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Was hat die Marxsche Ökonomiekritik noch zu sagen?

von Wolfgang Fritz Haug

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Die Frage, ob mit dem Fall des «real existierenden Sozialismus» auch die Epoche der an Marx orientierten Ökonomiekritik beendet sei, verlangt nach einer Gegenfrage: War der «real existierende Sozialismus» an der marxschen Ökonomiekritik orientiert? Wer sich die Mühe gemacht hat, einmal Praxis und Theorie(n) des staatssozialistischen Wirtschaftens mit der marxschen Ökonomiekritik zu vergleichen, weiss, dass davon kaum die Rede sein konnte. Der Ricardo-Herausgeber und Gramsci-Freund Piero Sraffa weist mit seiner kleinen Schrift «Warenproduktion mittels Waren» auf eine andere Affinität, eben die zu Ricardo. Der gewaltige marxistische Mantel, in den dieser Sachverhalt eingekleidet war, hat eine kollektive Verkennung gefördert, die eine Reihe von Quidproquos nährte. Ich nenne die beiden elementaren Verwechslungen: Die erste besteht darin, die Arbeitswertlehre für eine Erfindung von Marx zu halten; die zweite darin, die Kritik der politischen Ökonomie für eine Wirtschaftstheorie zu halten. Man muss die Ökonomiekritik vor den Ökonomen retten. Gramsci hat unrecht, wenn er die marxsche Kritik der politischen Ökonomie als «kritische Ökonomie» bezeichnet. Es ist eine kritische Theorie der Gesellschaft, die deren Anspruch auf allgemeine Menschendienlichkeit ernst nimmt, indem sie die Mechanismen der herrschenden Dienlichkeiten blosslegt. Dabei gibt Marx im «Kapital» unmissverständliche Fingerzeige: Der erste besteht darin, dass er als Springpunkt seiner kritischen Theorie nicht die Arbeitswertlehre, sondern die Analyse des Doppelcharakters der Arbeit bezeichnet; der zweite darin, dass er als die Zugangsfrage seiner Kritik der politischen Ökonomie, eine Frage, die zu stellen der klassischen Politischen Ökonomie nie eingefallen ist, die nach der Wertform der Arbeitsprodukte begreift. Obwohl der zweite Gedanke in der Ordnung der Darstellung auf den ersten folgt, enthält er den Schlüssel zu diesem. Die Arbeitswertlehre gehört der klassischen politischen Ökonomie, besagt er. Und weiter: Diese Theorie verfährt analytisch-reduktiv, wenn sie als Wertsubstanz die Arbeit benennt, etwa wie, auf dem Feld der Religionskritik, die feuerbachsche Theorie, wenn sie als Substrat der religiösen Vorstellungen das menschliche Wesen identifiziert. Und wiederum wie Feuerbachs Religionstheorie hat sich die Arbeitswertlehre «nie die Frage gestellt, wie jener Inhalt (Arbeit, menschliches Wesen) in diese Form (Wert, Religion) kormnt». Die Wertformanalyse ist daher der epistemologische Filter, durch den die «ökonomischen» Aussagen müssen. Die Analyse der Wertform wiederum geht über in Krisentheorie. Die Diskrepanz zwischen Wert und Preis gehört zur Sache selbst, sie ist keine Abweichung von der Ordnung, sondern diese selbst. Regulierendes Resultat oder resultierendes Gesetz sind die epistemologischen Grundkategorien. Die klassisch-bürgerliche Arbeitswertlehre erfährt hierdurch die doppelte Kritik, dass ihre unvermittelten, direkte Relationen im Einzelfall bezeichnenden Aussagen gegenstandslos sind und dass die Suche nach einer Rechnung, die auf kapitalistischem Boden aufginge, zum Scheitern verurteilt ist. Die massenhafte Wiederholung unter permanenten Schwankungen zwingt allen Begriffen, die dem Zusammenhang von Arbeit und Wert gelten, ihren nie zur Ruhe kommenden Durchschnittscharakter auf und kontaminiert sie mit ihrem irrationalen Charakter, den Marx mit dem der imaginären Zahl Wurzel aus minus 1 vergleicht. Der «Barometerwechsel» der Austauschverhältnisse und das periodisch gewaltsame Sich-Geltend-Machen des Zusammenhangs des zusammenhangslos Betriebenen bilden nach Einsicht der Kritik der politischen Ökonomie die elementaren Prozessformen der kapitalistischen Wirtschaft. Weder Kritik noch Verteidigung der marxschen Ökonomiekritik gehen in der Regel auf diese Bewandtnis ein. Sie verfehlen damit schlicht das Terrain der marxschen Theorie. Und es ist just dieses Terrain, auf dem die kapitalistische Erfahrung auch heute noch täglich die Aktualität der Kritik der politischen Ökonomie erneuert. Der Fall des «real existierenden Sozialismus» könnte, nachdem der traumatische Stupor sich löst, der Beseitigung einer epistemologischen Barriere gleichkommen.

Erkenntnis wiederentdecken

Gegenwärtig kann vor allem der Kassensturz an den Weltbörsen zu denken geben. Ihn ohne die Begriffe der Kritik der politischen Ökonomie zu denken, nähme dem Denken alle Kraft und Fähigkeit, sich den Konjunkturen des Tages zu entziehen. Die «asiatische Krise», die mit der ähnlich klingenden «asiatischen Grippe» gemeinsam hat, dass sie sich in Wellen in andere Regionen ausbreitet, wird dann zur bloßen Finanzkrise, Quittung für ein Missmanagement, das den einen zu wenig, den andern zu sehr neoliberal vorkommt. Die Krise gibt dem Denken die Chance, inhaltlich gefüllte Kritik, die als Kritik zugleich Erkenntnis der Wirklichkeit ist, wiederzuentdecken. In der Krise wanken die idola fori, die Götzen der öffentlichen Meinung. Soeben noch der Schreckensname eines unaufhaltsam konkurrierenden Fortschritts, der der Epoche seinen Stempel aufprägt, steht «Japan» plötzlich für den gefährlichsten «Krankheitsherd» der Weltwirtschaft, sind die «Tigerstaaten» in lähmende «Depression» versunken. Die verdrängte imaginäre Zahl am Grunde der kapitalistischen Vergesellschaftung steht nun in drohender Schrift übergroß am Horizont. Mit Marx kann man denken, dass die «asiatische» Krise eine «kapitalistische Krise» ist und dass sich in der Finanzkrise der Zusammenhang des zusammenhangslos Betriebenen gewaltsam geltend macht. Mit Marx lässt sich gegen den Strom vor allem denken, dass der kontinentale Drift, der in der Krise Ausdruck findet, ausgehend von der Rechnung, die nicht aufgehen kann und die den Fortschritt zum Fortsturz durch den Notausgang «nach vorn» macht, sich in der Entwicklung der Produktionsweise bestätigt. Diese Entwicklung und ihre Krise schreien nach den marxschen Analysewerkzeugen: tendenzieller Fall der Profitrate aufgrund der proportionalen Reduzierung der lebendigen Arbeit, Extraprofit der den technischen Fortschritt Vorantreibenden, um diesem Effekt zu entgehen, mit einem Wort: permanente Revolutionierung der technischen Basis. Aber darin ist bereits der komplementäre Gegengedanke angedeutet: Wer vom tendenziellen Fall der Profitrate spricht, darf von den von Marx sogenannten «entgegenwirkenden Ursachen» nicht schweigen. Die beiden wichtigsten, untereinander zusammenhängenden, wenngleich nicht aufeinander reduzierbaren «entgegenwirkenden Ursachen» sind eben die durch Entwicklung der Technologie bewirkte proportionale Wertreduktion des Anlagekapitals und die Entwertung von Kapital oder Kapitalvemichtung. Diese Prozesse und die von ihnen ausgehende permanente Erschütterung aller gesellschaftlichen Lebensverhältnisse prägen unser Leben mit der Macht von Fakten, die sich in ihrer naturähnlichen Selbstverständlichkeit unsichtbar machen.

Repressiver Etatismus

Gegen solche Selbstverständlichkeit, die in der Entfremdung stehen bleibt, ist es wiederum fruchtbar, um das neuartige der gegenwärtigen und der heraufziehenden Krisen zu denken, wenn wir uns von der rnarxschen Frage in den Grundrissen inspirieren lassen, was aus einer Ökonomie wird, die sich, wie immer irrational, über Arbeit reguliert, wenn Arbeit im Zuge der Automation marginal wird. Doch ist Krisentheorie nicht gleich Zusammenbruchstheorie. Den Hinweis gibt eher der methodische Grundgedanke von Marx, bei Widersprüchen nach ihrer Bewegungsform und bei Schranken nach den Umgehungsmöglichkeiten zu fragen. Daher hat auch das geschichtliche Zifferblatt, auf dem man abgelesen hat, dass es sich bereits vor einer Generation, als der «Fordismus» triumphierte und der transnationale High-Tech-Kapitalismus noch in den Sternen stand, um «Spätkapitalismus» gehandelt habe, getrogen. Vor allem aber hat sich der Konterpart des phantasmatischen kapitalistischen Zusammenbruchs, die von Lenin einmal nach dem Paradigma der Deutschen Reichspost gedachte zentrale und direktive Planwirtschaft, in der Sprache der Perestrojka als befehlsadministratives Regime bezeichnet, nicht nur als begrenzt leistungsfähig erwiesen, sondern, was marxistisch mindestens ebensoviel zählt, als radikale Blockierung des Weges zu einer Gesellschaft der «assoziierten Produzenten» – denn so heisst arglos und in Wahrheit noch immer frühsozialistisch der Sozialismus bei Marx. Geboren aber wurde derart statt des marxschen Sozialismus eine staatliche Produktionsweise, ein repressiver Etatismus, der statt der «assoziierten Produzenten» die «Zersetzung des subjektiven Faktors» brachte. «Horizontale Kontakte», wie sie die zu spät aufbegehrenden Mitglieder der polnischen KP gefordert haben, also die Verständigung von Gesellschaftsmitgliedern oder gesellschaftlichen Gruppen über Gesellschaftsfragen ohne anordnende Dazwischenkunft des Staates bzw. der Parteiführung, war unter dieser Bedingung ein Verbrechen. So wurde, en gros, Vernunft zu Unsinn. Wenn es zu einer weltweiten Hegemonie des Neoliberalismus gekommen ist, so als Quittung für dieses strukturelle Versagen und das davon untrennbare Degradieren der Menschen. Auch der Unsinn des Neoliberalismus ist nicht ohne Vernunft: Gesellschaftliche Selbsttätigkeit zur Basis eines solidarischen Vergesellschaftungsprozesses zu machen, darin bestünde eines geschichtlichen Rätsels befreiende Lösung. Aber die Naivität der Erwartung, die der ersten Generation von Marxisten eigen war, verbietet sich angesichts der stalinistischen Erfahrung und der anderen, teils bis ins grausige Extrem getriebenen Gewaltmuster. Wo der neue Mensch aus dem Boden gestampft werden sollte, wurden die ernpirischen Menschen niedergetreten. Wo die Vermittlungen ausgeschaltet wurden, übernahrn direkte Herrschaft das Feld. Die Überwindung der bürgerlichen Demokratie fiel hinter diese zurück. Ein kluger griechischer Marxist hat darauf hingewiesen, daß zwar alle diese Formen das Gegenteil dessen darstellten, was Marx einmal ungezielt hat, daß aber die unmittelbare Weise, in der Marx die Assoziation der Produzenten anzielte, in blinder Dialektik dem extremen Gegenteil den Weg geebnet hat. Schon deshalb kommt ein unkritisches Anknüpfen an Marx nicht in Betracht. Zitate statt der Argumentation an der gegenwärtigen Sache und zwar mit geschichtlich reflektierten Begriffen – kommen rnarxistisch nicht in Frage, wenn das Epitheton ornans «marxistisch» kein Witz werden soll.

Dieser Artikel erschien zuerst in der «Zeitschrift für kritische Theorie» (8/1999).