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von IXODES

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Die Schließung des Krankenhauses Prenzlauer Berg ist nicht die einzige Verschlechterung, die sich in naher und mittlerer Zukunft in der Versorgung der Berliner HIV- und AIDS-PatientInnen ereignen könnte. Es geht um mehr als die Schließung einer Tagesklinik sowie die Verlängerung von Fahrtwegen und den Verlust des behandelnden Arztes für 400 PatientInnen.

So wird sich zum Beispiel im nächsten Jahr die Abrechnung der Krankenhäuser mit den Krankenkassen entscheidend verändern. Wurde bisher nach Bettentagen berechnet (d.h. das Krankenhaus bekam pro Tag für den Patienten eine bestimmte Summe, unabhängig von der Dauer des Aufenthaltes), wird jetzt ein Diagnosenschlüssel eingeführt werden. Dies bedeutet, dass die Behandlung des Patienten nicht mehr nach der realen Aufenthaltsdauer bezahlt wird, sondern für jede Diagnose eine Pauschale für den gesamten Aufenthalt, unabhängig von dessen wirklicher Dauer. Da die Krankenhäuser angehalten sind, wirtschaftlich zu arbeiten, wird es ab jetzt das Bestreben sein, PatientInnen so bald wie nur irgend möglich aus dem stationären in den ambulanten Bereich zu entlassen. Nur ein komplikationsloser Patient ist ein gewinnbringender Patient.

Schon jetzt führt dies dazu, das vor allem HIV/AIDS-PatientInnen ohne feste soziale Strukturen (beispielsweise Obdachlose oder iv-Drogenabhängige) verfrüht, teilweise mit nicht beendeter intravenöser Medikation, wieder auf der Straße sitzen. Da schon im letzten Jahr den ambulanten Krankenpflegediensten die Möglichkeit zur Abrechnung von Infusionsgaben und deren Überwachung genommen wurde, entstehen deutliche Versorgungslücken. Selbst die stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Vivantes GmbH, Susanne Stumpenhusen, musste im Juli 2001 auf dem Deutschen AIDS-Kongress feststellen, dass die Versorgung chronisch kranker Patienten in dem neuen Rahmen nicht sicher gewährleistet sei.

Aber auch im Rahmen der ambulanten Versorgung der HIV- und AIDS-PatientInnen könnte sich einiges zum Schlechten verändern. In der offiziellen Sprachgebung ist zunehmend die Rede von „ausreichender“ statt „optimaler“ Patientenversorgung. Immer mehr Medikamente werden von den Krankenkassen nicht mehr übernommen. Dazu gehören seit langem Multivitaminpräparate, pflanzliche Medikamente (z.B. Mariendistelpräparate, die einen leberschützenden Effekt haben –viele derzeit erhältliche antiretrovirale Medikamente sind nachgewiesenermaßen leberschädigend) und Antioxidantien wie beispielsweise Zink, das nachgewiesenermaßen eine positive Auswirkung auf die Infekthäufigkeit von HIV- und AIDS-PatientInnen hat. Falls man nicht über einen freundlichen Apotheker verfügt, bedeutet dies einen deutlich spürbaren Griff in den eigenen, sowieso eher mageren Geldbeutel.

Trotz nachgewiesenem Therapienutzen scheuen sich immer mehr HIV-Spezialisten in der Stadt, teure Begleittherapien, deren positive Auswirkungen auf Überlebenszeit und Lebensqualität von HIV-PatientInnen in kontrollierten Studien nachgewiesen wurden, anzusetzen. Dazu gehören beispielsweise die Behandlung mit Wachstumshormonen bei starkem Gewichtsverlust (Wastingsyndrom) im fortgeschrittenen Krankheitsstadium oder die Gabe von Immunglobulinen bei rezidivierenden schweren Infektionskrankheiten (z.B. immer wieder auftretende Lungenentzündungen, schwere Myelitis...).

Bestimmte neue Verfahren, wie beispielsweise die Resistenztestung nach Versagen der ersten antiretroviralen Therapie, werden trotz deutlichen Nutzens für die mögliche Dauer weiterer Therapien nur zögerlich eingesetzt, da die Kassen bisher die Kostenübernahme größtenteils verweigern. Dadurch gehen dem Patienten und dem behandelten Arzt wertvolle Informationen für die Festlegung des weiteren Behandlungsverlaufs verloren. Schlimmstenfalls bedeutet es, dass eine Folgetherapie wesentlich kürzer wirksam ist, da die Virussubpopulation des Patienten gegen eines oder mehrere Medikamente des neuen Kombinationsregimes längst resistent ist.

Viele Praxen sind aufgrund der Verordnung oben genannter Therapien mit Wirtschaftlichkeitsprüfungen durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) überzogen worden. Für die meisten Praxen wäre ein negativer Ausgang dieser Prüfungen existenzvernichtend, was für die derzeitige Vielgestaltigkeit in der Versorgung von HIV- und AIDS-PatientInnen der Stadt ein großer Verlust wäre. Insgesamt bedeutet dies, dass sich die Versorgungslage von HIV- und AIDS-PatientInnen der Stadt in den nächsten Jahren erheblich verschlechtern wird. Da es sich hierbei um einen schleichenden Prozeß handelt, wird diese Entwicklung recht individualisiert wahrgenommen. Häufig werden bestimmte Verschlechterungen erst einmal individuell abgefedert. Beispielsweise durch den guten Apotheker, der einem dann eben die nicht mehr verordnungsfähigen Vitaminpillen schenkt. Dass ein Großteil der HIV-Infizierten wie MigrantInnen, Junkies und Obdachlose dabei auf der Strecke bleiben, wird oft nicht wahrgenommen.

Um den oben genannten Entwicklungen entgegentreten zu können, wird in Zukunft um eine Repolitisierung des HIV- und AIDS-Begriffes dringend notwendig sein.

Editoriale Anmerkung:
Der Artikel wurde uns von http://www.etuxx.com/diskussionen/foo082.php3 gespiegelt. Dort gibt es weiterführende Links.

Die Protestaktionen zur Schließung HIV-Tagesklinik im Prenzlauer Berg zeigte Wirkung. Das Selbsthilfeprojekt Pluspunkt hatte 1700 Unterschriften unter eine Protestnote sammeln können, die der Senatorin für Arbeit, Soziales und Frauen, Gabriele Schöttler, übergeben worden war. Aus Gründen der Nichtzumutbarkeit entschied das Berliner Abgeordnetenhaus, die Tagesklinik nicht zu schließen. War die Schließung ursprünglich für Ende September geplant, ist der Stichtag jetzt auf den 31.12. 2001 verschoben. Verschoben ist aber leider nicht aufgehoben.