Die Diagnostik der Überflüssigen
Bedauerliche Kosten der Wissens-Ökonomie

von Heinz Steinert

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Die Freunde und Förderer der "Wissens-Gesellschaft" sind mit großer Gelassenheit dabei, ein Fünftel bis ein Drittel der Gesellschaft verloren zu geben. Am schönsten und einfachsten hat es wahrscheinlich Helmut Willke (1998, S. 363) gesagt: "Das unterste Segment der rund 20% nicht oder gering qualifizierter und qualifizierbarer Arbeitnehmer ist hoffnungslos. Es wird mit deutlicherer Ausbildung der Wissensgesellschaft immer weniger in der Lage sein, sich durch Arbeit selbst zu erhalten und mithin die Armutsgrenze unterschreiten und/oder dauerhaft auf zusätzliche Transfereinkommen angewiesen sein."

Der Bielefelder Systemtheoretiker sieht, wie er meint im Gegensatz zu anderen Gegenwartsdiagnostikern, aber gemeinsam mit klugen Management-Theoretikern (er nennt Peter Drucker, Robert Reich, James Quinn und Thomas Stewart), das unaufhaltsame Heraufkommen einer "Veränderung der Grundlagen von Gesellschaft", in ihrer Radikalität vergleichbar dem "Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft" (S. 356f). Sie beruht auf der "Wissensarbeit". Auf ihrem Feld "entscheidet sich, so ist anzunehmen, das wirtschaftliche Schicksal der Wohlstandsgesellschaften ... nur wenn sie den Übergang zur Wissensgesellschaft rechtzeitig schaffen, haben sie eine Chance, in der ersten Liga - für die sie sich prädestiniert halten - weiterhin mitzuspielen" (S. 365). Für ein so hehres Ziel sind 20% Hoffnungslose kein zu hoher Preis.

Peter Glotz (1999), der beansprucht, (passenderweise 1984) die "Zweidrittelgesellschaft" erfunden zu haben (S. 120), setzt entsprechend den Anteil der Abgehängten höher an, läßt aber auch mit sich handeln: "Dem Mehrheitsblock steht in der Zweidrittelgesellschaft das dritte Drittel gegenüber; wobei es gleichgültig ist, ob es sich immer exakt um ein Drittel handelt - die Machtverhältnisse sind nicht viel anders, wenn die Unterklasse nicht bei 30, sondern bei 25 Prozent stünde." (S. 126f) Dieses untere Drittel sieht Glotz disparat zusammengesetzt aus den Ausgeschlossenen und den Aussteigern, aus Leuten, die sicher nicht mehr aufsteigen können und die das auch nicht wollen. Sie haben zwar in Aspekten eine gemeinsame Lebensweise, aber eine "subversive Avantgarde ist aus dem dritten Drittel nicht zu formen". (Leute mit dem Anspruch, aus anderen Leuten etwas zu "formen", müssen eine geeignete Knetmasse anderswo suchen.) Das dritte Drittel ist für punktuelle Rebellionen und Störungen gut, wird aber sonst effizient niedergehalten. "Im Zweifel werden sich die Symbolanalytiker einigeln, die Zahl der Bodyguards erhöhen und die Polizei militarisieren. Die Bereitschaft vieler Menschen, das, was sie haben, mit Erbitterung und Brutalität zu verteidigen, ist märchenhaft (!) und wird von Strategen der Emanzipation regelmäßig unterschätzt." (S. 129)

Dabei ist es nicht so sehr moralisch oder politisch aufregend, als vielmehr intellektuell anstößig, wie hier die Diagnostik der Überflüssigen betrieben wird: mit der Unterstellung, es geschehe eine unpersönliche und unausweichliche Entwicklung der Gesellschaft, die kaum Nutznießer, geschweige denn Betreiber, nur gewisse bedauerliche, aber notwendige Kosten hat(1). Das ist zunächst eine geläufige Denkfigur der Soziologie, die Gegenwartsdiagnose immer nur durch die Behauptung einer gerade stattfindenden Umwälzung, die gegenwärtigen Zustände daher als Zwischenstadium in einem Übergang von etwas Vertrautem, Althergebrachten zu etwas unklar Neuem beschreiben konnte. Die Beliebtheit dieser Denkfigur ist aber auch der Tatsache geschuldet, daß man mit dem Benennen von Betreibern und Nutznießern einer "Entwicklung" sich in deren Politik einmischt. Das ist peinlich bis gefährlich und besonders ungünstig, wenn man selbst zu den Nutznießern (oder gar Betreibern) gehört. Um uns dem nicht aussetzen zu müssen, haben wir die "Wertfreiheit" erfunden. Mit ihrer Hilfe können wir so tun, als ginge uns das alles nichts an: Wir beschreiben nur, was eben (subjektlos) stattfindet.

Nun ist es gerade mit der "Wissensgesellschaft" nicht so einfach für die Lehrer und Berater, die Interpreten und Unterhalter, die Sozialwissenschaftler nun einmal sind, sich als unbeteiligt zu behaupten. Viele wollen auch den Enthusiasmus für die faszinierenden technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich angeblich auftun, gar nicht verbergen. (Besonders unter Medientheoretikern ist die Freude an der schönen, neuen Welt, die da heraufdämmert, weit verbreitet.) Die "Modernisierungsgewinner", das sind recht klar die Gebildeten; die Ausweitung der Wirtschaft, das geschieht sehr klar in Bereichen wie den Computer-Anwendungen oder der Beratung aller Art, wo sich die Gebildeten tummeln; der Bereich der möglichst lebenslangen Ausbildung, in dem die Voraussetzungen für die "Wissensgesellschaft" hergestellt werden, das ist die Universität (auch wenn sie zur Berufsausbildung herunterreformiert wird), wo sich die Gesellschaftsdiagnostiker immer noch überwiegend aufhalten. Sie sind in eigener Sache von der "Wissensgesellschaft" angetan. Sie sind auch in eigener Sache betreten, wenn sie über die Kosten der "Wissensgesellschaft" nachdenken.

Das macht es nicht ganz einfach, sich zu denen zu verhalten, die man als "Modernisierungsverlierer" und "hoffnungslose Fälle" identifizieren muß.

Gewinner sprechen über Verlierer

In der "Wissens-Ökonomie" sind deren Interpreten, die mit dem Zugang zur Öffentlichkeit und zu anderen intellektuellen Produktionsmitteln, selbst auf der Gewinnerseite. Und der "Klassenverrat", der (zumindest nach Sartres Theorie) erst "Intellektuelle" aus ihnen macht, ist offenbar nicht mehr attraktiv und opportun, nach eigener Einschätzung vieler mangels einer machtvollen Bewegung nicht einmal möglich. Statt sich auf die Seite derer zu schlagen, die um Anerkennung und Inklusion kämpfen, bieten sich für den medial abgeklärten und interessierten Interpreten der "Wissensgesellschaft" die folgenden Schritte einer brauchbaren Strategie an:

1/ Wir suchen nach einer neuen, originellen Bezeichnung für diese soziale Position, die gesellschaftlich geläufige Thematisierungen vermeidet. Wir reden also nicht von Armut,(2) auch Arbeitslosigkeit oder selbst Dauerarbeitslosigkeit ist uns zu banal,(3) die gute, alte Reservearmee kommt aus mehreren Gründen nicht in Frage,(4) auch die angelsächsischen und französischen Begriffe von "underclass" und "exclusion" vermeiden wir, weil schon abgenützt.(5) Mit dem allen ist keine Aufmerksamkeit mehr zu bekommen.(6) Wir brauchen aber eine Bezeichnung, die neu ist und also ein neues Phänomen signalisiert, und ein wenig Tabubruch wäre auch nicht schlecht. "Überflüssigkeit" wäre kein ganz ungeeigneter Kandidat.

2/ Der Tabubruch in dem Wort ist interessant. Wir benennen damit, was viele denken und hinter vorgehaltener Hand auch sagen: Viele sind hier überflüssig und könnten auch weg sein, z.B. die Ausländer, z.B. die Alten, z.B. diese unheilbar Kranken, womöglich mit dem Schaden schon geboren. Aber das würden wir nie öffentlich thematisieren, nur die radikale Rechte tut das. Andererseits die Arbeitsmarktpolitik: Denkt sie nicht recht genau in Kategorien von Brauchbarkeit und daher zumindest mit der Implikation von Überflüssigkeit? Oder die Bevölkerungspolitik, die Einwanderungspolitik? Denkt die Verwaltung nicht ohnehin ganz gern in großen Kategorien, in die sich leicht eine Dimension von Nutzen und Unbrauchbarkeit mischt? Der Begriff ist also einerseits hoch "anschlußfähig" und er wird andererseits von den politisch Korrekten wütend bekämpft werden - gute Voraussetzungen für öffentliche Aufmerksamkeit.

3/ Zu dem milden Tabubruch kommt als entscheidender Vorteil, daß der Begriff objektiv und gesamt-funktional anmutet: Es gibt Merkmale und Eigenschaften, Qualifikationen und Zustände, die sind einfach und insgesamt überflüssig.(7) Die Frage danach, wer da warum welche dieser Eigenschaften und Merkmale überflüssig macht, verschwindet in der Bezeichnung. Sie sind überflüssig für das Große & Ganze, also aus der Perspektive einer Gesamtvernunft, um nicht zu sagen, aus der Gottes. Als Soziologen sagen wir natürlich, daß das in einer besonderen Situation akut wird, in der eines Umbruchs, wie wir ihn gerade erleben, aber dieser selbst bleibt unbefragt: Er findet einfach statt, als gesellschaftliche Entwicklung, ohne Akteure. Die "Wissensgesellschaft" setzt sich durch, sie wird nicht betrieben.

4/ Diese Vorteile kumulieren sich, wenn wir den Begriff zusätzlich personalisieren, wenn wir also nicht von Überflüssigkeit sprechen, sondern von "den Überflüssigen". Das paßt einmal in die geläufige These von der "Individualisierung", ist also besonders anschlußfähig: Alle können sich da etwas vorstellen, nämlich daß man für sich selbst sorgen muß, sonst tut es niemand.(8) (Auch hier haben wir uns längst abgewöhnt zu fragen, wer eigentlich dafür sorgt, daß wir so exklusiv für uns selbst sorgen müssen - was einerseits in einer Konkurrenzgesellschaft selbstverständlich ist, andererseits im Wohlfahrtsstaat von der Rhetorik der "Fürsorge", womöglich gar der "wohlerworbenen Rechte" abgemildert wird. Wer also ist jetzt so dahinter, uns mit der Aufforderung, für uns selbst zu sorgen, das zu entziehen, was wir für "wohlerworbene Rechte" gehalten haben?)

Zum anderen wird damit die Überflüssigkeit zu dem, was in anderen Teilen der Soziologie "master status" genannt wird, zum dominierenden Merkmal einer Person, das ihre Zugehörigkeit zu einer Kategorie vorrangig bestimmt.(9) Damit ist wiederum nahegelegt, wie mit dem Merkmal umgegangen werden kann: Es muß nicht abstrakt etwas getan werden, damit Überflüssigkeit als gesellschaftlicher Zustand selten und bewältigbar wird, sondern wir haben an den Personen anzusetzen: Wie können "die Überflüssigen" dazu gebracht werden, z.B. ihre "Beschäftigungsfähigkeit" ("employability") zu verbessern? Wir kommen gar nicht in Versuchung nachzudenken, wer dafür verantwortlich sein mag, daß andere überflüssig werden, sondern haben die Träger eines Merkmals "Überflüssigkeit" vor uns, an die wir uns halten können.

Ein bedauerlicher Nebeneffekt dieser Wort- und Begriffswahl, in der die Episodenhaftigkeit von Ausschließung wie von Armut wie von "Überflüssigkeit" aus dem Modell entfernt wird, ist freilich, daß damit die Mehrdimensionalität von Überflüssigkeit auch zu verschwinden droht. Es ist aber schon interessant, daß z.B. am Arbeitsmarkt Überflüssige vielleicht in ihren familiären Bezügen doch "brauchbar" bleiben, und andere solche Kombinationen mehr. Diese Mehrdimensionalität müssen wir daher extra wieder einfügen, am besten in einem Phasenmodell, in dem sich verschiedene Überflüssigkeiten kumulieren und so kombiniert erst den wirklich und Gesamt-Überflüssigen sicherstellen. Dieser begriffliche Nachteil ist also zu bewältigen. (Bude 1998a: 374ff) Die so eingeführte Dynamik ändert nichts an der verdinglichenden Zuschreibung von "überflüssig" an die Person.(10)

Zusammenfassend: Wenn Vertreter und Beförderer der "Wissensgesellschaft" vorschlagen, die Verlierer ebendieser Wissensgesellschaft als "die Überflüssigen" zu kategorisieren, haben sie ganz gut sichergestellt, daß man nicht mehr danach fragt, wer das alles eigentlich betreibt und davon den Gewinn hat. Den Gewinn nämlich hat die gebildete Schicht, wie wir sie an den Universitäten herstellen, als zukünftige Lehrer und Berater im weitesten Sinn, als Erfinder, Gründer, Verbesserer und sonstige Dienstleister im WWW, als Leute, die zu unternehmerischer und ungesicherter Betätigung bereit sind, anders als die Älteren, die noch an einen "Beruf" glauben und die daher möglichst schnell und umfassend durch jene Jungen ersetzt werden sollen. Die betriebliche Strategie solcher Frühpensionierung und Nicht-mehr-Einstellung von Älteren ist es schließlich, was als "Krise der Altersvorsorge" und Generationenkonflikt thematisiert wird (die Jungen müßten immer mehr der - "überflüssigen", aber wohl- und langlebigen - Alten durchfüttern). Die Betriebsrationalisierungen, aus denen die auf dem Arbeitsmarkt "Überflüssigen" entstehen, werden von gut ausgebildeten Betriebsberatern vorangetrieben, die den Managern hier (vielleicht nur vorübergehend) das Heft aus der Hand genommen haben. Die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen für all das werden von benennbaren Politikern geschaffen, die selbst gut ausgebildet und jedenfalls umfassend beraten sind - begonnen haben damit in einem ersten energischen Schub Reagan und Thatcher, aber inzwischen sind auch Sozialdemokraten gut dabei, die Rechts-Populisten mit der fremdenfeindlichen Rhetorik wie die Haider-Partei in Österreich ohnehin.

Zwei kleine Nachfragen

1/ (Mindestens) 30 Jahre "Neue Armut" - was ist im Jahr 2000 neu?

Die Diagnose einer "neuen Armut" hat eine beachtliche Tradition. "Disparitäten" der Lebensbereiche haben Bergmann et al. bereits 1969 diagnostiziert und sie auf die spezifisch staatlich regulierte Form des damaligen (fordistischen) Kapitalismus zurückgeführt. Wenig später hat Heiner Geißler (1976) eine analog konstruierte "Neue soziale Frage" propagiert, die Armut derer, die von den Organisationen der institutionalisierten Arbeiterbewegung im Stich gelassen werden. Die politische Stoßrichtung war unverkennbar: eine Benachteiligung zu finden, die ihre Träger nicht zur Klientel von Gewerkschaft und Sozialdemokratie macht - deren Schicksal vielmehr diesen angelastet werden kann. Später in der "Zweidrittel-Gesellschaft", bei den "Entbehrlichen" wie bei den (vor allem italienischen) "Ungesicherten" ging es weiterhin um den Gegensatz zwischen den sozialstaatlich und sozialpartnerschaftlich "Gesicherten" und denen, die solche "Normalarbeitsverhältnisse" nicht, nicht mehr erreichen konnten. Zu letzteren gehörten übrigens wesentlich die Frauen mit ihrem anders organisierten "weiblichen Arbeitsvermögen" - in der heutigen Diskussion erscheinen sie kaum mehr.

Die politische Begleitmusik bestand in der Polemik der Arbeitgeber-Verbände gegen die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft und die von ihr verschuldeten hohen Kosten und die geringe Flexibilität der Arbeitskraft.

Gegenüber den seinerzeitigen Diagnosen hat sich auf der Ebene der Konflikte wenig verändert: Es geht immer noch darum, die organisierte Arbeiterschaft in ihren Ansprüchen zu dämpfen. Das wird immer noch durch Ausnützen der alt-ehrwürdigen Spaltung zwischen gut ausgebildeten und "ungelernten" Arbeitskräften und möglichstes Wegrationalisieren der anspruchsvollen (statt der besonders unangenehmen) Arbeitsleistungen getan. In den Randbedingungen dieses Konflikts ist freilich eine radikale Veränderung zu verzeichnen: Dank großer Rationalisierungs-Schübe (mit Hilfe von Computer-Technik aller Art) und dank der Möglichkeiten, die sich aus Internationalisierung bei bestehenden nationalen Grenzen und Unterschieden ergeben und nützen lassen, wurde die umfassende Flexibilisierung der Arbeitskraft durchgesetzt - bis hin zum Extrem des "Arbeitskraft-Unternehmers" (ein Verständnis, das in den USA schon seit einem Jahrhundert dominiert).

Insofern haben die Gewerkschaften und ihre traditionelle Politik derzeit eher schlechte Karten. (Zugleich sorgen sie nach wie vor für die Minimalstandards der Entlohnung und sonstigen Behandlung der in Arbeit befindlichen Arbeitskraft, sind also vielleicht doch nicht so entbehrlich, wie manche tun.) Die Konkurrenz zwischen den Arbeitskräften wird in lang nicht mehr geahnte Höhen geschraubt. Die unternehmerischen und konkurrenzfreudigen unter den Arbeitskräften, die in den Arbeitsmarkt drängen, (darunter die gut qualifizierten Jungen, Frauen und Hochmobilen) gewinnen davon durchaus. Die in dieser Konkurrenz nicht mithalten können, haben zum Schaden auch noch die Verachtung.

2/ Aus wessen Perspektive beschreiben wir Gesellschaft?

Man hat bei Politikern und Verwaltern oft den Eindruck, daß sie uns als eine gegliederte Masse verstehen und behandeln, die man ordnen, in nützliche Verteilungen und Aktivitäten steuern, ruhig und bei Laune halten muß.(11) (Daran ändert sich nichts, wenn die "nützliche Aktivität" in Rebellion und Empörung besteht, zu der wir - auch wieder von entsprechenden Politikern - veranlaßt werden sollen.) Dazu kommt, daß diese Art von Arbeit an uns (immerhin spricht man noch nicht wieder von "Untertanen", aber so richtig der "Souverän" sind wir offenbar auch nicht) im Dienst eines abstrakten höheren Ziels notwendig ist: Standortsicherung, Florieren der Wirtschaft, Aufschwung etc.

Die folgenden Zitate habe ich lediglich um ein paar Fragezeichen angereichert (an die Zitate am Anfang dieser Notiz ist noch einmal zu erinnern):

"Auf dem Weg in eine andere Moderne ... müssen wir (?) uns mit dem Bestand (?) einer Bevölkerung abfinden (?), deren Lebensunterhalt ganz oder zum Teil vom Staat (?) getragen (?) wird." (Bude 1998a: 366)

"Der Umstand, daß sie weder zur Ausbeutung noch zur Rebellion zu gebrauchen (?) sind, läßt sie als reine Kreaturen zurück." (Bude 1998a: 368)

"Für die Überflüssigen gilt, daß der wirtschaftliche Aufschwung (?) auf sie weitestgehend verzichten kann." (Willisch 2000: 9)

"Für die Überflüssigen von heute ist charakteristisch, daß sie bis zu einem gewissen Grade wohlfahrtsstaatlich versorgt (?), aber vor allem, daß sie rund um die Uhr unterhalten (?) werden." (Bude 1998a: 378)

Die Perspektive der Ausgeschlossenen einzunehmen, gelingt offenbar auch deshalb nicht, weil das ganze Phänomen der Überflüssigkeit sich der genauen Bestimmung und erst recht dem Selbstbewußtsein der Betroffenen entzieht.

"Es ist eine merkwürdige Gruppe, die von sich selbst als Gruppe gar nichts weiß." (Bude 1998b: 66f)

"Bei den ‚neuen Armen' haben wir es mit einer fluiden Masse zu tun, die sich der Festlegung auf eine Gruppendefinition erst einmal entzieht. Die ‚akzidentelle Ungleichheit' stellt eine Verwerfung dar, die sich quer durch alle Schichten und Klassen zieht." (Bude 1998a: 373)

"Es ist charakteristisch für das Phänomen, daß es gerade kein kalkulierbares Risiko, sondern eine präsente Gefahr darstellt. Das Schleichende, Unsichtbare gehört zur Sache." (Bude 1998b: 72)

Wäre es in dieser Situation nicht vorteilhaft, sich erst einmal an das handfest Beobachtbare: Konkurrenz, Not und soziale Ausschließung, zu halten?

Anmerkungen

  1. "In Zeiten krassen sozialen Wandels existieren keine privilegierten Sicherungszonen, wo man sich auf das akkumulierte ‚Kapital' beruflicher Qualifikationen, betrieblicher Loyalität und sozialer Wertschätzung verlassen könnte." (Bude 1998a: 365; meine Hervorhebung) "Wenn es stimmt, daß Überflüssigkeit in Perioden eines rapiden ökonomischen Wachstums primär ein betriebswirtschaftlicher Kostenbegriff ist, dann stellt sich die Frage, wie eine Gesellschaft mit den Erniedrigungserfahrungen einer freundlich zugemuteten Überflüssigkeit umgeht." (Bude 1998a: 379; meine Hervorhebung)
  2. "Das ist nicht mehr der normalerweise auf rund fünf Prozent geschätzte, sozialstrukturelle Bodensatz der ‚sozial Verachteten' oder der ‚unteren Unterschicht', sondern eine Querkategorie von Freigesetzten und Aussortierten." (Bude 1998a: 365)
  3. "Die Unterscheidung, Arbeit zu haben oder arbeitslos zu sein, wird zunehmend uneindeutig ..." (Bude 1998a: 367) "Eine einmal erfahrene Arbeitslosigkeit kann ... einen Prozeß der Marginalisierung einleiten, sie ist aber nicht gleichzeitig das Kriterium einer prekären Lebenssituation." (Willisch 2000: 10)
  4. "Die ‚Reservearmee' erfüllte nach der Lehre der Arbeiterbewegung eine ganz bestimmte Funktion im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang. Dieser tragische Schematismus der Ausbeutung hat unter den Bedingungen von ‚jobless growth' seine Plausibilität eingebüßt. So wie die Nützlichkeit der Arbeit kein Argument mehr ist, dient die Armut der Armen niemandem mehr. Sie belastet im Gegenteil das soziale Sicherunssystem, das im Prinzip von allen finanziert wird." (Bude 1998a: 372
  5. "Im Unterschied zu Frankreich, Großbritannien oder den USA fehlt in Deutschland die Sichtbarkeit von sozialer Ausgrenzung." (Bude 1998a: 377, mit nachfolgender Erläuterung der Nachteile der dort verwendeten Begrifflichkeiten) "Der amerikanische Underclass-Begriff basiert auf den Vorstellungen der dominierenden Mittelklasse, die die Möglichkeit des Scheiterns im Chancenbewußtsein mitdenkt, und in der britischen Beveridge-Tradition gehören zur Underclass diejenigen, die von sozialer Apartheid nbetroffen sind. Der Exklusionsbegriff in Frankreich verdankt sich einem hymnischen Republikanismus, wo die Ausgeschlossenen die Paria der Nation bilden. In Deutschland können wir auf keine dieser Begriffsgeschichten zurückgreifen. Deshalb bekommt jeder Versuch, das Phänomen in einer Kategorie zu fassen, bei uns einen eigentümlich dramatischen Charakter." (Bude 1998b: 66)
  6. "Ich fürchte nur, daß wir dabei sind, die veränderte Nachfragesituation zu verpassen. Nachdem eine Zeitlang die Historiker mit ihrer Geschichte im Vordergrund gestanden haben, fragt man jetzt wieder nach der Soziologie und der Gesellschaft. Aber was haben wir zur geistigen ‚Situation der Zeit' zu sagen?" (Bude 1998b: 80)
  7. "Das Phänomen der Überflüssigkeit entzieht sich den normativen Stratifikationsvorstellungen unserer Gesellschaft. Überflüssig können alle möglichen Leute werden, ohne in gleiche sichtbare soziale Lagen zu geraten, wohl aber in ähnliche existentielle Zustände. (Bude, 1998b: 65) "Der stolze Werftarbeiter ist genauso gefährdet wie der Pyramidenkletterer aus dem mittleren Management, die kompetente Sachbearbeiterin aus der Reklameabteilung genauso wie die clevere Friseuse aus dem Salon im Einkaufszentrum. Was sie verbindet, ist das latente Gefühl, daß sie sich aufgrund unglücklicher Umstände mit einem Mal in einer staatsabhängigen Schicht wiederfinden könnten, in der die Grenzlinien von erwartbaren Zuerkennungen und gerechtfertigten Ansprüche nach Maßgabe der öffentlichen Finanzlage mit einer gewissen Willkürlichkeit immer wieder verändert werden." (Bude 1998a: 365
  8. "Mit der Kategorie der Überflüssigen versuche ich, Leute ausfindig zu machen, die durchs Netz fallen und für die es keine Art von Schutzorganisation gibt, an die sie sich im Zweifelsfall wenden können ... Es ist eine merkwürdige Gruppe, die von sich selbst als Gruppe gar nichts weiß." (Bude, 1998b: 65f)
  9. Wir müssen "in Zusammenhängen sozialer Ausgrenzung zumindest drei Populationen unterscheiden, zwischen denen zwar Anschlüsse, aber keine Deckungsgleichheiten existieren: Die Population der Arbeitslosen, die der Armen und die der Überflüssigen." (Bude 1998a: 377)
  10. Die ganz andere Möglichkeit bestünde darin, Vorgänge der sozialen Ausschließung grundsätzlich als dynamisch, vieldimensional und episodisch zu konzipieren, also nicht von (verschieden radikal) ausgeschlossenen Personen auszugehen, sondern von individuell und subkulturell umkämpften Gefahren, mit denen man sich unter Einsatz verschiedener Ressourcen aktiv auseinandersetzt. (Die resignierte Hinnahme als unausweichlich ist dann nur ein - aus Gegebenheiten der Situation - erklärungsbedürftiger Spezialfall.) Mit einem solchen Modell von sozialen Vorgängen, deren Personal nur in zweiter Linie interessiert, arbeiten wir in dem von mir koordinierten international vergleichenden Projekt "Social exclusion as a multidimensional process. Subcultural and formally assisted strategies of coping with and avoiding social exclusion". Vergl. dazu die Projekt-Homepage www.rz.uni-frankfurt.de/fb03/devi/case und Steinert,1999a.
  11. Je stärker populistisch sich Politik organisiert, umso ausgeprägter wird (hinter der Nebelwand der populistischen Rhetorik) genau diese instrumentelle Haltung. Vergl. dazu die Ausführungen in Steinert 1999b.

Literatur

  1. Bergmann, Joachim, Gerhard Brandt, Klaus Körber, Ernst Theodor Mohl und Claus Offe (1969) ‚Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung', in: Theodor W. Adorno (Hg) Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages. Stuttgart: Enke. 67-87.
  2. Heinz (1998a) ‚Die Überflüssigen als transversale Kategorie', in: Peter A. Berger und Michael Vester (Hg.) Alte Ungleichheiten / Neue Spaltungen. Opladen: Leske + Budrich. 363-382.
  3. Heinz (1998b) Beiträge zum Gespräch "Die Überflüssigen" zwischen Dirk Baecker, Heinz Bude, Axel Honneth und Helmut Wiesenthal, in: Mittelweg 36, 7(6): 65-81.
  4. Castel, Robert (2000) ‚Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs', in : Mittelweg 36, 9(3): 11-25.
  5. Geißler, Heiner (1976) Die Neue Soziale Frage. Freiburg: Herder.
  6. Glotz, Peter (1999) Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus. München: Kindler.
  7. Steinert, Heinz (1999a) (Hg) Politics against Social Exclusion. CASE Project Papers # 1, Wien (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie).
  8. Steinert, Heinz (1999b) ‚Kulturindustrielle Politik mit dem Großen & Ganzen: Populismus, Politik-Darsteller, ihr Publikum und seine Mobilisierung', in: Internationale Gesellschaft und Politik, 4/1999: 402-413.
  9. Willisch, Andreas (2000) ‚Editorial: "Überflüssige" – Verwundbarkeit und Prozesse der Marginalisierung', in: Mittelweg 36, 9(3): 8-10.
  10. Willke, Helmut (1998) Systemisches Wissensmanagement. Stuttgart: UTB.

Editoriale Anmerkung:
Der Text erschien in Mittelweg 36, Heft 5/2000, S. 9-17.und ist eine Spiegelung von:
http://www.links-netz.de/K_texte/K_steinert_diagnostik.html