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GNADENLOS LIBERAL

DIE MASCHINE DER SELBSTVERANTWORTUNG

Zur Geschichte der liberalen Ideologie
von Robert Kurz



Schon in seinem Namen nimmt der Liberalismus den Begriff der
"Freiheit" fuer sich in Anspruch. Das liberale Pathos beschwoert die
Eigeninitiative und die Selbstverantwortung des Individuums. Im ersten
Moment klingt das immer gut. Wer wollte diesen schoenen Begriffen
widersprechen? Aber natuerlich wissen wir als aufgeklaerte Geschoepfe der
Moderne, dass man den Worten nicht trauen darf. Als George Orwell seine
Negativ-Utopie "1984" schrieb, machte er keineswegs zufaellig eine
oeffentliche Sprache zum Thema, deren Begriffe grundsaetzlich das
Gegenteil von dem sagen, was sie offiziell bedeuten. Soweit es sich dabei
um eine rhetorische Form der Beschoenigung handelt, ist diese
Ausdrucksweise schon aus der Antike bekannt und wird "Euphemismus"
genannt. Die alten Griechen bezeichneten ihre daemonischen Goettinnen der
Rache, deren Haare zuengelnde Schlangen waren, aus purer Angst als "die
Wohlgesinnten". Vielleicht ist der Begriff des Liberalismus in einem
aehnlichen Zusammenhang entstanden.

Um die Wahrheit ueber eine Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens
herauszufinden, empfiehlt es sich immer, bis zu ihren Urspruengen
zurueckzugehen. Der Liberalismus entstand als Opposition gegen die
fruehmodernen Militaerstaaten der absolutistischen Monarchien und
Fuerstentuemer im 17. und 18. Jahrhundert. Aber in derselben Zeit gab es
auch noch eine andere, viel groessere Opposition der Volksmassen, die mit
dem Liberalismus gar nichts zu tun hatte. Und es ist sehr
aufschlussreich, diese beiden Formen der Opposition zu vergleichen.

Der Absolutismus hatte damals die erste Stufe der modernen
kapitalistischen Produktionsweise herausgebildet, indem er fuer die
Beduerfnisse seiner riesigen Militaerapparate und Buerokratien die
moderne Markt- und Geldwirtschaft entfesselte. Von der grossen Mehrheit
der Menschen wurde diese Entwicklung als ungeheuerliche und obszoene
Repression empfunden. Denn der alte "einfache" Feudalismus hatte die
baeuerlichen und handwerklichen Produzenten der agrarischen
Naturalwirtschaft nur aeusserlich angezapft: Sie mussten den Feudalherren
einen kleinen Teil ihrer Produkte abgeben oder bestimmte Arbeiten fuer
sie verrichten. Ansonsten aber wurden sie vom Feudalismus weitgehend in
Ruhe gelassen. Auf ihren Feldern und in ihren Werkstaetten konnten sie
sich nach eigenem Gutduenken betaetigen, und sie hatten ihre eigenen
Institutionen der lokalen Selbstverwaltung.

Der Absolutismus aber zerstoerte diese begrenzte Autonomie und wollte
die Menschen seiner zentralistischen Buerokratie unterwerfen, um sie bis
aufs Blut auszusaugen und sie zum "Menschenmaterial" einer total
fremdbestimmten abstrakten "Arbeit" unter dem Gesetz des Geldes zu
machen. Gegen diese Zumutung setzten sich die europaeischen Bauern und
Handwerker mehr als dreihundert Jahre lang bis zur Mitte des 19.
Jahrhunderts erbittert zur Wehr; und wenn sie in ihren zahllosen Revolten
der Fahne der "Freiheit" folgten, dann meinten sie damit immer ihre
soziale Autonomie sowohl gegen die Uebergriffe der absolutistischen
Buerokratie als auch gegen die Zwaenge der neuen anonymen Maerkte. Sie
wollten nicht bis auf die Haut von einem fremden Prinzip bedraengt
werden, sondern die Kontrolle ueber ihre unmittelbaren Lebensbedingungen
behalten.

Der Liberalismus dagegen war die Ideologie der oekonomischen "Macher"
auf dem Boden der vom Absolutismus entfesselten anonymen Markt- und
Geldwirtschaft selbst. Es waren die neuen, unter dem Absolutismus
aufbluehenden Finanzkapitalisten, die grossen Uebersee-Haendler und
Kolonial-Spekulanten, die vom Staat beauftragten Betreiber der
Arbeits-Zuchthaeuser und Gefaengnis-Manufakturen sowie die Besitzer oder
Verwalter der Latifundien fuer den entstehenden agrarischen Weltmarkt,
die sich den ersten liberalen Ideen zuwandten. Mit dem sozialen
Freiheitsbegriff der revoltierenden Bauern und Handwerker hatten sie
keinerlei Beruehrung. Im Gegenteil stimmten sie mit dem Absolutismus
vollstaendig ueberein in dem Interesse, die Masse der Produzenten zum
"Menschenmaterial" der Weltmaerkte zu machen, sie von der Kontrolle ueber
die Produktionsmittel zu enteignen und zu blossen "Arbeitnehmern" unter
dem Diktat des Investitionskapitals zu degradieren.

Deswegen waeren die fruehen Liberalen nicht einmal im Traum auf die
Idee gekommen, dass das "Menschenmaterial" der Marktwirtschaft irgendein
eigenes Recht auf "Freiheit" haben koennte. Unter ihnen gab es sogar
Sklavenhalter und Grossgrundbesitzer, die gewaltsam Bauern von ihrem Land
verjagten, um es in Viehweide zu verwandeln. Wenn sie von "Freiheit"
sprachen, dann meinten sie damit immer nur ihre eigene oekonomische
Bewegungsfreiheit als Investoren und "Unternehmer", die sie durch die
staatsbuerokratische Bevormundung der absolutistischen Apparate eingeengt
fuehlten. Ihre Opposition gegen den Absolutismus hatte also einen ganz
anderen Charakter als der soziale Widerstand der Produzenten. Deshalb
machten sie auch immer gemeinsame Sache mit dem Absolutismus gegen die
sozialen Revolten "von unten". Der Konflikt der urspruenglichen liberalen
Ideologie und ihrer Klientel mit dem "Gottesgnadentum" des
absolutistischen fruehmodernen Staates war immer nur ein relativer,
innerkapitalistischer Familienstreit um die weitere Entwicklung der
gemeinsamen Geschaeftsgrundlagen.

Schon in dieser fruehen Kritik der auf ihre buergerliche "Freiheit"
bedachten kapitalistischen Herren-Individuen an der gesellschaftlichen
Kontrolle durch den autoritaeren Herren-Staat ist allerdings eine
eigenartige logische Verkehrung der Standpunkte festzustellen, die auf
den irrationalen Charakter beider Seiten verweist. Nicht nur der
fruehmoderne und monarchische, sondern jeder Staatsabsolutismus (auch der
spaetere sozialistische und faschistische) will zwar einerseits die
oekonomische Betaetigung der Individuen einer umfassenden staatlichen
Kontrolle unterwerfen; andererseits erhebt er damit aber auch den
Anspruch, dass die menschliche Subjektivitaet, der menschliche Wille (in
Gestalt des Monarchen, der Regierung, des "Fuehrers" oder des
Zentralkomitees) gewissermassen "souveraen" gegenueber dem System von
Markt und Geld sein soll. Umgekehrt vertritt der Liberalismus zwar
einerseits die oekonomische "Eigeninitiative" des kapitalistischen
Individuums gegenueber dem Staat; gerade dadurch aber wird andererseits
der Anspruch einer Souveraenitaet des menschlichen Willens gegenueber dem
System von Markt und Geld restlos aufgegeben. Dieses System
verselbstaendigt sich also, es wird zum blinden Gesetz des Handelns und
der Mensch zum Spielball "oekonomischer Strukturen" und ihrer ziellosen
Dynamik.

Schon Adam Smith, der Begruender der modernen oekonomischen Theorie
auf liberaler Grundlage, verherrlichte das System der totalen
Marktwirtschaft als eine Art "goettliche Maschine", gesteuert durch den
blinden "selbstregulativen" Mechanismus der Preise. Analog zum
mechanistischen physikalischen Weltbild von Isaac Newton, der die Natur
als eine einzige grosse Weltmaschine betrachtet hatte, verstand Smith die
Oekonomie als automatische Weltmaschine der Gesellschaft, deren
Raederwerk sich die Menschen unterwerfen muessten. In der Physik ist das
mechanistische Weltbild inzwischen schon lange ueberwunden, in der
Oekonomie aber steht die Menschheit immer noch (und heute mehr denn je)
auf dem mechanistischen Standpunkt des 18. Jahrhunderts, der sich in den
Formen der gesellschaftlichen Reproduktion "objektiviert" hat. Der
Liberalismus ist auf diese Weise durch einen ungeheuren Widerspruch
gekennzeichnet: Die gesellschaftliche "Freiheit" des Individuums ist
immer identisch mit der bedingungslosen gemeinsamen Kapitulation aller
Individuen vor einer blinden, nicht verhandelbaren
Gesellschafts-Maschine, dem saekularisierten Baal des Kapitals.

Man kann es auch so sagen: Durch seine masslosen Ansprueche an die
Gesellschaft hat der Absolutismus das subjektlose Monstrum eines
verselbstaendigten oekonomischen Automatismus hervorgebracht, das er
selbst nicht mehr beherrschen konnte und das sich schon bald seiner
"Souveraenitaet" entzog. Der Liberalismus, der vordergruendig die
"Freiheit" des Individuums einklagte, hat in Wirklichkeit nur die
Verselbstaendigung dieser "Maschine" exekutiert. Die Liberalen sind
nichts anderes als die Priester eines automatischen Goetzen, der dem
"Stoffwechselprozess des Menschen mit der Natur" (Marx) einen
irrationalen Ablauf nach mechanischen "Gesetzmaessigkeiten" diktiert.

Der Gegensatz von Liberalismus und Staatsabsolutismus ist auf keiner
Seite emanzipatorisch besetzbar; er reflektiert immer nur die
gesellschaftlichen Paradoxien des modernen warenproduzierenden Systems:
Entweder muss sich die menschliche "Souveraenitaet" gegenueber der
Marktmaschine als autoritaere Kontrolle des Staates ueber die Individuen
maskieren, oder die "Freiheit" der Individuen muss sich als totale
Selbstauslieferung des menschlichen Willens an den blinden Lauf der
Marktmaschine maskieren. Fuer die Mehrheit der Menschen ist der Gegensatz
von Absolutismus und Liberalismus irrelevant: Es laeuft fuer sie auf
dasselbe hinaus, ob sie von einer Staatsbuerokratie oder von den
subjektlosen Mechanismen des Marktes drangsaliert und gedemuetigt werden.
Diese Erfahrung haben in den letzten Jahren die Menschen in Osteuropa
gemacht, die vom Regen der staatssozialistischen Diktatur in die Traufe
der sozialen Degradation durch den "freien" Markt kamen.

Im 18. und fruehen 19. Jahrhundert hatte der Liberalismus das
Problem, dass er nicht nur den staatsbuerokratischen Anspruch des
Absolutismus beseitigen musste, sondern auch die Ansprueche der
Volksmassen auf soziale Autonomie. Es wurde bald klar, dass es unmoeglich
war, die Menschen allein durch Repression, Polizei, Militaer, Galgen und
Gefaengnisse zu zwingen, sich selber zum Material der "Arbeitsmaerkte" zu
machen und die eigene abstrakte Arbeitskraft den Gesetzen von Angebot und
Nachfrage zu unterwerfen. Deshalb begann der Liberalismus, die Repression
mit Volks- und Industrie-"Paedagogik" zu verbinden. Hatten die ersten
Liberalen den Begriff der "Selbstverantwortung" nur auf sich selbst als
"Macher" eines individuellen Kapitalismus bezogen, so wurde dieser
Begriff nun auch auf das "Menschenmaterial" ausgedehnt. Darin liegt ein
ungeheurer Zynismus: Die von jeder Kontrolle ueber ihre eigenen
materiellen und sozialen Lebensbedingungen restlos enteigneten Menschen
sollen "selbstverantwortlich" gerade darin sein, dass sie sich freiwillig
zum "Arbeitsvieh" der Maerkte machen und wuerdelos nach "Arbeitsplaetzen"
gieren, selbst unter den miserabelsten Bedingungen.

Einer der grossen Ideengeber fuer diese liberale "Volkspaedagogik"
wurde Jeremy Bentham (1748-1832), der Begruender einer "Philosophie der
Nuetzlichkeit". Das "Streben der Menschen nach Glueck" sollte uebersetzt
werden in den Impuls, alle Aeusserungen des Lebens in den Zweck der
Kapitalverwertung zu integrieren. Um die Menschen dahin zu bringen, ihr
eigenes "Glueck" ausgerechnet darin zu sehen, sich in der
kapitalistischen Tretmuehle "nuetzlich" machen zu koennen, erfand Bentham
eine besondere Zuchtanstalt, das sogenannte Panoptikon.

Was ist das Panoptikon? Bentham sagt selber, dass es sich um ein
Prinzip handelt, das geeignet sei fuer Gefaengnisse ebenso wie fuer
Fabriken, Bueros, Krankenhaeuser, Schulen, Kasernen, Erziehungsheime usw.
Architektonisch besteht das Panoptikon aus einem kreisrunden
Gebaeudekomplex, in dessen Zentrum sich die (mit Vorhaengen versehene)
Loge des "Inspektors" und an dessen Peripherie sich die voneinander
abgetrennten Zellen der Gefangenen oder Zoeglinge befinden. Viele
Gefaengnisse und "Arbeitshaeuser" des 19. Jahrhunderts wurden nach diesem
Muster gebaut. Der raffinierte Zweck der Anordnung ist es, dass die
Gefangenen sich permanent beobachtet und kontrolliert fuehlen, ohne zu
wissen, ob die Loge des "Inspektors" wirklich besetzt ist. Die Insassen
sollen sich allmaehlich "von sich aus" und automatisch so verhalten, als
ob sie beobachtet wuerden, selbst wenn das gar nicht der Fall ist.

Das Panoptikon, fuer Bentham ein Modell der "idealen"
marktwirtschaftlichen Gesellschaft, war nichts anderes als eine liberale
"Selbstverantwortungs-Maschine", um die Individuen fuer marktkonformes
Verhalten zu konditionieren. Die Mechanismen der Unterwerfung und
Selbstverleugnung sollten zur "inneren Verhaltensspur" des Menschen
werden. Diese liberale Erziehungsdiktatur objektivierte sich in
architektonischen und organisatorischen Strukturen, in Zeichen und
psychischen Mechanismen. Die kapitalistischen Imperative, so schrieb der
Philosoph Michel Foucault in seinem Buch "ueberwachen und Strafen" (1976)
ueber das Panopticon, erscheinen "in einer konzertierten Anordnung von
Koerpern, Oberflaechen, Lichtern und Blicken,...in einer Apparatur, deren
innere Mechanismen das Verhaeltnis herstellen, in welchem die Individuen
gefangen sind". Bentham feilte ununterbrochen an der Vervollkommnung
seines sozialen Apparats der Dressur von Menschen. Er ist der Erfinder
der Isolationshaft, der Identitaetskarten, der Namensschilder und des
Grossraumbueros. 1804 schlug er vor, alle Englaender mit einer Nummer zu
taetowieren.

Gleichzeitig war Bentham gluehender Demokrat. Vom Dienstboten bis zum
Minister sollten alle gleichermassen mitwirken an der "oeffentlichen
Selbstkontrolle", das heisst sich selbst und andere beobachten, um
gemeinsam tagtaeglich die Uhr der Selbstunterdrueckung aufzuziehen. Kant,
der groesste Philosoph der Aufklaerung, hatte gefordert, der Mensch solle
"herausgehen aus der selbstverschuldeten Unmuendigkeit und sich seines
Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen". In der Konsequenz von
Bentham wird der geheime Sinn dieses liberalen Imperativs deutlich: jeder
sein eigener Polizist, Erzieher, Gefaengniswaerter und Antreiber! Die
selbstregulative Weltmaschine des Marktes braucht selbstregulative,
"automatisch" sich anpassende Individuen.

Bentham hat Orwells Alptraum von "1984" um fast 200 Jahre
vorweggenommen, aber als reales Projekt. Ironischerweise versteht die
liberal-demokratische Welt heute "1984" als Warnung vor dem (staatlichen)
Totalitarismus, ohne zu erkennen, dass sie selber laengst das Produkt
einer totalitaeren liberalen Gehirnwaesche ist. Heute verhalten wir uns
alle "selbstregulativ" als Roboter der marktwirtschaftlichen
Selbstverantwortung. Jener aeltere Begriff von "Freiheit" dagegen, der
auf soziale Autonomie zielte, gilt als vorindustriell und primitiv.
Natuerlich koennen und wollen wir nicht zurueck zu einer beschraenkten
agrarischen Lebensweise von Bauern und Handwerkern. Aber musste der Preis
des Fortschritts die soziale Entwuerdigung des Menschen zu einem
"Pawlowschen Hund" der Marktmaschine sein? Ist die Menschheit wirklich
unfaehig, die modernen Produktivkraefte durch soziale Selbstbestimmung
und bewusste Verstaendigung zu regulieren, statt sich einem blinden
oekonomischen Automaten auszuliefern? Der Absolutismus des Marktes ist
keine Alternative zum Absolutismus des Staates. Wir haben die Aufgabe,
fuer das 21. Jahrhundert den alten Begriff der "sozialen Freiheit" gegen
die "Orwellsche Freiheit" des Liberalismus neu zu erfinden.

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