Zum Beitritt der
DDR am 3.
Oktober 1990
Kritisches von gestern und heute
ausgewählt
von
der TREND-Redaktion
10/2020
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zweiteroktober90
Angekündigt und absehbar Leseauszug
Die Angriffe vom 2. und 3. Oktober 1990
hatten sich im Vorfeld angebahnt und
waren entsprechend absehbar. In den
Monaten zuvor hatten Neonazis am Rande
gesellschaftlicher Großereignisse wie
dem Himmelfahrtstag oder der Fußball-WM
immer wieder Linke und Migrant:innen
attackiert. Zudem hatten sie für den 2.
und 3. Oktober 1990 solche Angriffe
konkret angekündigt. Sowohl der Staat
als auch die Bevölkerung als auch die
Presse wussten also davon und konnten
sich darauf einstellen.
Ostsee-Zeitung, Nr. 230, 2.10.1990,
S. 4.
In einem
Aufruf vom September 1990 zu einer
antinationalistischen Demonstration am
3. Oktober werden die Absichten der
Neonazis von den Organisator:innen der
Demonstration klar benannt: „Das ist
umso wichtiger, da auch mehrere
Faschisten-Gruppen an diesem Tag
Aufmärsche planen. Außerdem wollen sie
diejenigen überfallen, die in ihren
Augen ‚undeutsch‘ sind. Aus diesen
Gründen ist am 3. Oktober eine Demo zum
Alexanderplatz geplant, der ein Zentrum
dieser Jubelfeiern sein wird. Dort
werden wir uns auch dem Aufmarsch der
Neonazis entgegenstellen.“(2)
Die Behörden machen
deutlich, dass sie gegen rechte
Gewalt nicht einschreiten können
oder wollen (#2).(3)
Die Behörden waren ebenfalls
informiert, gaben aber zumeist zu
verstehen, dass sie nicht einschreiten
können oder werden. In Berlin wurde eine
PDS-Kundgebung abgesagt, da „die Partei
durch das Innenministerium und Berliner
Behörden gewarnt worden [sei], daß die
Sicherheit nicht gewährleistet werden
könne.“(4) In
Jena rieten die Behörden den
Hausbesetzer:innen, ihr Haus aufzugeben,
da sie den Schutz nicht gewährleisten
könnten: „Am 2. Oktober dann, am Abend
vor der deutschen Einheit, verließen die
‚Autonomen‘ ihr Domizil. Der Dezernent
Stephan Dorschner riet ihnen dazu, da
Magistrat und Polizei erneut Gewalttaten
befürchteten,"(5).
In Zerbst erklärte die Polizei über eine
Pressemitteilung in der Lokalzeitung:
„Informiert ist die Volkspolizei, daß es
in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober zu
einem Zusammenstoß einer großen Anzahl
rechtsgerichteter Jugendlicher aus
Zerbst, Roßlau und Magdeburg mit
linksgerichteten Jugendlichen aus Zerbst
in der Kötschauer Mühle kommen soll. Das
Zerbster VPKA sieht sich auf Grund
seiner zur Verfügung stehenden Kräfte
jedoch außerstande, dort einzugreifen."(6)
.
In Hoyerswerda war die Polizei ebenfalls
durch konkrete Drohungen über die
geplanten Überfälle u.a. auf die
Wohnungen der mosambikanischen
Vertragsarbeiter:innen informiert. Diese
wurden schlicht angewiesen, ihre
Wohnungen nicht zu verlassen.
(7).
In Rostock wurden die potenziellen Opfer
der Angriffe immerhin in Sicherheit
gebracht: „Rechtsradikale Übergriffe
befürchtend, sind bereits zu
Wochenbeginn 25 ausgesiedelte
sowjetische Juden an einen unbekannten
Aufenthaltsort gebracht worden.“(8)
Die so im Vorfeld angekündigte
Zurückhaltung (im doppelten Wortsinn)
der Polizei und des Staates hatte eine
zweifache Signalwirkung: Zum einen wurde
den Neonazis zu verstehen gegeben, dass
sie freies Feld haben. Zum anderen wurde
den potenziellen Opfern der Angriffe
klar gemacht, dass sie sich selbst
schützen müssen.
Dementsprechend bereiteten sich in
besetzten Häusern in ganz Ostdeutschland
die Besetzer:innen auf die Angriffe vor:
Sie verrammelten und verbarrikadierten
ihre Häuser, vernetzten, koordinierten
und bewaffneten sich. In der
Ostsee-Zeitung hieß es: „In mehreren
besetzten Häusern in Ost-Berlin wurden
in Erwartung von Auseinandersetzungen
Türen und Fenster vernagelt.
"(10)
Für Potsdam lässt sich nachlesen: „In
der Nacht zum ‚Tag der Deutschen
Einheit‘ 1990 erwarteten
Hausbesetzer_innen einen Überfall auf
das alternative Potsdamer Kulturzentrum
‚Fabrik‘. Ein damals Anwesender
beschreibt die Situation: ‚Vor dem Tor
Wachposten. […] Auf dem Hof Punks,
bewaffnet mit Knüppeln, mit denen sie
kampfeslustig oder nervös klappern. In
der Fabrik gedämpfte Stimmung. Leise
Musik, Gruppen, die beieinander stehen
oder sitzen.‘“(11)
Fußnoten:
2)
Demo-Aufruf „Gegen ihr
Deutschland“ vom September 1990,
in: Ordner „Berlin. Flugblätter.
August 1990 – Dezember 1990“,
Apabiz.
3)
Volksstimme, Lokalausgabe Zerbst,
2.10.1990.
4)
„PDS-Kundgebung abgesagt“, in:
Ostsee-Zeitung, Nr. 230, 2.10.90, S.
4.
5)
„Ein Traum wurde radikal
zerschlagen. Zentrum der linken
Autonomen ‚aufgemischt‘ von
Rechten“, in: Thüringer
Landeszeitung, 23.10.1990. S. 5.
6)
„Auf den 3. vorbereitet“, in:
Zerbster Volksstimme, 2.10.90.
7)
„Der rassistische Terror in
Hoyerswerda im Jahr 1990“, in:
Buchladen Georgi Dimitroff (Hrsg.):
Der Nazi-Pogrom in Hoyerswerda,
September 1991,S. 28,
8)
„Randale an der Ostsee“, in:
Ostsee-Zeitung, Nr. 232, 4.10.1990,
S. 3.
9)
Ostsee-Zeitung, Nr. 231, 3.10.1990,
S. 2.
10)
„Erste Zwischenfälle am Rande der
Feiern“, in: Ostsee-Zeitung, Nr.
231, 3.10.90, S. 2.
11)
Christin Jänicke, Benjamin
Paul-Siewert (Hrsg.): 30 Jahre
Antifa in Ostdeutschland.
Perspektiven auf eine eigenständige
Bewegung, 2019, S. 56.