auch der israelische Premierminister Ariel Sharon, der selbst den Vergleich zwischen seiner Militärpolitik und dem Algerienkrieg gezogen hat - um darauf hinzuweisen, er werde es Frankreich nicht gleichtun, das sich aus Algerien zurückgezogen hat (Interview im konservativen Wochenmagazin "L'Express" vom 27. Dezember 2001).

Wie alle Perzeptionsflächen, beeinflusst auch diese die Wahrnehmung, während sie den Informations-EmpfängerInnen zugleich eine (wie auch immer geartete) Interpretation ermöglicht. Vergleiche erleichtern stets das Verstehen, und engen es zugleich ein. Nun gibt es zumindest einen wichtigen Unterschied zwischen dem Frankreich der 50er und 60er Jahre, und dem heutigen Israel: Im französischen Fall grenzte das "Mutterland" nicht unmittelbar an die beherrschten Territorien an. Daraus erwachsen gewichtige Unterschiede im Hinblick auf das (objektive / subjektive) Sicherheitsbedürfnis. Frankreich konnte seine Präsenz, falls es hart auf hart kam, vollständig aus der Region - etwa Nordafrika - zurückziehen, während Israel immer noch in der Nachbarschaft bleibt, wenn es sich aus den palästinensischen Territorien zurückzieht. (Dieser Hinweis taucht auch am Ende des Sharon-Interviews im "Express" von Ende 2001 auf. Dennoch bleibt für das französische Publikum dort vor allem die gezogene Parallele zum Algerienkrieg stehen, zumal diese in Titel und Einleitung des Interviews aufgegriffen wird.)

Dennoch sorgt die vorhandene Projektions- oder Wahrnehmungsfläche zumindest für Eines: Sie verhindert im Regelfall, dass die GegnerInnen der aktuellen militärischen Militäroperationen sich zuvörderst in "nationaler" Selbstgerechtigkeit ergehen und in Projektionen, die (gegenüber den Israelis) die Reputation der eigenen Nation weißwaschen sollen. In der französischen (linken) Wahrnehmung schließt die Kritik an dieser Militärpolitik auch die scharfe Kritik an der Vergangenheit der eigenen Nation, an ihren Kolonialkriegen und der einstigen Siedlungspolitik in Algerien (das ja französische Besiedlungskolonie war) mit ein. Damit ist diese Kritik auch wenig in Versuchung, eine globale Ausgrenzung oder gar Vernichtung der Bevölkerung Israels als solcher - im Extremfall nach dem Motto "Die Juden ins Meer" - zu wünschen oder gutzuheißen. Hinzu kommt ein weiterer Faktor: Die wichtigsten Strömungen der radikalen Linken wurden nach dem Zweiten Weltkrieg, und besonders im Vorfeld des Mai 1968, von jungen Juden und Jüdinnen begründet oder in führender Position geleitet. D.h. vor allem Parteien und Gruppen der trotzkistischen und der libertären, anarchokommunistischen Linken (der Maoismus, der oft wesentlich verrücktere und fanatischere Formen angenommen hat, spielt bereits seit 1973/75 in Frankreich kaum noch eine Rolle, während er in Westdeutschland bis Anfang der 80er Jahre einflussreich blieb). Namen wie Daniel Cohn-Bendit, Alain Krivine, Daniel Bensaid sind über die Jahrzehnte hinweg geblieben. Alle drei genannten sind noch in der Politik aktiv, wobei die letzteren beiden noch zur radikalen Linken in Form der 1968 gegründeten Ligue Communiste (heute LCR) gehören. Andere junge Juden und Jüdinnen spielten um den und im Mai 1968 eine wichtige Rolle, entschieden sich aber später für andere Karrieren, wie Alain Geismar oder Alain Finkielkraut. Auch in der Kommunistischen Partei und der CGT fanden sich jüdische Personen an führender Stelle, auch wenn sie (sowohl ihre Organisationen als auch sie selbst) eine andere Rolle spielten, etwa der frühere CGT-Vorsitzende Henri Krasucki.

Einen Sonderfall spielte freilich die so genannte Ultraradikale (ultragauche). Es handelte sich um eine kleine aber wortgewaltige Strömung, die sich in ihrem super-radikalen Abgrenzungsbestreben von allen anderen Strömungen durch das Bestreben auszeichnete, jeglichen Unterschied zwischen faschistischen und autoritären Regimen (den NS eingeschlossen), bürgerlicher Demokratie in all ihren Erscheinungsformen und Stalinismus bzw. Realsozialismus einzuebnen. Im Kern sei alles dasselbe, tönte diese Strömung, die Anfang der 60er Jahre in Italien entstanden war, und die künstlich aufgeblähten Unterschiede zwischen ihnen nur dazu, ihren Herrschaftskern vor den Augen der Beherrschten zu verschleiern. Ein besonders verrückter Kern dieser Strömung, der sich Anfang der Siebziger Jahre um die Buchhandlung "La Vieille Taupe" (Der alte Maulkwurf) herum scharte, begann daraufhin damit, den Holocaust zuerst zu relativieren und später sogar seine "offizielle Version" öffentlich in Frage zu stellen. Ihr zufolge diente "Auschwitz oder das große Alibi" (so der Titel einer programmatischen Schrift) in seiner gesellschaftlichen Funktion nur dazu, von der Barbarei des täglichen Kapitalismus abzulenken und diesen als weniger schlimmer erscheinen zu lassen, folglich die Revolution zu verhindern. Diese paranoide Sekte - die über die Jahre hinweg auf wenige Köpfe schrumpfte - handelte zunächst nicht aus antisemitischen Motiven, sondern aus einem ideologischen Delirium heraus. Doch wurden die Reaktionen ihrer Wortführer im Laufe der Zeit tatsächlich antisemitisch, da sie nach den Gründen suchten, warum man sie (unverständlicherweise) angriff - und sie im Jude-Sein einiger ihrer Kritiker fanden. Das gilt besonders für Dominique Michel, der 1998 auch zeitweise für die Front National-Wochenzeitung "National Hebdo" schreiben sollte. Der Überrest dieser Sekte veröffentlichte zum Jahreswechsel 1995/96 die geschichtsrevionisistische Schrift des abgehalfterten Philosophen Roger Garaudy ("Les mythes fondateurs de la politique israelienne", Die Gründungsmythen der israelischen Politik) und löste damit einen Skandal au, der auf ihre Existenz aufmerksam machte. (FUSSNOTE 14)

Die besondere Bedeutung dieser politisch aktiven Generation junger Juden und Jüdinnen, die teilweise als Kinder den Häschern des Vernichtungsprogramms entgingen (wie der zweijährige Alain Krivine) und teilweise kurz darauf geboren waren (wie Daniel Cohn-Bendit), erklärt sich aus ihrer unmittelbaren Konfrontation mit der familiären Geschichte. Aus ihr zogen sie den Schluss, nie wieder passiv gegenüber der Unterdrückung und Bedrohung von Menschen in der Welt sein zu dürfen. Ein israelischer Autor namens Yair Auron hat ihnen übrigens, 30 Jahre nach dem Mai 1968, ein höchst spannendes Buch gewidmet (FUSSNOTE 15).

Über die Familiengeschichten vermittelt, war die Geschichte der radikalen Linken in Frankreich so oft auch mit jener Israels verknüpft, da viele französische Aktivisten dort auch einen Teil ihrer Familie hatten (und haben). In seinem autobiographischen Roman "Rouge, c'est la vie" schildert der damalige Aktivist, und jetzige Krimi-Autor, Thierry Joncquet etwa seine eigene Geschichte (er durchlief mehrere Parteien der radikalen Linken, vor allem Lutte Ouvrière und die LCR) und die seiner Frau Léa, die in sozialistisch-zionistischen Organisationen und in Kibbuzen aktiv war. Zugleich war die radikale Linke aber auch mit den Anfängen der palästinensischen Nationalbewegung, vor allem der frühen Siebziger Jahre, verbunden. Oft gingen damals beide Dimensionen noch miteinander einher. Denn politischer Vertreter der PLO in Frankreich war ab 1973 ein im Untergrund der französischen Résistance geborener Jude, Ilan Halévy, der 1943 (in einem Lyoner Postamt, das dem Untergrund als Versteck diente) als Kind arabisch-jüdischer Eltern das Licht der Welt erblickte. (FUSSNOTE 16) Damals glaubten die meisten Linken noch an die Möglichkeit problemloser Koexistenz - zu jener Zeit meist in der Regel in Form eines binationalen Staats, der später meist der Vorstellung von einer Zwei-Staaten-Lösung Platz machte. Heute ist diese Vorstellung sicherlich problematischer als damals, u.a. aufgrund der Zunahme von Kommunitarismus oder Chauvinismus und allgemein reaktionärer Tendenzen in der Welt (darunter der Islamismus, auch über Palästina hinaus). Der Mainstream innerhalb der Linken hält dennoch an der Vorstellung von Koexistenz fest, die heute zumeist in Gestalt der Zwei-Staaten-Lösung gedacht wird. Zugleich hat sich innerhalb des parteikommunistischen Spektrums die schematische Weltsicht von früher, die meist durch die Außenpolitik der Sowjetunion geprägt war, auch im Hinblick auf den einstmals sowjetischen Antizionismus aufgeweicht.

So hat die französische KP im Jahr 1996 zum ersten Mal die russischen Parteikommunisten nicht mehr zu ihrem Kongress eingeladen, und zwar aufgrund der unverkennbar antisemitischen Sprüche von deren Chef Gennadi Sjuganow. Insofern scheint auch den französischen Parteikommunisten jetzt der oftmals antisemitische Unterton des früheren osteuropäisch-realsozialistischen Staats-Antizionismus vor Augen getreten zu sein. (Ärgerlich hingegen ist, dass die gewendete KP nunmehr in der Weise auf "Realpolitik" zu machen sucht, dass sie oft auf eine stärkere Einmischung der EU als "neutrale Dritte" und "Schlichterin"im Nahostkonflikt zu drängen versucht. Davon ist m.E. wenig Postives zu versprechen, da es dabei in der Praxis zuvörderst um die Wahrnehmung von Großmacht-Interessen gehen würde.) In der Praxis der Linken, die seit Herbst 2000 verstärkt gegen die israelische Militär- und Palästinapolitik demonstriert hat, dominiert daher immer noch das Bemühen, die Aussicht auf eine künftige Koexistenz zu fördern. So vergeht auch keine Veranstaltung, zu der nicht auch israelische RednerInnen oder KünstlerInnen eingeladen würden, die ihrerseits gegen die aktuelle Regierungspolitik eintreten. So wurden beim jüngsten Pariser Großkonzert "für Palästina und für den Frieden"am 27. September 2003 unter anderen die aus Israel stammende Künstlerin Sara Alexander und der Vater eines seit 14 Monaten in Haft sitzenden israelischen Militärdienstverweigerers, Mathematikprofessor an der Universität von Jerusalem - die sich durchaus nicht zu "Alibijuden" machen ließen - auch von der Immigrantenjugend beklatscht.

Das schützt vor Dummheiten und groben Fehlhandlungen nicht immer. So beging der anarcho-syndikalistische Bauerngewerkschafter José Bové im April 2002 einen gravierenden Fehler (wenngleich er ihn einige Wochen später öffentlich bedauert hat). Auf der Rückkehr von einer Beobachtermission in den palästinensischen Gebieten erklärte er, die damals gerade begonnene Welle von Gewalttaten gegen jüdische Einrichtungen in Frankreich sei vielleicht auf das Interesse und Wirken des israelischen Geheimdienst Mossad zurückzuführen. Diese vollkommen daneben liegende Äußerung erklärt sich nicht aus einem Weltbild, das auf einer "jüdischen Weltverschwörung" basieren würde. (Dafür findet sich in seinen sonstigen Aktivitäten und Stellungnahmen keinerlei Anhaltspunkt: Sie basieren klar auf internationalistischen und rationalen Vorstellungen, wobei die EU ebenso für ihre weltwirtschaftliche Rolle kritisiert wird wie die USA. Und Bové zählt zu jenen, die die Anbiederungsversuche sich modern gebender Islamisten im Vorfeld des Europäischen Sozialforums vom kommenden November in Paris klar zurückwiesen.) Vielmehr basiert es auf dem Wunsch nach einfacher und eindeutiger Parteinahme, die oft zu Schwarz-Weiß-Positionierungen führt. Dennoch war es eine grobe Eselei, die belegt, dass auch derjenige manchmal besser den Mund hält, dessen sontige Aktivitäten oft unterstützenswert sind. In anderen Fällen sind vereinfachende Dritte-Welt-Romantik, auch gegenüber den Migranten im eigenen Land, und holzschnittartige Einteilungen der Welt in Nord und Süd (als scheinbar monolithische Blöcke) die Ursachen für Tendenzen, die blind für reale Gefahren machen. Ich erinnere mich an einen Streit, den ich mit einem Lehrer aus Strasbourg hatte, der offensichtlich Sympathisant aus dem Umfeld der LCR war und von einer Beobachtermission aus Palästina zurückkehrte. Frei von der Leber weg berichtete er darüber, er habe auch an Ausstellungen und Veranstaltungen der Hamas-Bewegung teilgenommen und dabei nichts Problematisches feststellen können. Ein Austesten seiner Arabischkenntnisse ergab, dass er kein Wort Arabisch spricht - somit hatte er es leicht, nichts Problematisches zu bemerkenŠ Undmitunter werden von - manchmal unbedarften - Linken hässliche Tendenzen bei Migranten, die andernorts leicht als reaktionär gebrandmarkt würden, auf geradezu paternalistische Weise mit deren Misere entschuldigt. Auf ein Beispiel bei Indymedia Frankreich wurde bereits oben (unter 1.) hingewiesen. Die jüngst wieder aufgebrochene "Kopftuch-Debatte" hat seit einiger Zeit dafür gesorgt, dass auch in der Linken und radikalen Linken verstärkt kontrovers über die Einschätzungen bezüglich Kommunitarismus, islamistischen Einflüssen und auch Judenfeindschaft (unter Migranten) diskutiert wird. Es wäre zu wünschen und zu befördern, dass diese Diskussion künftig verstärkt zu Klarstellungen führt, die auch Abgrenzungen beinhalten müssen. FUSSNOTEN / ANMERKUNGEN :

1) Näheres zu dem Konflikt beim damaligen Indymedia Frankreich siehe unter "Mehr Abfall für alle", in "Jungle World" vom 26. 06. 02 http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2002/27/30b.htm

2) Vgl. dazu auch die Reportage in "Le Monde" vom 20. September 2003: "Le malaise persistant des juifs de France".

3) Einleitung zu in "La droite révolutionnaire. Les origines françaises du fascisme", Paris, Editions du Seuil, 1978.

4) Die deutsche Übersetzung mit "Volksfront" ist mehr als nur ungenau, da die französische Bezeichnung populaire wenig mit dem deutschen "Volks-" oder "volkstümlich"-Begriff gemeinsam hat. Er bezeichnet eine, wenngleich vergröberte, soziale Kategorie in etwa die "Unterschichten".

5) Gilles Bresson und Christian Lionet: "Le Pen. Biographie." Paris, Seuil, 1994. Vgl. besonders S. 148, 156/157, 280.

6) Zitiert nach "Le Monde" vom 17. 07. 2002.

7) Vgl. Lothar Baier: "Firma Frankreich", Berlin 1988, S. 71. Übereinstimmende Angaben machte der ehemalige Kommunikations-Beauftragte von Jean-Marie Le Pen, der 1994 aus dem FN ausgetreten war, Lorrain de Saint-Affrique, im Interview mit dem Verfasser dieser Zeilen (am 19. März 1997 in Paris).

8) Bezeichnend bzw. erhellend ist dabei, dass im deutschsprachige Raum gerade "antideutsche" Sekten, die sich aus ehemaligen Linken rekrutieren, dieses Bündnis affirmieren und, wenngleich mit einigen rhetorischen Vorbehalten, unterstützen. So jüngst Justus Wertmüller in der wichtigsten Sektenzeitschrift dieses Milieus, "Bahamas", Nummer 42 ("Französische Zustände. Antirassisten machen mobil"). Dort streitet er zunächst die Existenz solcher Kontakte ab, um sie dann im weiteren Verlauf des Artikels aber (mit ein paar Abstrichen) zu affirmieren. So attestiert er dem Neo- bzw. Altfaschisten Jean-Marie Le Pen, zwar wohl rassistische Äußerungen abzugeben, aber auch "vernünftige Einwände gegen die ungebremste Islamisierung". Ferner konstatiert er, Le Pen vertrete eigentlich richtige "Kritik" gegen eine "irre gewordene Gesellschaft", wenngleich sie auf "widerwärtigem Niveau" bleibe (denn um ein gutes Niveau zu erreichen, muss man schon Wertmüllers Gruppierung beitreten). Ferner begeistert sich Wertmüller förmlich für die Gewalttaten der LDJ. Das muss nicht verwundern, denn für diese sehr deutschen "Antideutschen" bildet die Berufung auf den von ihnen angeblich geführten Kampf gegen Antisemitismus oftmals nur die ideologische Legitimation für ihre lebensgeschichtliche Abrechnung mit der Linken, und für die ungehemmte Übernahme mitunter rassistischer Thesen. So wird das Buch eines Autors aus Wertmüllers Blättchen, Karl Selent u.a. mit folgendem Werbetext angekündigt:  "Den Kosovo-Palästinensern dagegen würde er gerne mal Arkan den Tiger zeigen." (ça ira-Verlag Freiburg) Besagter Arkan war der Anführer paramilitärischer Banden in Serbien, an der Schnittstelle zwischen politischer Gewalt und Organisierter Kriminalität, der im Jahr 2000 von Konkurrenten aus dem Weg geräumt wurde, nach Jahren des Raubens und des Mordens. Den in Israel lebenden Menschen wird durch solche rechtsradikalen Gewaltfantasien deutscher, vorgeblicher Philosemiten mit Sicherheit kein Gefallen erwiesen.

9) Siehe dazu etwa die heftige und teilweise sehr ideologisch geführte Debatte über das muslimische Kopftuch in öffentlichen (laizistischen) Schulen bzw. die Frage seines Verbots. Diese Diskussion, die 1989 zum ersten Mal eskaliert war, wurde jüngst - im September/Oktober 2003 - erneut durch den Schul-Ausschluss zweier Kopftruch tragender Mädchen, Lila und Alma Lévy, in der Pariser Vorstadt Aubervilliers ausgelöst. Doch der konkret vorliegende Fall ist reichlich untypisch, insofern, als hier ein repressiver Einfluss durch den Vater oder die großen Brüder definitiv ausgeschlossen werden kann, angesichts des familiären Hintergrunds: Der Vater der beiden Mädchen ist "Jude ohne Gott", also Atheist jüdischer Herkunft, und Rechtsanwalt einer Antirassismus-Organisation; die Mutter ist christliche Kabylin (algerischer Herkunft). Beide Eltern lehnten das Kopftuchtragen ihrer Töchter zunächst klar ab, treten jedoch auch gegen ihren schulischen Einfluss auf. Vielleicht erlaubt dieser (Sonder-)Fall, klarer zu sehen, dass es sich nicht in allen Fällen um ein Anzeichen nackter Unterdrückung der Frauen durch ihre Familie - was auch oft genug vorkommen mag - handelt, sondern das Auftauchen des Kopftuchs sehr unterschiedliche Hintergründe haben kann. In diesem Fall handelt es sich allem Anschein nach um eine spezifische Form pubertärer Identitätsfindung und jugendlicher "Revolte" gegen die Mehrheitsgesellschaft, wie problematisch auch immer die Symbole tatsächlich sind, derer sie sich bedient. Aus der Perspektive der Emanzipation bleibt sicherlich ein reales Problem, aber unter gegebenen Bedingungen gibt es keine einfachen (Praxis-)Antworten.

10) Emmanuel Brenner (Hg.): "Les territoires perdus de la République. Antisémitisme, racisme et sexisme en milieu scolaire." Paris, Mille et une nuits, 2002.

11) "La nouvelle judéophobie." Paris, Mille et une nuits, 2002.

12) Vgl. etwa die Besprechung durch den Schriftsteller und Rechtsextremismus-Spezialisten René Monzat, der seine Erfahrung im Dechiffrieren antisemitischer (Sub-)Texte hinreichend bewiesen haben dürfte, in der antifaschistischen Zeitschrift "Ras-le-Front" (Nr. 87, April 2002, S.

9): "Quelle mouche a donc piqué Taguieff?" (Welcher Teufel hat Taguieff hier geritten?)

13) Siehe dazu die Abrechnung von P.-A. Taguieff mit dem linken Antirassismus: "Les fins de l'antiracisme", Paris, Michalon, 1995.

14) Für Hintergründen zu den "ultralinken" Auschwitz-Relativierern und Leugern siehe: "Der Job der Maulwürfe", in "Jungle World" vom 09. 06. 1999 http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_99/24/27a.htm 

15) Yair Auron (französische Ausgabe): "Les juifs d'extrême gauche en mai 68". Paris, Albin Michel, 1998. Der Untertitel des Buches lautet: "Eine Generation, die durch die Shoah geprägt wurde". 

16) Sein Portrait findet sich u.a. in "Libération" vom 17. September 2003.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor stellte uns seinen Artikel in der vorliegenden Fassung für die Nr. 11-03 zur Veröffentlichung zur Verfügung.