Zum Beitritt der DDR
am 3. Oktober 1990

Kritisches von gestern und heute

ausgewählt von
der TREND-Redaktion

10/2020

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 „Karl-Marx-Universität" oder „Universität Leipzig" -
Was soll das?

Die Motive der Fraktion der Namensstürmer sind in gewisser Hinsicht verbindlich; Musterknaben des frisch eingekehrten Systems, die sie nun mal sind, fordern sie rigoros die Verpflichtung auf den alleinseligmachenden Wertehimmel der Demokra­tie. Für die Demonstration ihrer Linietreue und zur Bekräftigung des „Geistes", der nun zu herr­schen hat, kommen ihnen die Heiligtümer des alten Systems gerade recht. Was manchmal den Anschein der Rache hat, ist tatsächlich eine funktionale Abrechnung, funktional darum, weil im Zuge dieser Streitereien im Überbau lauter Denkgebote erlassen werden.

Wem das nicht paßt, der könnte sich dagegen durchaus verwahren: Eine kritische Untersuchung der neuen Denkgebote, repräsentiert im nunmehr gültigen Katalog der bürgerlichen Wissenschaften, würde sich von deren dogmatischen Auftreten nicht imponieren lassen, und zwar mit der begründeten Aussicht auf den Erfolg, den neuen Geistesverwesern mindestens genausoviel haltlose Ideolo­giebildung nachweisen zu können wie den alten. Der Universitätsname würde bei dieser Tätigkeit nicht die geringste Rolle spielen; höchstens könnte man sich an dem kleinen Spaß freuen, daß man damit auf jeden Fall im Sinne eines Karl Marx -der die Benennung einer Uni nach sich sowieso für bescheuert gehatten hätte - seinen Grips angestrengt hat.

Mit dieser Arbeit wollen sich die Parteigänger des alten Namens nicht befassen. Statt dessen zerbrechen sie sich lieber den Kopf über die scheinheiligen und scheinmateriaiistischcn Erfindungen ihrer Gegner: Der Name würde bei Bewerbungen und bei der Mitteleinholung ungut in die Quere kommen - das ist natürlich alles Kokolores, ähnlich blöd wie die bombastische Entdeckung, Marx habe „nicht einmal einen engeren Bezug zu Leipzig" gehabt (Prof. Kreher, Sektion Physik). Die Auseinandersetzung mit solchen Argumenten verrät, wie sehr die Freunde der KMU In der selbstverschuldeten Defensive sind. Sie wollen sich mit den neuen inner- und außeruniversitären Machthabers nicht anlegen - sie wollen sich aber auch nicht einfach so unterwerfen. Weder sagen sie, was ihnen an der neuen Uni nicht passt, noch wissen sie, was sie an ihr treiben wollen; darum kommt es zu so inhaltsleeren Aufrufen wie bei Prof. Okun: "Vergangenheitsbewältigung dürfe nicht auf einen formalen Akt reduziert werden. Darum sollte Marxens Name als Herausforderung zur inhaltlichen Auseinandersetzung beibehalten werden." (ND) Noch einmal: Wenn Herr Prof.Okun inhalt­liche Auseinandersetzung machen will, dann soll er sie machen; die Behauptung Marxens Name sei dazu eine "Herausforderung" ist nicht nur ein Schwindel, sondern geradezu eine Ablenkung.

Denn hinter der Namensbeibehaltung steckt ein merkwürdiges Bedürfnis: Man will weiterhin sagen dürfen, daß „nicht alles schlecht war"; daß man sich ein bißchen von seinen alten Idealen bewahren möchte; daß man vor dem Sturmangriff eines Bundesbildungsministers Möllemann - „Schaffen Sie mal als erstes Ihren Namen ab" - nicht einfach bloß so ducken will; daß man ein bißchen beleidigtes DDR-Nationalbewußtsein heraushängen lassen will. Kurz: Es geht mal wieder darum, bei völliger Anerkennung der neuen Verhältnisse den "aufrechten Gang" beizubehalten. Diese nutzlose Demonstration stört zwar nicht im geringsten bei der demokratischen Gleichschaltung der Universität, aber für viele leidenschaftliche Debatten ist sie noch allemal gut.

Quelle: Leipziger Hochschulzeitung - hrg. v. der Marxistischen Gruppe (MG), München, 26.11. 1990, S.2
Online: https://www.mao-projekt.de/