Zum Beitritt der DDR
am 3. Oktober 1990

Kritisches von gestern und heute

ausgewählt von
der TREND-Redaktion

10/2020

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onlinezeitung

Das Ende der Geschichte oder die Geschichte vom Ende
Mobi-Beitrag zum Kongress re:kapitulation vom 02. bis 04.10.2020

Alles irdische ist endlich und irgendwann wird sogar die Erde selbst von der Sonne verschlungen. Und so ist es nur konsequent, dass auch die menschliche Geschichte an ihr Ende geraten muss. Es liegt der Gedanke nahe, dass dieses Ende mit dem Untergang unserer Spezies selbst zusammenfällt. Jedoch gibt es Leute die behaupten, wir hätten das Ende unserer Geschichte schon längst erreicht! Die Menschheit sei bereits in dem seligen Zustand, in welchem sie auf eine weitere Entwicklung der grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen nicht mehr zu hoffen braucht! Als prominentester Vertreter dieser Auffassung ist der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama zu nennen, der im Jahr 1992 das Bonmot vom „Ende der Geschichte“ prägte, das gewissermaßen zu einem bundesrepublikanischen Dogma der staatlichen Geschichtsaufarbeitung avancierte: Das Zeitalter der Extreme sei vorbei und wir sind nun endlich angekommen. Diese Position ist seltsam. Denn während das Publikum Tag ein Tag aus mit Nachrichten vom drohenden Klimakollaps, Revolutionen und Konterrevolutionen, verheerenden Bürgerkriegen, ökonomischen Verwüstungen, Pandemien und individuellem Elend behelligt wird und den Kopf schütteln mag über den Wahnsinn, der sich vor dessen Augen abspielt, möchte man es darüber belehren, dass nichts Grundlegendes mehr passieren wird. Nun gut. Aber wann sind wir nach dieser Auffassung in das Zeitalter der Starrheit eingetreten? Ganz klar: Mit der Beseitigung des angeblich letzten vermeintlichen Widerspruches zur Dominanz des kapitalistischen Staatenblocks mit seiner „freien“ Marktwirtschaft. Mit dem Untergang der DDR, der UDSSR, kurzum: des Realsozialismus. Die Geschichte wird nicht nur von den Siegern geschrieben – über deren Ende, bestimmen sie offenbar ebenfalls.

Es müssen an dieser Stelle nicht viele Wort über die tiefgreifenden und zum Teil verheerenden Konsequenzen verloren werden, welche die sogenannte Wende für die millionenfachen Lebensverhältnisse der ehemaligen DDR-Bürger_innen hatte. Es reicht fest zu halten, dass die Herrschaft des „sozialistischen“ Eigentums und seiner stalinistischen Führung durch die Herrschaft des Privateigentums und seiner bürgerlichen Führung abgelöst wurde. Auf Cholera folgt Pest. Und während die neue Führung den Fall der Mauer – das Repressions- und Schutzinstrument des sozialistischen Eigentums – frenetisch feiert, schickt sie ihre Sicherheitsdienste und Grenzschutzbeamten auf Patrouille, macht es sich hinter den Mauern und Zäunen ihrer Privatanwesen heimelig, riegelt ganze Kontinente ab, und wird nicht müde zu beschwören, dass die Freiheit des Privateigentums die Bedingung der Freiheit überhaupt sei. Der große kalte Krieg der Blöcke wurde abgelöst durch den immerwährenden Krieg der Privateigentümer und deren Interessensvertreter_innen. Dieser Krieg reicht vom klassischen Nachbarschaftsstreit, über den „Kampf um den Arbeitsplatz“ bis zum Kampf gegen „illegale Einwanderung“, oder besser, dem Krieg gegen Arme und Bedürftige im Allgemeinen. Für wen dieser elende Zustand dem Ende der menschlichen Geschichte gleichkommt, der verwechselt die Geschichte mit seinem Verstand und wenn das nicht, mit seinem Klasseninteresse.

Dass nicht die Geschichte am Ende ist, sondern vielmehr die Geschichtserzählung dieses Staates, zeigt sich schlagend daran, dass auch 30 Jahre nach dem Sturz der DDR-Führung dieser Fakt eine der zwei Säulen der offiziellen BRD-Ideologie bildet.

Säule eins: Wir sind keine Nazis (mehr)! – immerhin, wenn auch allerhöchstens halb wahr.

Säule zwei: Wir haben die DDR überlebt! – und das, obwohl wir sie noch 1983 und 1984 mit Milliardenkrediten gestützt haben. Chapeau!

Dieser kümmerliche Staatsmythos ist noch erbärmlicher, wenn man bedenkt, dass es heutzutage keine auch nur im Ansatz wirkmächtige Opposition gibt, die eine sozialistische Gesellschaft fordert, geschweige denn die DDR zurückhaben möchte. Im Gegenteil: Die Bürger_innen, um welche sich die Bundesoffiziellen sorgen müssen, werfen ihnen gerade vor zu viel DDR und zu wenig Egoist zu sein. Da wird beispielsweise von der „Staatsratsvorsitzenden“ Merkel fabuliert, wo sie eine nüchterne Sachwalterin der Kapitalherrschaft vor sich haben. Eine überdies, unter deren Regie die hauptsächlichen Kriegsziele des Deutschen Reiches im I. Weltkrieg verwirklicht wurden. [1]

Viel mehr als den Triumph über den u.a. an den eigenen Widersprüchen zugrunde gegangen Realsozialismus, kann dieser Staat nicht für sich verbuchen.

Insbesondere keine soziale und keine ökonomische Sicherheit. Diese beiden Fundamente eines guten Lebens wurden ordentlich zurechtgestutzt um einerseits das Privateigentum von der Ballast der „sozialen Verantwortung“ zu befreien und andererseits die vom Sozialismus befreite Arbeiter_innenklasse mit Agenda 2010 auf ihre minderwertige Rolle als Humankapital und devote Bittsteller_innen ein zu polen.

Damit aber nicht genug. Der Raub- und Rachefeldzug des (Deutschen) Kapitals gegen die „soziale Verantwortung“ war und ist begleitet von einer neuen „internationalen Verantwortung“. Seitdem man sich des offensichtlichen Brandmahls des Deutschen Vernichtungskrieges entledigen konnte und endlich als „einig Vaterland“ wieder zum Tagesgeschäft übergehen durfte, darf die deutsche Beteiligung an Militärabenteuern ebenfalls kein Tabu mehr sein. Wobei man die Deutschen Truppen nunmehr wegen und nicht mehr für oder trotz Auschwitz mobilisiert. Das klingt auch gleich viel humaner. Und so darf der Meister der Aufarbeitung endlich wieder Kapitalinteressen militärisch stützen und durchsetzen – aber diesmal alles ganz rechtstaatlich und auch wirklich nur im Interesse der europäischen Gemeinschaft, ja der Vökerverständigung überhaupt! Diese neue internationale „Verantwortung“ schließt auch insofern konsequent an deutsche Traditionslinien an, als dass es sich abermals um alles, nur nicht um siegreiche Militäroperationen handelt: Kosovo, Afghanistan, Senegal, Mali, Südsudan, Syrien. Und wer aus diesen Elendsregionen abhauen will, den erwartet bereits die Deutsche Kriegsmarine im Mittelmeer und der deutsche Bundespolizist im Auffanglager.

Es bleibt in dieser lockeren Aufzählung der bundesrepublikanischen Errungenschaften der letzten 30 Jahre noch die europäische Integration zu erwähnen. Der naive Versuch die Deutsche Dominanz durch wirtschafts- und währungspolitische Einbindung zu fesseln oder sogar zu brechen ist gründlich gescheitert. Während das Deutsche Kapital seine feindlichen EU-Brüder in Grund und Boden konkurriert und sich periodisch als Weltmeister der Weltmarktschlacht rühmt und gerade deshalb den europäischen Zusammenhalt beschwört, ist es unter keinen Umständen bereit seine ruinierten Bundesgenossen an diesem wirtschaftlichen Erfolg teilhaben zu lassen. Dies widerspricht nämlich den Gesetzen des Warentausches – fiat iustitia et pereat mundus [2]. Und so zwingt man seinen europäischen Freunden verheerende Sparmaßnahmen auf, belehrt sie über ihre Dekadenz und fordert sie dazu auf ihre Arbeiter_innen ebenso schäbig sozial zu reformieren, wie man es hierzulande längst gewohnt ist. Wir werden sehen, welche gesellschaftlichen Eruptionen diese Dynamik noch bereithalten wird.

Unter diesen Umständen ist es nur zu verständlich, dass die Bundesoffiziellen mitsamt ihren Hofchronist_innen Daten wie den „Tag der Deutschen Einheit“ so überschwänglich feiern und ihres tatsächlichen historischen Gehalts berauben. Man flüchtet sich halt gerne in weltfremde Nostalgie, wenn man weiß, dass es in der Gegenwart mächtig schiefläuft und sie im Grunde nicht zu ertragen ist.

Unter diesen Umständen wird ebenso die Ansicht verständlich, dass mit der Deutschen Einheit die deutsche – und mit ihr die menschliche – Entwicklung, in ihr Endstadium gelangt sei. Denn in jeder Herrschaftsform wird immer dann das Ende des bis dahin notwendigen Kampfes um die Herrschaft verkündet, wenn die Bedingungen ihrer eigenen hergestellt sind; gerade weil alle wissen, dass in Wahrheit nichts zu Ende ist. Wie sehr sich dieses Wissen aufgrund der desolaten Lage mittlerweile vor das offizielle Bewusstsein schiebt, zeigt nicht zuletzt der amüsante Umstand, dass unser Heimatminister Seehofer die pompöse Einheitsfeier in der Etatplanung glatt vergessen hatte.

Von einer solchen Geschichte vom Ende muss sich jeder denkende Mensch mit Blick auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse abgestoßen fühlen. Selbst Herr Fukuyama möchte in Anbetracht der Weltlage mittlerweile falsch verstanden worden sein. So habe er das alles gar nicht gemeint. Er habe lediglich Karl Marx kritisieren wollen, der behauptet habe, der Marxismus sei das Ende der Geschichte. [3] Nichts ist alberner und verkehrter als das. Der Karl Marx den er wohl meint, hat einerseits von sich selbst behauptet, dass er kein Marxist sei. Und anderseits ist dieser Marx ausdrücklich der Ansicht, dass mit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise „die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“ und nicht deren Geschichte abgeschlossen sei. [4] Für ihn machen wir tatsächlich noch überhaupt keine eigene Geschichte, sondern werden umgekehrt von ihr getrieben und gemacht. Solange das menschliche Handeln von unpersönlichen Mächten wie etwa „dem Marktklima“ abhängig ist und ganze Staatenverbände bereit sind, dieser modernen Gottheit Menschenopfer zu liefern; so lange nicht die individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse darüber entscheiden, was gemacht und getan wird, sondern umgekehrt ein totes Ding wie das Geld diktiert, wer was tut und welches Bedürfnis im welchem Umfang befriedigt werden kann, solange gestalten die Menschen den Gang ihrer Entwicklung nicht bewusst und machen eben deshalb keine Geschichte aus freien Stücken. Sie stehen – im besten Falle fassungslos und nachdenklich – immer wieder vor den desaströsen Resultaten ihres vergangenen Handelns.

Für einen wie Marx hat die Zukunft sehr viel mehr zu bieten als den alltäglichen Kampf und das immergleiche Grauen, dass die Gesellschaft der Privateigentümer für die Mehrheit auf diesem Planeten bedeutet. Und auch wir hoffen und treten dafür ein, dass sie mehr bereit hält, als die hohlen und verlogenen Phrasen über Einigkeit und Recht und Freiheit, in der wir angeblich leben.

Denn wir wissen, dass es keine Einigkeit geben kann, solange die Mehrheit Arm und die Minderheit reich sein muss. Wir wissen, dass es keine Gerechtigkeit geben kann, solange das Recht diesen Gegensatz schützt. Und wir wissen, dass es solange keine Freiheit geben kann, solange Menschen massakriert und drangsaliert werden, weil ihre schicksalhafte Zugehörigkeit zu einem Staatsmoloch mehr zählt, als ihre Bedürftig- oder Hilflosigkeit. Und da wir wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland diesen ungeheuren Wahnsinn für ihre Fortexistenz braucht, sagen wir nach 30 Jahren Deutscher Einheit:

Der Anfang der Geschichte bedeutet das Ende von Deutschland.

Anmerkungen

1) „Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventl. Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.“ – das „Septemberprogramm“, vorgelegt vom Reichskanzler Bethmann Hollweg am 09. September 1914. Vgl. Ulrich Cartarius (Hrsg.): Deutschland im Ersten Weltkrieg. Texte und Dokumente 1914–1918., S. 181f. (Dok. Nr. 126), München 1982.
2) Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde.
3) Vgl. https://www.handelsblatt.com/arts_und_s … acV12b-ap1 
4) Karl Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 8f.

DER KONGRESS

In Zeiten, in denen die faschistoiden Elemente die Gesellschaft immer weiter durchdringen, die Zumutungen der Konkurrenz immer stärker auf die Menschen drücken, in denen im symbolträchtigen Potsdam mit dem Wiederaufbau der Garnisonkirche oder Verhandlungen mit den »Hohenzollern« über Rückgabeansprüche die Reaktion bedenklich Raum gewonnen hat und die AfD und andere Nazis unerbittlich zivilgesellschaftliche Organisationen, Ideen, und Projekte angreifen – wollen und können wir, als Teil einer progressiven Linken, die belästigenden Feierlichkeiten zur deutschen Einheit nicht unwidersprochen lassen.

Zu erwarten und vor allem zu fürchten ist eine Neuauflage des Mythos eines wiedergutgewordenen Deutschlands mit all seinen Weltmeisterschaften und frohem Zukunftsblick. Mit den Mitteln der Kritik planen wir vom 02. bis 04.10.2020 einen kleinen Kongress, der jenen Stimmen Raum für Rede und Podien geben soll, die sich diesem nationalen Mythos widersetzten. Dabei gilt unsere Solidarität den Opfern der bestehenden Verhältnisse und Erzählungen. Unser Ansatz muss ein negatorischer bleiben.

In Planung sind dabei verschiedene Podien und Debatten, die hier kurz angedeutet sein sollen. Am 02.10.2020 öffnen wir den Raum für ein Podium der Absage an die deutschen Zustände gestern und heute. In pointierter Form sollen hier u. a. die letzten 30 Jahre noch einmal rekapituliert werden, Preußens Wahn angegriffen und Heimat verachtet werden. Eine versöhnliche Nuance ist dabei zunächst nicht im Angebot. Am 03.10.2020 wollen wir resümieren und diskutieren, wie sich hierzulande die antinationalen Strömungen der letzten 30 Jahre entwickelt haben. Eine Reflexion zur Radikalen Linken sowie die Nie wieder Deutschland Demonstration 1990 bildet dabei den Ausgangspunkt.

Am 04.10.2020 laden wir zum Abschluss zu einem »Kommunistischen Brunch« der sich vorsichtig dem Themenfeld »Wirklichkeit und Möglichkeit« annähern möchte. Ohne ins Illusorische abzugleiten, sollen dabei in kurzer Form Themenbereiche eröffnet werden, die in zukünftigen Veranstaltungen zu besprechen seien. Begriffe wie Fortschritt, Technik, Sozialismus oder die Kritik der Bedürfnisse sollen dabei in den Vordergrund rücken und ein wenig an ein Wissen erinnern, das um das ganz Andere und gegen das Bestehende zu kämpfen wusste.

Die Veranstaltung findet auf dem freiLand- Gelände in Potsdam statt. Die Zeitschrift Konkret aus Hamburg beteiligt sich an dem Kongress. Als Referent*innenüber die gesamte Kongresszeit haben u. a. zugesagt Jutta Ditfurth,Thomas Ebermann,Thorsten Mense und Friederike Gremliza. Dietmar Dath wird sich in digitaler Form beteiligen ebenso Max Czollek. Weitere Anfragen laufen. Neben Reden und Debatten wird es eigene kleinere Beiträge geben sowie kulturelle Einspielungen u. a. eine Lesung von Texten Ronald M. Schernikaus.

Der genaue Ablauf wird ca. 1 Woche vor der Veranstaltung bekannt gegeben.

Zu Orientierung hier zunächst folgende Eckdaten:

Der Kongress wird am Freitag, dem 02.10.2020 gegen 17 Uhr beginnen und in einem längeren Abend münden. Am Samstag, dem 03.10.2020 gibt es einige Aktionen in Potsdam und Berlin, der Kongress wird dann gegen 17 Uhr mit dem »Nie wieder Deutschland«-Podium weitergeführt. Der kommunistische Brunch am Sonntag, dem 04.10.2020 ist von 12 bis 16 Uhr geplant. Auf dem freiLand-Gelände wird es genug Raum für Austausch, Kennenlernen und Vernetzung geben.

Da die Veranstaltung aufgrund von Corona nicht mit vollbesetzten Publikum umzusetzen ist, wir aber eine größtmögliche Verteilung wünschen, sollen die Hauptdebatten am Freitag und Samstag auch gestreamt werden u. a. in weitere interessierte Veranstaltungsorte. Wenn Ihr selbst Interesse habt, ein antinationales Viewing des Kongresses zu veranstalten, meldet Euch gern bei uns.

Quelle: https://www.re-kapitulation.org   | 27.09.2020