FRAUEN ALS MORALISCHE SIEGER
Zur Kritik feministischer Idealisierungen ›weiblicher‹ Zwischenmenschlichkeit


von
Meinhard Creydt
11/02
 
 
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Eine vom Gleichstellungsgedanken abweichende Spielart des Feminismus führt »viele Feministinnen« zu der Auffassung, »daß nicht länger der Kampf um Rechtsgleichheit für Frauen im Vordergrund stehen sollte: Statt dessen treten sie dafür ein, auf einer weiblichen Differenz zum Mann, auf den von Frauen entwickelten Eigenschaften der Fürsorglichkeit, Mitmenschlichkeit und der zwischenmenschlichen Verantwortlichkeit zu beharren. ... Die Strategie der Differenz setzt auf Mütterlichkeit/Weiblichkeit, weibliche Gegenkultur und zwischenmenschliche Moral, Verweigerung der Angleichung an männliche Prinzipien in Beruf und Ökonomie« (Christiane Schmerl 1993/20). Jessica Benjamin (1982/447) wertet die Mutter als Vertreterin von »Liebe und gegenseitiger Anerkennung«, von »Sorge, Pflege und Aufrechterhaltung des Wachstums Anderer« in einer »Subjekt-Subjekt-Relation« zum Kind. Mit der Zwischenmenschlichkeit existiere eine alternative Lebensweise zur monologisch-instrumentellen männlichen Orientierung des ›Wachstumswahn‹ und ›Produktivismus‹. Carol Gilligan (1984) stellt einer (ihr als mensch­licher geltenden) weiblichen Moral der Fürsorge und Anteilnahme, der Verantwortung und Bindung einerseits, männliche Gerechtigkeit und instrumentellem Aktivismus andererseits gegenüber. (Vgl. u. a. zur Kritik Althof und Garz 1988). Obwohl diese Positionen nach wie vor ein weit verbreitetes Bewußtsein vom Geschlechterverhältnis artikulieren, sind sie in den letzten Jahren vom ›Gender‹-Thema etwas in den Hintergrund wenigstens der akademischen Publizistik gedrängt worden.

Die bürgerliche Familie wird als Ort angesehen, »wo sich das Leid frei ausgesprochen und das verletzte Interesse der Individuen einen Hort des Widerstands gefunden hat« (Horkheimer 1936/63). Ganz im Sinne eines populären Feminismus sei die »völlige Entseelung der Welt« dem Mann zuzuschreiben, der »Hort des Widerstands« der Frau (Horkheimer 1936/67). Gewiss geht es in der Zwischenmenschlichkeit, der Familie und der Mutter-Kind-Beziehung anders zu als im Erwerbsleben oder in der Politik. Daraus folgt zwischen beiden Seiten kein Antagonismus. Das individuelle Interesse an der Entwicklung des Kindes bspw. allein als Interesse am »emotionalen und geistigen Wachsen« (Miller 1976/66f.) zu fassen nimmt die Motivgründe, Zwecke und Verlaufsformen mütterlicher Zuwendung nur einseitig in den Blick. Als ob »das Hegen, Pflegen, Nähren, Hüten« »seinen Sinn in sich selbst« trage, wird es ausgegeben »als das Gute. Was, wofür und mit welchem Hintersinn auch immer gehegt, gepflegt, genährt und gehütet worden ist - dem Reinen bleibt alles rein« (Boeckelmann 1997/191). Es kommt neben allen richtigerweise gesellschaftlich zu würdigenden und entsprechend auch materiell zu unterstützenden Fähigkeiten und Sinnen eben auch zu den zur bürgerlichen Gesellschaft passenden Vereinnahmungen, Funktionalisierungen und Formungen des Kindes. Die kritikwürdige faktische (nicht unbedingt: imaginär-kulturelle) Minderbewertung der Tätigkeiten der Kinderbetreuung und -erziehung ist nicht - sozusagen per Umkehrschluß - mit deren Idealisierung zu beantworten. Die Klage über die Mühe, die die Mütter auf sich zu nehmen gezwungen seien, übergeht den psychischen Gewinn, den sie von ihrer gewiß a u c h beschwerlichen Arbeit haben. Ein Gewinn, der nicht notwendig mit einem Gewinn des Kindes einhergehen muß. Manche Mütter erwarten von den Kindern »Gesellschaft, Wärme, Anregung« und daß die Kinder die Mütter auf »andere Gedanken« bringen, in der Hoffnung, »ein äußerliches Ereignis könne ihr Leben erneuern und rechtfertigen« (Beauvoir 1968/493). Andere Frauen finden »im Kind - wie der Liebhaber in der Geliebten - eine körperliche Erfüllung, und zwar nicht in der Erwiderung, sondern in der Beherrschung. Sie erfaßt in ihm, was der Mann in der Frau sucht: Ein Anderes, Natur und Bewußtsein zugleich, das ihre Beute, ihr Double wird« (ebd. 495). »Eitel, wie sie sind, stellen sie das Kind wie ein gelehriges Tier zur Schau. In ihrer Eifer- und Eigensucht sondern sie es von der übrigen Welt ab. Oft verzichtet die Frau auch nicht auf das Entgelt für die Mühe, die sie auf das Kind verwendet: Sie formt in ihm ein imaginäre Wesen, das dankbar in ihr eine vorbildliche Mutter sehen und in dem sie sich wiedererkennen wird« (497f.). »Die miesepetrige, eifersüchtige Haltung der Muttis« dabei, »über die richtige Entwicklung ihres Geschöpfs« zu wachen, geht einher mit der Tatsache, daß diese Entwicklung »deckungsgleich mit der eigenen Selbstverwirklichung« erscheint (Dorothea Dieckmann 1995/32). Kinder geraten oft zu Symbolen, an denen sich die Mutter stellvertretend für den Mann, die Welt oder dergleichen rächt. »Wenn ihr Ehe- und Liebesleben sie zum Feind der Männer gemacht hat, bedeutet es für sie eine Befriedigung, den Mann in seiner kindlichen Verkleinerung zu beherrschen. ... Ebenso wie sie ihren Mann als Kind behandelt, behandelt sie ihr Kind als Säugling. ... Sie will ihn grenzenlos sehen, und doch soll er in ihrer hohlen Hand Platz haben, er soll die Welt beherrschen und dabei vor ihr auf den Knien liegen« (Beauvoir 1968/500f.). »Meist ist die Mutterliebe eine seltsame Mischung aus Narzißmus, Altruismus, Traum, Aufrichtigkeit, Unaufrichtigkeit, Hingabe und Zynismus« (ebd. 497).

Die durch die Sorge der Frau für das Kind sich ergebende Isolation der Frau geht einher mit einer »Erweiterung ihrer Ich-Grenzen um die Person des Kindes. Die Fesseln, die Müttern so gut stehen, weil sie als hingebungsvolle Verpflichtung anerkannt sind, verdecken nur den Willen zur Macht. Als Putzlappen, Krankenschwester, Seelenmülleimer, als Sozial- und Intensivstation für psychische und physische Gebrechen hat sich die Mutti eine Position der Schwäche und Abhängigkeit erwählt, in der sie Tugenden wie Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Selbstbeschränkung, Treue und Verläßlichkeit, kurz: eine vorbehaltlose Hingabe ausspielt als einen Akt der Vergeltung. Sie erzeugt ein Soll bei den durch ihre Opfer Beschenkten, das diese nie und nimmer abbauen, geschweige denn ihr heimzahlen können; und sie wacht darüber, daß das Defizit erhalten bleibt. Zu ihrer äußeren Unentbehrlichkeit kommt also für die Kinder der unauflösliche Klebstoff des schlechten Gewissens« (Dorothea Dieckmann 1995/58).

Der Feminismus enthält die Tendenz, die faktische Teilhabe von Frauen an den Subjektivitätsformen der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. zu ihnen Creydt 2000) zu übergehen. Daß Frauen ebenso wie Männer andere Menschen für sich instrumentalisieren, daß gerade Mütter sog. »nicht-männliches« Verhalten bei Jungen negativ sanktionieren (vgl. Neutzling, Schnack 1990), gerät dann in den Hintergrund. Auch Gewalt wird allein Männern zugeschrieben, als ob nicht »Frauen in dem Bereich, in dem sie körperlich überlegen sind und über Macht verfügen - im Verhältnis zu ihren Kindern nämlich - in sehr viel höherem Maße zu Gewalttaten neigen«. Vgl. auch die Morde von Krankenschwestern an ihnen anvertrauten Menschen (Wien-Lainz, Michaela Roeder usw.). »Die Zahlen über den Anteil von Frauen als Täterinnen schwanken in der Literatur zwischen 40 und 70%. In der Kriminalstatistik der alten BRD wird ihr Anteil für 1990 mit 38,2 % angegeben« (Heyne 1996/257; vgl. a. Bergmiller, Küchler 1980). »Die empirisch sichtbare ›größere Friedfertigkeit‹ der Frauen kommt möglicherweise nur dadurch zustande kommt, daß viele Frauen in zutreffender Einschätzung ihrer Kräfte auf die Anwendung körperlicher Gewalt verzichten, sofern sie es mit einem körperlich überlegenen Gegner zu tun haben. ... Der hohe Anteil von Frauen an Fällen von Kindesmißhandlung ist meines Wissens in der feministischen Diskussion kaum zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht worden« (Heyne 1996/42f.).

Im Unterschied zur Stilisierung von Frauen zum ›friedlicheren Geschlecht‹ zeigt sich eher die Nähe zum Problem als entscheidend, wenn (vgl. Döbert und Nunner-Winkler 1986) Mädchen im Hinblick auf die Abtreibung sensibler argumentieren, Jungen aber bezüglich der Kriegsdienstverweigerung.

Starke Tendenzen im Feminismus sind assoziiert mit einer ebenso latenten wie notorischen moralischen Überheblichkeit. »Als Gegengewicht gegen das harte Geschäfts­leben brauchte man die heile Welt der Familie, wo Kinder naiv und unschul­dig, Frauen fromm und empfindsam waren. Auf diesen zuge­teilten Heiligenschein verzichten die Frauen bis heute nicht. Zur Hilfe kommt ihnen dabei ihre nachweisliche historische Unschuld. Sie waren in der Regel auf der Seite der Opfer und ohne Souveränität. Wer nichts zu sagen hat, kann auch nichts falsch machen - daraus auf menschlich-mora­lisch höhere, ja auch nur ganz andere Anlagen zu schließen, wie es in der Frauenbewegung seit eh und je üblich ist, führt aber auf gefährliche Ab­wege… Es ist offenbar schwer, eine Rebellion vernünftig zu machen, und die Voraussetzungen, die die bürgerlichen Frauen mitbringen, sind beson­ders schlecht. Ich denke, es war ein Unglück, daß sie sich ihr Entree ins Berufsleben und die Öffentlichkeit mit nichts als mit moralischer Arbeit haben verdienen müssen. Als Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen, Schwestern, Fürsorgerinnen hatten sie es mit Unwissenden, Unmündigen und Abhängigen zu tun; das schadet unter Umständen dem Charakter, leistet aber in jedem Fall konservativ-unkritischer Überidentifikation mit den Normen und Werten der hegemonialen (also bürgerlichen) Kultur Vorschub. … Irgendwann, hoffe ich, werden die Frauen ihre falsche Unschuld aufgeben können, und man wird merken: Ganz normale Men­schen« (Rutschky 1988/25ff.).

Gerade dadurch, daß die Zwischenmenschlichkeit unmittelbar die Alternative zum von den Menschen weitgehend abstrahierenden Erwerbsleben darstellt und dies nicht gelingen kann, aber gelingen muß, kehrt sich das zwischenmenschliche Wohl und Heil gegen die Individuen. Konfliktverleugnung, Harmonisierung, Pseudo-Gegenseitigkeit, privat­sprachliche Familienwelten und Heuchelei ergeben sich, wenn Menschen einander zwischen-menschlich die negativen Folgen der gesell­schaftlichen Welt auszugleichen versuchen, aber weder über die Mittel noch über das Verständnis verfügen. Wenn sie schließlich füreinander verantwortlich und für ihr Glück zuständig sind, schreiben sich die Mit­menschen die Schuld an unglücklichen Lebensverhältnissen zu und machen sich gegenseitig für das Ausbleiben des Glücks haftbar und sich selbst ein schlechtes Gewissen. In Namen der Familiarität nehmen die Mitglieder der Familie oder der Gemeinschaft gegeneinander Partei, insofern der jeweils andere als Hindernis zur Erreichung dieser Gegenwelt oder zumindest dieses Paralleluniversums erscheint. Die Funktionalisierungen des Kindes durch die Mutter sind in diesem Zusammenhang nicht allein als individuelles Fehlverhalten zu begreifen. Nicht die individuelle Therapie oder Erziehungsberatung kann sie auflösen. All dies gleicht eher dem Unternehmen, der Hydra einen Kopf abzuschlagen, während andere bereits nachwachsen. »Wie ihre nichtmütterlichen Leidensgenossen, die Therapie- und Religionsersatzsuchenden, die Berufsaus- und -umsteiger, die Vereinsmeier, die Häuslebauer, die sozial motivierten Reisenden und die Auswanderer mit Pionierromantik, mauern sich die Muttis ideologisch ein, um der Normierung zu entgehen, die ihrem Leben den Sinn aussaugen will. Sie wollen es anders machen, und anders, das heißt eben: besser. ... Entsprechend streng sind die Zulassungsbedingungen, die Qualitätskontrollen und die Sanktionen auf der Insel der Auserwählten« (Dieckmann 1995/29). Im »permanenten Zusammenglucken«, in der »eifrigen (Selbst-)Bestätigung« kommt es zur mit »gegenseitiger Kontrolle und Stigmatisierung von Abweichlern erkauften Nestwärme« (ebd.). Die Gestalterinnen des »Mutterlands« »füllen das vom gesellschaftlichen Geschehen abgeschlossene Vakuum mit allem, was sie zu fassen kriegen. Kein Rätsel ist ihnen zu rätselhaft, keine Ungeheuerlichkeit zu ungeheuerlich, keine Katastrophe zu katastrophal. Das Allgemeine wird angeeignet, indem seine Komplexität aufs häusliche Maß reduziert« wird (Dieckmann 1995/35. Vgl. zur ›Gemütlichkeit‹ auch Negt, Kluge 1981/1209f.).

Die menschliche Erfüllung in der zwischenmenschlichen Beziehung ergibt sich nicht anders als durch eine wenigstens partielle Transformation der Individuen zu Momenten eben der Beziehung. Der in der Beziehung Bestätigte ist durch andere bestätigt, aber nur insofern der andere auch der andere der Beziehung ist. »›Aufgehoben‹ sind sie nicht ›beim andern‹, sondern in dem ›Beieinander‹. Oder: Sie leben nicht ›mit dem anderen‹, sondern im ›Beieinander‹. Nicht ›auf‹ den anderen sind sie bezogen, sondern auf die ›Beziehung‹.« »Das Individuum, das zunächst ganz auf sich selbst gestellt war, hat aufgehört, sich selber anzugehören, und ist, infolge seines Versuchs, sich seiner selbst gewiß zu werden, der Angehörige eines Verhältnisses geworden« (Boettcher-Achenbach 1984/150). Die positive Inanspruchnahme der Zwischenmenschlichkeit als Gegenprinzip übergeht all diese Verwicklungen.

Die Mystifikationen und Verkehrungen der Zwischenmenschlichkeit sowie die Schwierigkeiten für die Orientierung in ihr liegen darin, daß hier das Tun des einen das Tun des anderen ist. Ich nehme den anderen sinn­lich wahr, aber ich habe mich auch an ihm wahr, habe etwas von meiner Wahrheit erst an ihm und durch ihn, so wie ich ihn wahrnehme und mich dabei empfinde. Aber auch er nimmt und hat mich wahr. Die Rückkoppe­lungsschleifen verschlingen sich ineinander. In ihnen eröffnen sich unend­liche Zuschreibungs- und Interpretationsmöglichkeiten. »Der Grund, weshalb es so schwierig und scheinbar unmöglich ist zu bestimmen, inwiefern etwas und einer auch an sich selbst etwas ist, liegt ja gerade an der ursprünglichen Zugehörigkeit der Dinge der Umwelt untereinander, der Mensch unter sich und der Mensch mit seiner Welt«, die wesentlich zwischenmenschliche Mit-Welt ist. »In einem derartig ver­selbständigten Verhältnis ist nicht mehr alternativ entscheidbar, bei wem die Initiative liegt, denn indem sich der eine primär nach dem andern richtet, richtet sich ja auch schon der andere primär nach ihm.« So »ent­springt die Initiative ihres Tuns und Lassens eigentlich weder beim einen noch beim andern, sondern aus ihrem Verhältnis als solchem« (Löwith 1962/69, 83, 85 vgl. auch Theunissen 1977/69, 83, 85, 194.). Der andere kann nicht erkannt werden, weil er hier schon - wie auch immer - zu mir gehört. Die Zirkularität der Zwischenmensch­lichkeit bedeutet die Ermüdung der in ihr Agierenden: Neben bzw. über zwischenmenschliche Ausbeutung tritt ein Metaproblem: Schwä­chung durch Nichtzuordnung, Unklarheit der Attribution, Ohnmacht der wahrnehmenden Sinne, unmittelbare Vergewisserung von Ego durch Alter vor dem Hintergrund einer dafür nicht vorgesehenen objektiven Welt. Die Weltlosigkeit der Individuen in der Arbeits- und Geschäftswelt lädt der Mit-Welt eine Aufgabe auf, die zum Kurzschluß der Subjekte untereinander führt. Diese eigenen Probleme der Zwischenmenschlichkeit zeigen, daß sie nicht einfach, wie in manchem Feminismus beliebt, gegen das Subjekt-Objekt-Verhältnis als Alternative gehalten werden kann, als sei sie nicht das niveaugleiche Gegenstück oder die Ergänzung.

Indem jedes der beiden Individuen in ›der Beziehung‹ eine wenigstens imaginäre weitgehendst mögliche Bestätigung und Resonanz für sich findet und sich so einfindet, daß diese Beziehung möglich ist, ereignet sich das ›Wunder‹, wenigstens in diesem Mikrokosmos als einzelner allgemein sein zu können. Dies verstärkt sich noch in dem Maße, wie die Liebenden nach Maßgabe ihrer Welt eine kleine neue Welt schaffen. Sie materialisiert sich in Kinder bzw. muß sich in ihnen materialisieren. Ihnen wachsen die Bedeutungen zunächst so zu, wie sie in der persönlichen und zwischenmenschlichen Welt der Eltern hatten entstehen können.

Die Vergemeinschaftung hat sich nur so ergeben können, wie es in der Familie zusammenpasste. Probleme gibt es dabei besonders für die Kinder, werden sie doch nicht auf die Welt gebracht, sondern vor allem in eine Familie gesetzt. Die Arbeit an diesem Unterschied ist den Indivi­duen ebenso aufgegeben wie erschwert, hat die Familienwelt doch schon zeitlich einen Vorsprung und ist in die Individuen hineingewachsen. Es gibt »nicht nur die alle Mitglieder einer Gesellschaft miteinander in einem gemeinsamen Bewußtseinshorizont verbindende Wirklichkeitskonstruktion des Alltagsweltwissens …, über das jedermann sich in der Umgangs­sprache mit jedermann verständigen kann, sondern ... in den verschiedenen Familienwel­ten (liegen) spezifischere Wirklichkeitskonstruktionen vor, die gar nicht so einfach mit der Fiktion eines gesamtgesellschaftlichen Alltagswirklichkeit in Einklang zu bringen sind, weil sie einen einzigartigen, privaten Charak­ter haben, der auch ihre schlichte Mitteilbarkeit und Zugänglichkeit für andere erschwert« (Loch 1975/338f. - vgl. auch Berger, Kellner 1965/225). Was vielen Feministen als lobenswerte besondere Beschäftigung von Frauen mit Zwischenmenschlichkeit und dem ›emotionalen Wachstum‹ erscheint, erscheint aus dem hier entfalteten Kontext als besondere Arbeit und Aktivität der Frau dabei, die Familiarität zu schaffen, zu erhalten und auszubauen. Die Frau ist meist das Subjekt der inneren Familie und trägt die sich mit ihr verbindenden Mystifikationen und psychopathologischen Entwicklungen aktiver als der Mann. Es wird nur mit entsprechend großer individueller Arbeit gewiß, wie die Eigentümlichkeit der jeweiligen Familienwelt späteres Handeln kontu­riert. Spitzenphänomene der jeweiligen Familienwelt mögen erkennbar sein, sie selbst aber ist in ihrer Unauffälligkeit eingesogen mit der Muttermilch. Die Familienbande erhalten sich auch dadurch, daß sie als Struktur und Lebensraum verschwinden, in den Sinnen aber fortexistieren. Wenn die Zwischenmenschlichkeit schon zwischen Erwachsenen eine verwirrende Wendung der eigenen Existenz bedeutet, so steigert sich dies noch im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Kinder erlauben Eltern, mindestens in der Familie und wenigstens eine Zeit lang Subjekt zu werden. Die Eltern haben Ideen und Ideologien, mit denen sie sich als Menschen erfahren, von denen wirklich etwas abhängt. Für Mütter, die diese Gewißheit nicht in anderen Arbeiten erlangen, gilt dies umso mehr. Die Kinder sind der Kompetenzbeweis eines eigenen In-der-Welt-Seins. So müssen sie für einiges herhalten und vieles zeigen und beweisen, beglaubigen und ermöglichen. Zugleich vermögen die Kinder als Kinder nicht die Bedeutungen, in die sie selbstverständlich hineinwachsen, als Moment des spezifischen Lebens ihrer Eltern von jener Selbstverständlichkeit zu unterscheiden.

Die positiv bemühte und den Frauen in besonderem Maße zugutegehaltene Einfühlung, Zuwendung, Kommunikation usw. stellen Abstraktionen dar, die das, womit all diese Tugenden verwoben sind, eben: die Durchsetzung von Kinder e r z i e h u n g und Z w i s c h e n menschlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft, nicht mehr aufscheinen lassen. Daß all dies vor ›Kommunikation‹, ›innerem Wachstum‹ etc. verschwindet, ist nichts speziell Weibliches, vielmehr charakterisiert diese Verkehrung die Sphären der Sozialarbeit, Psychologie, Erziehung usw. Sie wiederum formulieren das Konzentrat und die Essenz der Kindererziehung und Zwischenmenschlichkeit und die Hilfe für den Fall, daß diese nach eigenen Maßstäben ›mißlingen‹. Frauen machen sich in höherem Maße als Männer diese Seite des mehrere Momente umfassenden Gefüges der bürgerlichen Gesellschaft zueigen, isolieren und überhöhen sie und stellen sie - meist eher insgeheim - als Alternative ›dem Rest‹ gegenüber. Bereits für Helene Lange, den Kopf im Bund Deutscher Frauenvereine um 1900, sind es die Frauen, »die den letzten, den nach unsrer Überzeugung unveräußerlichen Kern der Institution der Familie gegen die seelenlose Gewalten der technischen Entwicklung mit Leib und Leben zu schützen haben« (1908/11f.). »Wie der Mann als Staatsangehöriger für Erhaltung, Förderung und Verteidigung seines Landes eintreten muß, so hat die Frau als Staatsangehörige für Behagen, Ordnung und Ausschmückung im Staate Sorge zu tragen« und »als Träger persönlicher Lebenselemente« den »Gegensatz zu der harten Objektivität, den mechanischen Notwendigkeiten des sozialen Geschehens« zu kultivieren (ebd. 103f.). Die Zerspaltung des Arbeits- und Gesellschaftsbegriffs in eine zweckrationale und eine kommunikative Sphäre hat Tradition. Zur selbst verdinglicht aufgefaßten Verdinglichung der Arbeit bildet eine interaktionistische, »sozial-clinchige« Verengung (z.B. als weibliche, pädagogische oder therapeutische Personenfixierung unter »Vermeidung von individuierender Gegenstands- und Produkterfahrung«) die Ergänzung oder das schlechte Gegenteil (Ottomeyer 1987/135).

Die Zwischenmenschlichkeit in Gestalt ihrer bisher hauptsächlichen, wenn auch nicht ausschließlich weiblichen Funktionäre hat alles ins Menschliche aufzulösen, die Kanten abzurunden, alles verständlich-verzeihlich-umgänglich zu machen - eine Menschelei, die um die gesellschaftliche Zukunft der Menschen betrügt. In dieser Perspektive wird die Autoplastizität von Meinungen, Motiven und Sinnen dazu genutzt, alles als bloß menschlich wahrzunehmen, überall Individuen in ihren Schwächen zu sehen und sich in sie, selbst bei aller Ablehnung, doch noch irgendwie einzufühlen. Hinzu tritt die Anstrengung, das Leben koste es was es wolle, als lebenswert aufzufassen. Im weiblichen Pragmatismus herrscht ein Fanatismus des Zurechtkommens. Alles läßt sich noch irgendwie als letzten Endes genießbar aufbereiten, allem noch ein schöner Aspekt abgewinnen. Bei allem läßt sich nach Möglichkeit die Aufmerksamkeit fokussieren auf eine persönliche Note. Imaginäre Entmächtigung und anthropozentrische Einschmelzung des Heteronomen bilden das implizite Ideal.

In der Familie m u ß verdaut werden, was aus der Familie heraus nicht verstanden oder aufgefaßt werden kann. Die Entfremdung der Arbeitenden wird auch in dem Maße nicht ihr Gegenstand, in dem die Existenz des Arbeitenden als Mensch der Zwischenmenschlichkeit die Arbeit um- und übergreift. Die familiäre Existenz erscheint als Ausgangs- und Zielpunkt der Arbeiten, insofern sie als Arbeiten f ü r die Familie gelten und ihnen von daher Sinn verleihen. Die Frau galt gemeinhin als Subjekt d i e s e s Sinnstiftungszusammenhangs.

Selbst noch die faktische Unterstützung gewaltsamer Militäraktionen wird von den seitens vieler Feministen als ›friedlich‹ gefeierten Frauen als Sorge um die beteiligten Söhne bzw. Männer verstanden. Eine Engländerin nimnmt zu ihrer Arbeit in einer Waffenfabrik während des Falklandkrieges Stellung: »Es war zwar schlimm, daß wir damit (dem Krieg - Verf.) zu tun hatten; aber da es nun einmal so war, mußten wir alles tun, um unsere Jungs zu unterstützen. Die Leute machten bereitwillig Überstunden und was sonst notwendig war, ob ihre Söhne davon betroffen waren oder nicht; wenn’s Engländer sind, sind es unsere Jungs, nicht wahr? Ich meine, das nächste Mal könnte es dein Junge sein« (Wainwright 1983/144, zit. n. Ruddick 1993/134). »Wenn der Krieg dann zu Ende ist, pflegen Mütter die Überlebenden, genau wie sie vorher Granaten gestrichen und dann Goldsterne ins Fenster gehängt hatten. Was blieb ihnen auch übrig? Hätten sie in Krisenzeiten wirklich Streit in der Familie oder der Gemeinde riskieren können, wo es doch ihre Pflicht war, die Verbundenheit zu wahren? ... Wenn ihr Sohn beim Morden ermordet wird, sollte sich eine Mutter dann den Trost versagen, in seinem ›Opfer‹ einen Sinn zu sehen? ... ›Ich muß mein Los mit jenen teilen, die Jahrtausend um Jahrtausend, perverserweise, ohne außergewöhnliche Macht, die Welt wiederherstellen‹ (Adrienne Rich)« (Ruddick 1993/134f.).

Es geht in der Zwischenmenschlichkeit und Privatsphäre darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Kosten der ›Nutzenverfolgung‹ (zu kapitalistischen Bedingungen) nicht mehr subjektiv präsent sind. Frauen sind es bislang noch, die sich überdurchschnittlich verantwortlich fühlen für die Gestaltung des Wohlbefindens und der zwischenmenschlichen Lebenskunst. Beides stellt ein für das Individuum not-wendiges, für die Gesellschaftsgestaltung fatales Moment dar, wollen doch mit Wohlbefinden und Lebenskunst Menschen in ihrer Gegenwart das Gegenwärtige selbst.

Überlegen über das zu sein, wovon man abhängt, daraus wird eine theoretische Maxime des Selbst- und Weltverständnis. Wer zuhause bleiben muß, macht ›Balkonferien‹. Und wenn es regnet, läßt man sich das Singen trotzdem nicht verbieten. In ›falschen‹ Verhältnissen ist das ›falsche Bewußtsein‹ lebens­praktisch. Die Laune sich nicht verderben zu lassen, das ist die mehr oder minder angestrengte Maxime von kleinen und großen Lebenskünstlern. Sie realisieren, daß der Verdruß zuallererst sie selbst ungenießbar macht. Die emotionale Wohlgestimmtheit avanciert zum Kriterium, das dem Bewußtsein und Selbstbewußtsein maßgebend vorgeordnet ist. Mit seinem Involviertsein in die gesellschaftlichen Verhältnisse soll dem Selbstbewußtsein als gelingender Privatperson kein unlösbares Problem entstehen. Im Gegenteil möchte die Privatperson sich selbst so ansehen, als ob sie eine sei, zu der all das paßt, was das Individuum als Lebensbedingungen vorfindet. Weniger Zufriedenheit als Militanz gegen Zweifel drückt die dem Individuum bitter nötige Betriebs­zufriedenheit aus.

Die Zwischenmenschlichkeit lebt von dem, was in der Öffentlichkeit und der Welt der verobjektivierten Leistung ausgeschlossen ist. Sie lebt von den Möglichkeiten des Menschen, die sie gegenseitig erkennen oder in einander hinein›sehen‹. Gegen die faktischen Resultate einer individuel­len Existenz werden an einem Individuum Gaben, Fähigkeiten und der ›gute Kern‹ geschätzt und beschworen. Bemüht wird ein Vor­schuß, der Menschen beflügeln kann, und gleichzeitig die Möglichkeit, sich gegenseitig mehr zuzurechnen als voneinander zu erwarten ist: »Gewiß schmücken wir jemanden, an den wir glauben, oft nur mit unse­ren eigenen Schätzen, aber was er uns leistet, ist, daß wir diese Schätze überhaupt ausgraben« (Simmel 10/71). »Jeder Mensch, der uns fasziniert, liebt etwas aus uns heraus, spricht etwas in unserer Psyche an, was dann ins Leben hereingeholt werden kann. … Vielleicht entsteht Liebe nur dann …, wenn wir in einen geliebten Menschen seine besten Möglichkeiten hin­einsehen und diese aus ihm herauslieben können, Möglichkeiten, die ihn über die Enge des bisherigen Gewordenseins hinaustragen, die sein Leben für etwas öffnen, was er nicht für möglich gehalten hat« (Karst 1985/13, 15).

Das Zugutehalten schützt sich gegen desillusionierende Erkenntnis. Das Individuum kann im Vergleich mit anderen durch allerhand Ab- und Aufwertungen der anderen seine Bilanz frisieren. Natürlich bedarf es, damit die jeweils individuelle Privatperson daran glauben kann, der Affinitätsgruppe oder zumindest des Partners, der die Privatperson so sieht wie sie sich selbst (bei allem in diesen unmittelbaren Verhältnissen notwendig werdenden Streit). Das Operieren mit dem Gedanken, daß der (jeweilige) Privatmensch mehr ist als seine ›Rollen‹, verformt das Ungenügen an den ›Rollen‹ zu einer tröstlichen, weil die Geltung der ›Rollen‹ relativierenden Ahnung. Deren Vagheit ist nicht hinderlich. Im Gegenteil: Erst das Raunen, das Unbestimmte erlaubt die Kultivierung und das Zelebrieren eines nicht fassbaren guten Kerns, von Atmosphären und Stimmungen, die in der gelingenden Zwischenmenschlichkeit und Familie das Eigentliche des Lebens darstellen.

Die die Weiblichkeit idealisierende Feminismusvariante ist Teilmenge einer affirmativen Gesellschaftskritik. Sie erklärt die kapitalistische und moderne Gesellschaft zur per se gesellschaftlich ungestaltbaren Heteronomiesphäre (vgl. zur Kritik daran Creydt 2000). Solcherart Kritik beklagt die ›Entfremdung‹, indem sie sie verdinglicht. ›Die‹ Gesellschaft bleibt diesem Verständnis zufolge selbst begrifflich nicht bearbeitet, sondern verfällt a l s Gesellschaft dem Verdikt und bietet einen Abhebungshintergrund für die Kultivierung der Innerlichkeit. Sie wiederum erscheint dem monolithischen Außen gegenüber als der Fremdheit gegenüber fremd. Heimat entsteht so aus der Negation der Negation. Wie sie sich aus dem konstitutiert, dem sie sich vermeintlich entgegenstellt, erscheint an ihr nicht mehr.

In der der Zwischenmenschlichkeit eigenen Ontologisierung der Welt zur Außenwelt eröffnet sich auch die Wohltat, jede Kritik am eigenen Tun abzuwerten, weil das, was man tut, negativ bestimmt wird. Das Tun wird nicht nach seinen bestimmten Beweggründen, Bezugnah­men und Zwecken wahrgenommen, sondern auf einer Metaebene gewertet. In ihr zählt, daß man die gute Meinung von sich selbst nicht aufgibt, nicht ›resigniert‹. So ringen die Individuen der widerspenstigen Welt den Erfolg ab, daß sie wenigstens selbst in ihrer Aufmerksamkeit für sich nicht nachlassen.

Im ›Heim‹, in der Innenausstattung der Wohnung und in der Ausgestaltung der heimischen Atmosphäre, materialisiert sich der Drang, die Welt - unter Abstraktion von den Gründen ihrer gegen die Menschen gerichteten Abstraktionen - wenigstens imaginär wohnlich zu machen. »In einem solchen Zustande hat der Mensch in allem, was er benutzt und womit er sich umgibt, das Gefühl, daß er es aus sich selber hervorgebracht und es dadurch in den äußeren Dingen mit dem Seinigen und nicht mit entfremdeten Gegenständen zu tun hat, die außer seiner eigenen Sphäre, in welcher er Herr ist, liegen« (Hegel 13/338).

Bei der Idealisierung der weiblichen Zuwendung, Empathie usw. wird unter anderem übergangen, wie eifersüchtig Frauen die private Atmosphäre gegen die Infragestellung verteidigen und gegen die Thematisierung von Problemen, die sich nicht letztendlich doch auf die Heilmittel der Zwischenmenschlichkeit engführen lassen. In der Zwischenmenschlichkeit soll sich alles wenigstens näherungsweise aufheben lassen, so zumindest das implizite Konzept ihres Gelingens. »Sie will ihn glücklich machen. Sie billigt von seiner Tätigkeit aber nur das, was in den Rahmen des Glücks hineinpaßt, was sie gezimmert hat« (Beauvoir 1968/ 436). »Jede Tätigkeit, die dem Familienlieben keinen Nutzen bringt, ruft ihre Feindseligkeit hervor. ... Mme. Racine interessiert ihren Mann für die Johannisbeeren im Garten und weigert sich, seine Tragödien zu lesen« (ebd. /452).

Die feministische Idealisierung der Frau isoliert und glorifiziert Fähigkeiten und Sinne, die in praktischen Kontexten der Zwischenmenschlichkeit und Familiarität inhaltlich bestimmter zu fassen sind. Das aus der ›Entfremdung‹ heraus als ›unentfremdet‹ Erscheinende macht jenen Sinn der Teilhabe an den Veranstaltungen der Erwerbsarbeit und des Geschäftslebens aus, der allein subjektiv-imaginär über die ihr immanenten ›Sachzwänge‹ hinausweist. »Kraft der Ausklammerung einer a priori unbeschadet bleibenden Dimension (bleibt) die Herrschaft selbst unbeschadet. ... Dieses Absolute indes wird durch die willkürliche Durchtrennung tausendfältiger Vermittlungen selbst erst erschlichen« (Böckelmann 1997/191, 213f.).

Zu jedem Eigentlichen gehört auch ein Uneigentliches. Die von vielen Feministen als außengerichtet und instrumentell vorgestellten Aktivitäten des Mannes vollenden sich erst in dem, worauf sie bezogen sind. Sie finden ihren Zweck nicht in sich, sondern im ›Schutz‹ der Frau, in der Versorgung der Familie usw. Vom Standpunkt der eigentlichen Werte des menschlichen Lebens, zu denen Feministen Frauen eine besondere Nähe reservieren, erscheint die »männliche« Befassung mit der Außenwelt als Mittel und Bedingung. Es liegt in dieser Konstellation für Männer nahe, dieses Standhalten in der Außenwelt zu heroisieren. Auch wenn sie die von den Frauen geleisteten Tätigkeiten als keine »richtige Arbeit« herabwürdigen, gewinnt die »männliche« Arbeit zugleich vielfach erst in ihrer Anerkennung durch die Frauen Motivation, Sinn und Gültigkeit. »Sicher: Es geht Männern auch um Egotrips, Gewinnsucht und Machtanhäufung, wenn sie nach den Sternen greifen wollen. Aber diese Sterne wollen sie doch den Frauen vom Himmel holen« (Stern 1991/122).

Viele Feministen erklären das Leben, die Fürsorge, die menschliche Aufmerksamkeit, Hege und Pflege für die eigentlich menschlichen Werte und reklamieren diese tendenziell für die Frauen. Frappierenderweise denken sie ihre Konstruktion nicht zu Ende. Ihr immanent beinhaltet doch eine »männliche« Herangehensweise in der moralischen Schönheitskonkurrenz nicht, frontal zu widersprechen. Vielmehr wäre ein anderer Gesichtspunkt geltend zu machen: Es stünden gerade jene in einem moralischeren Verhältnis zu den höheren = weiblichen Werten, die sich für die Bedingungen ihrer Existenz im heteronomen Reich der Außenwelt abrackern, obwohl sie als Männer diese Werte nicht zu verkörpern vermögen und an ihnen nur höchst mittelbar (eben über den Umweg der Frau) teilhaben können. Im Unterschied zum Hegelschen Knecht, dessen Emanzipation sich an Bildung durch Arbeit band, gesteht der hier vorgestellte feministische Verstand ›männlicher Arbeit‹ weder die von ihm für wesentlich erachtete Herzensbildung zu noch die angeblich in der Dienstleistungszukunft zentralen Qualifikationen Kommunikationsgeschick, ›emotionale Intelligenz‹, strategische Empathie usw. »Frauen tricksen besser« heißt es nicht nur in einem Ratgeber über »die etwas weiblichere Art, sich durchzusetzen« (Nöllke 2001).

Die Heroisierung einer Existenz, die von Werten, die ineins für eigentlich menschlich und weiblich erachtet werden, zugleich ausgeschlossen u n d auf sie ausgerichtet ist, spricht sich am deutlichsten in der einschlägigen Interpretation eines männlichen Verhältnis zum Krieg aus. »Wäre das Patriarchat nicht frauenorientiert, sondern tatsächlich frauenfeindlich, wie immer wieder von den Feministinnen unterstellt, wäre wohl niemals je ein Mann bereit gewesen, sich für die ›Lieben daheim‹ auf dem Schlachtfeld in Stücke hacken oder in Fetzen schießen zu lassen. Dann hätte es nie ein Mann auf sich genommen, für Frauen arbeiten zu gehen. Denn nur, wer wie die Männer das andere Leben, nämlich das der Frauen, höher einstuft, wird freiwillig diesem Leben zuarbeiten oder sein eigenes dafür opfern« (Stern 1991/127).

Literatur:

Althof, Wolfgang; Garz, Detlef 1988: Sind Frauen die besseren Menschen? In: Psychologie Heute , H. 9 , 58- 65

Beauvoir, Simone de 1968: Das andere Geschlecht. Reinbek bei Hamburg

Benjamin, Jessica 1982: Die Antinomien des patriarchalischen Denkens. Kritische Theorie und Psychoanalyse. In: Bonß, W.; Honneth, Axel (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Frankf. M.

Berger, Peter; Kellner, Hanfried 1965: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. In: Soziale Welt. Jg. 16

Bergmiller, Iris; Erd-Küchler, Heide 1980: Frauen und Aggressivität. In: Links H. 122

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Editorische Anmerkungen

Der Text erschien als Printversion in: Die Aktion (Nautilus-Verlag, Hamburg), 22. Jg., Nr. 203, 2002
Weitere gesellschaftstheoretische und politische Texte des Verfassers finden sich auf seiner Homepage unter: http://mitglied.tripod.de/MeinhardCreydt/.

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