Zum Beitritt der DDR
am 3. Oktober 1990

Kritisches von gestern und heute

ausgewählt von
der TREND-Redaktion

10/2020

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 Was gute Deutsche in West und Ost jetzt tun müssen

Fleißig arbeiten, richtig wählen., am Stammtisch dumm daherreden, zur Nationalmannschaft halten, der Polizei nicht in die Quere kommen?

Falsch geraten. Die vordringlichste Aufgabe der Deutschen besteht darin, "die Teilung zu überwinden".

Mancher bildet sich ein, das wäre doch spätestens am 3. Oktober passiert, Das war aber noch gar nichts - hat Bundespräsident v. Weizsäcker bei seiner Ansprache am Brandenburger Tor festgestellt "Wirkliche Einheit" gibt es nur, "wenn die Teilung in den Herzen und Köpfen in der Menschen überwunden ist." - sagte er. Wie macht man das?

Deutsche/West müssen Herzen und Köpfe anstrengen, um das

"Teilen"

hinzukriegen. Sollen sie den Geldbeutel herausziehen und den Ossis was spendieren? Freiwilliger  Arbeitseinsatz in  Leipziger Mietwohnungen, oder Lebensmittelpakete für verarmte Rentner? Nein, die Wessis brauchen sich die Köpfe nicht zu zerbrechen, und Herzlichkeit ist auch nicht verlangt — die bundesdeutsche Obrigkeit erledigt das für sie: Steuern rauf, Krankenkassenbeiträge rauf, Benzin teurer usw. Der Staat kennt genügend Methoden, ans Geld seiner Bürger zu kommen. Von wegen also man würde "teilen" - der Geldbeutel wird gschröpft, das ist alles. Allerdings sagen Politiker in offenherzigen Momenten schon selber, daB es genauso  gemeint ist - aber dann immer mit dem Zusatz, es handele sich um "ein notwendiges Opfer für die Landleute". Das ist freilich genau so gelogen: Es handelt sich um eine Aufbesserung der Staatskasse. Die ist nicht deswegen strapaziert, weil der Staat den Ossis lauter Wohltaten zukommen lassen will, sondern weil er in den neuen Ostgebieten seine Herrschart in derselben Weise wie hier etablieren will. Damit der erfolgreiche Zugriff des Kapitals auf Land und Leute und die staatliche Verwaltung der damit einhergehenden Armut funktionieren - dafür  haben die Lohnsteuerzahler, Sozialversicherten, Autofahrer ihren zwangsmäßigen Obulus abzuliefern.

Von den Deutschen/Ost scheint da mehr Einsatz von Kopf und Herz verlangt zu ein, Sie müssen nämlich jetzt

"Eigeninitiative"

zeigen. Weil das angeblich erstens der überhaupt hervorstechendste Charakterzug eines Westbürgers und zweitens sauschwer zu erlernen ist, wenn er drittens vom SED-Regime 40 Jahre lang brutal unterdrückt wurde, gibt der Bundespräsident den Ossis eine Handreichung, was darunter zu verstehen ist: "Umlernen, umstellen, umziehen, neu anfangen."

Aber auch sie brauchen sich nicht groß den Kopf darüber zu zerbrechen, was sie lernen sollen, wie sie sich umstellen sollen, wohin sie umziehen sollen, was sie suchen sollen. Das bleibt nämlich gar nicht ihrer Eigeninitiative überlassen. Das legen ihre neuen Lebensverhältnisse ganz von selber fest - genauer; die neuen Arbeitgeber, die Sozialhilfeverwalter, Arbeitsmarktberater usw. Die Deutschen/Ost brauchen nur mitzumachen.  Also ungefähr haargenau dasselbe wie die Deutschen/West.

So gehört zusammen, was zusammenwächst.

Quelle: Marxistische Arbeiterzeitung - Betriebszeitung der Marxistischen Gruppen in der BRD und Westberlin,
München, 17. Oktober 1990, S.4
Online: https://www.mao-projekt.de/