WochenZeitung vom 9.11.2000

Nahost: USA an Israels Seite
Zweierlei Mass

von Noam Chomsky

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Israel hat sich vor langem die US-Doktrin zu Eigen gemacht. Das ist kein Zufall.

Drei Wochen nach Beginn des neuen Krieges in den von Israel besetzten Gebieten kündigte der israelische Premier Ehud Barak einen neuen Plan zur Festlegung des endgültigen Status’ der Region an. In diesen Wochen wurden über hundert PalästinenserInnen getötet, darunter 30 Kinder. Dies geschah häufig durch den «exzessiven Gebrauch todbringender Gewalt unter Umständen, in denen weder das Leben der Sicherheitskräfte noch anderer direkt bedroht war, mit dem Resultat rechtswidrigen Tötens», wie die Schlussfolgerung des detaillierten Berichts von Amnesty International lautet, der in den USA kaum beachtet wurde. Das Verhältnis von palästinensischen zu israelischen Toten lag bei 15 zu 1, was die zur Verfügung stehenden Machtmittel widerspiegelt.
Baraks Plan wurde nicht im Detail veröffentlicht, aber die Grundzüge sind bekannt: Sie entsprechen dem Entwurf für einen endgültigen Status, der von den USA und Israel als Basis der im Juli gescheiterten Camp-David-Verhandlungen vorgelegt worden war. Dieser Plan, der auf früheren US-israelischen Vorschlägen fusst, verlangt die Kantonisierung der Gebiete, die von Israel 1967 erobert worden waren. Eingebaut sind Mechanismen, die sicherstellen, dass brauchbares Land und Ressourcen (vor allem Wasser) vorwiegend in israelischer Hand bleiben, während die Bevölkerung von einer korrupten und brutalen Palästinenserbehörde verwaltet wird. Diese übernimmt die Rolle, die in den verschiedenen Spielarten imperialer Herrschaft traditionellerweise einheimischen Handlangern zuteil wird: Augenfälligste Analogie ist die schwarze Führung der südafrikanischen Bantustans. Die Vorschläge geben den gross angelegten Siedlungs- und Bauprogrammen eine feste Form, die Israel dank der grosszügigen Hilfe der USA verstärkt vorantreiben konnte, seit die USA ihre Version des «Friedensprozesses» nach dem Golfkrieg umzusetzen vermochten. Ziel der Verhandlungen war, sich die offizielle Zustimmung der Palästinenserbehörde zu diesem Projekt zu sichern. Zwei Monate nach dem Scheitern der Gespräche begann die gegenwärtige Phase der Gewalt.

Die wichtigste Neuerung in Baraks Plan ist, dass die US-israelischen Forderungen mit direkter Gewalt anstatt Zwangsdiplomatie durchgesetzt und die Opfer bestraft werden sollen, wenn sie nicht höflich nachgeben. Der Plan entspricht den Strategien, die 1968 und danach aufgestellt worden waren und nicht nur vorgeschlagen, sondern – mit Unterstützung der USA – auch umgesetzt wurden. Diese Unterstützung war ab 1971 entscheidend, als Washington von dem grundlegenden diplomatischen Gefüge, das es ins Leben gerufen hatte (der Resolution 242 des Uno-Sicherheitsrats), Abstand nahm. Danach wollten die USA von den Rechten der PalästinenserInnen nichts mehr wissen. Diese Politik mündete schliesslich in den «Oslo-Prozess».

Politik der Abriegelung

Baraks Plan ist also eine besonders harte Version der bekannten US-israelischen Zurückweisung der palästinensischen Rechte. Sie besteht in der Begrenzung von Elektrizität, Wasser, der Telekommunikation und anderer Dienstleistungen, die der im Belagerungszustand lebenden palästinensischen Bevölkerung in mageren Rationen ausgehändigt werden. Das Militärregime hat ab 1967 eine unabhängige Entwicklung der palästinensischen Gebiete skrupellos verhindert und die Bevölkerung in Abhängigkeit und bitterer Armut belassen – eine Entwicklung, die sich während des «Oslo-Prozesses» nochmals deutlich verschärfte. Ein Grund für die Armut und Abhängigkeit war die Politik der Abriegelung, die besonders von den angeblich friedensfreundlichen Regierungen der Arbeitspartei verfolgt wurde. Diese Praxis, bei der die palästinensischen Arbeitskräfte tage- und wochenlang nicht zu ihren Arbeitsplätzen auf israelisch kontrolliertem Gebiet gelassen wurden, hat die Regierung Yitzhak Rabins begonnen – Jahre bevor Hamas Selbstmordanschläge geplant hatte –, und sie wurde in all den Jahren perfektioniert, vor allem seit der Einrichtung der Palästinenserbehörde. Die Politik der Abriegelung war begleitet vom Import der unentbehrlichen Ware Arbeit: der Einfuhr von hunderttausenden illegalen Immigranten aus der ganzen Welt, viele von ihnen Opfer der «neoliberalen Reformen» der vergangenen Jahre der «Globalisierung». Damit sollten die billigen palästinensischen Arbeitskräfte ersetzt werden, die auch in der israelischen Presse als Sklavenarbeiter bezeichnet werden und auf die ein grosser Teil der israelischen Wirtschaft angewiesen ist. Barak schlägt vor, diese Strategie noch auszuweiten; damit werden die Möglichkeiten der PalästinenserInnen, überhaupt überleben zu können, noch mehr reduziert.

Diesem Vorgehen im Weg steht aber die israelische Wirtschaft, die auf einen palästinensischen Markt angewiesen ist, den sie kontrollieren und dem sie Waren im Wert von rund 2,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr liefern kann. Wirtschaftskreise haben «Kontakt zu palästinensischen Sicherheitsbeamten» und zum «Wirtschaftsberater von Arafat aufgebaut, damit sie mit dem offiziellen Segen der Palästinenserbehörde Monopole aufbauen können» (so die «Financial Times» und die «New York Times» vom 22. Oktober). Sie hoffen auch, in den palästinensischen Gebieten Industriezonen einzurichten, in denen es keine Umweltauflagen gibt. In diesen Produktionszonen sollen billige Arbeitskräfte für israelische Unternehmen und die palästinensische Elite schuften.
Baraks Absichten zielen auf eine logische Fortsetzung dieser Entwicklung, die auf einem «unsichtbaren Transfer» basierte, der schon viele Jahre in Gang ist, und die, wirtschaftlich gesehen, sinnvoller ist als eine «ethnische Säuberung». Menschen, die gezwungen werden, alle Hoffnung aufzugeben und keine Aussichten auf eine sinnvolle Existenz haben, werden allmählich auswandern, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. So könnten die alten Ziele der zionistischen Bewegung doch noch umgesetzt werden. Diese Pläne sind nicht unrealistisch, wenn sie auf die weltdominierende Macht und deren intellektuelle Elite bauen können.

Im Strassennetz gefangen

Parallel zur ökonomischen Ausbeutung intensivierte Israel die Kontrolle der Westbank und des Gazastreifens. In den sieben Jahren nach Oslo war Israel in der Lage (so die renommierte Tageszeitung «Ha’aretz»), «die Zahl der Siedler zu verdoppeln, die Siedlungen zu vergrössern, die für die drei Millionen Palästinenser bestimmte Quote an Wasser zu reduzieren, eine palästinensische Entwicklung weitgehend zu verhindern, eine ganze Nation in kleine, begrenzte Gebiete einzupferchen und in ein Netz von Umgehungsstrassen einzusperren, die nur für Juden bestimmt sind. Jede Strasse war sorgfältig geplant, und zwar so, dass die Juden volle Bewegungsfreiheit haben, während die Palästinenser in ihren Bantustans eingeschlossen bleiben, bis sie den israelischen Forderungen nachgeben. Das Blutbad der letzten drei Wochen ist das natürliche Ergebnis von sieben Jahren Lug und Betrug – so, wie die erste Intifada das natürliche Ergebnis der direkten israelischen Besetzung war.»

Im August schrieb «Ha’aretz», die Regierungen Rabin und Barak hätten die Besiedlung «eingefroren». Diese Formulierung kommt zwar der US-Regierung entgegen, da sie das Image eines friedlich gestimmten Israels vermittelt, aber sie verhüllt die Tatsache, dass in dieser Zeit die Siedlungen selber mit ökonomischen Anreizen für die weltlich orientierte Bevölkerung und mit Zuschüssen für die ultrareligiösen SiedlerInnen verstärkt wurden. Fakt ist, dass die Besiedlung der besetzten Gebiete viermal schneller wuchs als die Bevölkerung in den israelischen Ballungszentren und dass dieser Trend unter Barak anhält und vielleicht sogar beschleunigt wurde.

Danny Rubinstein, ein renommierter Journalist, hob jüngst hervor, dass die «Siedlungsaktivität niemals stoppt» und dass Israel das Ziel verfolge, der palästinensischen Bevölkerung «ihre Heimat und ihre Hauptstadt Jerusalem zu rauben». Diese Tatsache werde, so Rubinstein, den LeserInnen der israelischen Presse weitgehend vorenthalten. Dies gilt auch für die USA, wo es noch viel wichtiger ist, die Bevölkerung im Unklaren zu lassen: Israels wirtschaftliche und militärische Programme hängen in entscheidendem Masse von der US-Unterstützung ab, die in den USA noch unpopulärer würde, wenn ihre Zwecke bekannt wären.

Ein Beispiel: Eine Woche nach dem Ausbruch der Auseinandersetzungen berichtete «Ha’aretz» über den «grössten Kauf von Militärhelikoptern im letzten Jahrzehnt». Dem mit den USA geschlossenen Abkommen (es sieht die Lieferung von 35 Blackhawk-Helikoptern inklusive Ersatzteile und Treibstoff vor) ging der Kauf von Patrouillenflugzeugen und Apache-Angriffshelikoptern voraus. Diese sind, so die «Jerusalem Post», die «neuesten und modernsten Mehrzweck-Angriffshelikopter». Mitte Oktober verurteilte Amnesty International diesen Kauf, da diese «von den USA gelieferten Helikopter benutzt wurden, um die Menschenrechte der Palästinenser und der arabischen Israeli zu verletzen».
Israel wurde international (bei US-amerikanischer Enthaltung) für den «unverhältnismässigen Einsatz von Gewalt» verurteilt, selbst vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Dabei basiert Israels Vorgehen auf einer offiziellen US-Doktrin, die hier als «Powell-Doktrin» bekannt ist, obwohl sie schon Jahrhunderte alt ist: Reagiere mit aller Gewalt auf alles, was du als Bedrohung wahrnimmst. Die offizielle israelische Doktrin erlaubt «vollen Waffeneinsatz gegen jeden, der Leben gefährdet, und insbesondere gegen jeden, der auf unsere Truppen oder auf Israeli schiesst» (so der israelische Militärrechtsberater Daniel Reisner in der «Financial Times»). Der volle Einsatz einer modernen Armee umfasst Panzer, Kampfhelikopter und Scharfschützen, die auf Zivilisten zielen. In den USA gekaufte Waffen «unterliegen nicht der Einschränkung, dass sie nicht gegen Zivilisten eingesetzt werden dürfen», sagte ein Pentagon-Sprecher. Allerdings gab er zu, dass «Panzer-Abwehr-Raketen und Kampfhubschrauber normalerweise nicht zur Kontrolle einer Menge herangezogen» würden. Ein anderer US-Beamter meinte, man könne ja schlecht nachfragen, wenn ein israelischer Kommandant einen Kampfhubschrauber anfordere, weil seine Truppe angegriffen würde.

Es ist nicht verwunderlich, dass ein von den USA in jeder Hinsicht abhängiger Staat die Standard-Militärdoktrin der USA anwendet, die auch in den letzten Jahren einen hohen Blutzoll gefordert hat. Die USA und Israel sind natürlich nicht die Einzigen, die nach dieser Doktrin handeln, und manchmal wird ein Vorgehen nach dieser Doktrin von der westlichen Öffentlichkeit sogar verurteilt – nämlich dann, wenn dies «unsere» Feinde tun. Jüngstes Beispiel ist Serbien, dessen Territorium von einer albanischen Guerilla attackiert wurde, die serbische Polizei und ZivilistInnen (auch albanische) mit dem öffentlich bekundeten Ziel angriff, eine «unverhältnismässige Reaktion» hervorzurufen, welche ihrerseits einen Nato-Angriff auslösen sollte. Das Vorgehen der serbischen Seite ist wohl dokumentiert, auch deswegen, weil die Untersuchungen die Nato-Angriffe rechtfertigen sollten. Glaubt man den westlichen Quellen, dann war das serbische Vorgehen zweifellos «unverhältnismässig» und kriminell – aber vom Ausmass her nicht zu vergleichen mit der Standard-Reaktion der USA und den von ihnen abhängigen Staaten, Israel eingeschlossen.

«Wenn die Palästinenser eine schwarze Hautfarbe hätten, gälte Israel jetzt als Paria-Staat, gegen den Wirtschaftssanktionen verhängt würden», schrieb Mitte Oktober die britische Sonntagszeitung «Observer». «Die Besiedlung der Westbank würde als Apartheidsystem begriffen, das der indigenen Bevölkerung erlaubt, in einem winzigen Teil des eigenen Landes zu leben, in selbst verwalteten ‘Bantustans’, in denen die ‘Weissen’ Wasser und Strom kontrollieren. Und so, wie das weisse Südafrika die schwarze Bevölkerung in Townships zusammenpferchte, behandelt auch Israel die arabischen Israeli (...).» Solche Einschätzungen sind in der US-amerikanischen Presse nicht zu lesen.