Das Emissionshandelssystem der EU
Totales Systemversagen und dennoch Bestrebungen zur Ausdehnung

von Franz Garnreiter

10/2019

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Das CO2-Emissionshandelssystem ist derzeit wieder verstärkt im Gespräch. Ursache ist letztlich die relativ erfolgreiche Klimaschutzbewegung, die die Regierung, regierungsnahe Institutionen und Organisationen der Wirtschaft animierte, laut über Maßnahmen zur Begrenzung der Treibhausgas-Emissionen (THG) nachzudenken. In diesem Zusammenhang kommt dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) eine Schlüsselstellung zu. Dieser Gralshüter der reinen neoklassischen Marktgläubigkeit hat in einem aktuellen Gutachten („Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik„) eine sehr entschiedene Stellungnahme zugunsten einer totalen Ausweitung des CO2-Emissionshandels auf alle Branchen und Privathaushalte, alle Emissionen, alle Länder abgegeben. Die quasi päpstliche Autorität des SVR in der Gemeinde der Marktgläubigen verleiht dieser Propaganda Wirkungsmacht. Im Folgenden ein Kommentar zu dieser Position, beginnend mit der Darstellung des bestehenden Systems.

1. Das CO2-Emissionshandelssystem der EU

Grundgedanke und Konzeption

Der Grundgedanke ist einfach und bestechend: zugunsten des Klimaschutzes erlaubt der Staat nur eine beschränkte und jährlich planmäßig und systematisch sinkende Menge an Emissionen. Um das zu kontrollieren, bedarf jede CO2-Emission einer staatlichen Genehmigung. Der Staat gibt dazu Zertifikate = Erlaubnisscheine für die Emission einer bestimmten Menge CO2 aus. Jeder CO2-Emittent muss sich entsprechend seiner Emissionshöhe um ausreichend viele Zertifikate bemühen (so wie ein Briefeschreiber pro Brief eine Briefmarke braucht, wenn er Briefe verschicken = emittieren will). Das wird anfangs, im Jahr Null, einfach sein. Aber bei zunehmender Verknappung müssen sich die Emittenten um die knappen CO2-Zertifikate streiten. Zur Bestimmung der richtigen Verteilung haben wir den Markt, das tolle Wundersystem zur Lösung aller Probleme. Die knappen Zertifikate werden also nicht kostenlos für alle verfügbar sein, sondern im Gegenteil immer teurer werden. Die Nachfrage ist höher als das Angebot. Das stellt die Emittenten vor die Frage: Habe ich eine Möglichkeit, meine CO2-Emissionen zu reduzieren und damit Zertifikatskosten einzusparen? Vielleicht durch Einspartechniken, durch andere Produktionsverfahren, durch den Austausch von Materialien? Gibt es nutzbare Forschungsergebnisse, neue Patente? Die Antwort wird von Betrieb zu Betrieb (v.a. in verschiedenen Branchen) sehr unterschiedlich ausfallen. Im Ergebnis, so die Markttheoretiker, wird überall, wo die CO2-Reduzierung günstiger kommt als der aktuelle Zertifikatpreis, eine solche Reduzierung vorgenommen. In der Folge stellt sich ein Gleichgewicht ein zwischen Zertifikatpreis und gerade noch rentablen CO2-Vermeidungskosten. Das Ziel der CO2-Reduzierung (begrenzte Zertifikateanzahl) ist zu gesamtwirtschaftlich günstigsten, niedrigsten Kosten erreicht worden.

Ein solches System erfordert einen Handel zwischen den Emittenten: Einer mit einem Zertifikateüberschuss (sei es durch Produktionskürzung oder durch technische Änderungen) kann seine überschüssigen Zertifikate an einen anderen mit einem Mehrbedarf verkaufen. Dafür wurden spezialisierte Börsen eingerichtet (die EEX in Leipzig und die ICE in London). So bildet sich ein Zertifikatpreis, den die Emittenten mit ihren CO2-Reduzierungskosten vergleichen können.

Das EU-Emissionshandelssystem EU-ETS (Emissions Trading System) umfasst 31 Länder: Die EU28, Norwegen, Schweiz, Liechtenstein. Es beschränkt und konzentriert sich auf die großen Emittenten aus der Industrie (Stahl, Papier, Chemie u.a.) und der Energiewirtschaft (Strom). Seit einigen Jahren ist auch die EU-Binnenluftfahrt dabei. Das sind 11.000 Betriebe, davon 1900 in Deutschland. Dadurch werden etwa 50 % der gesamten CO2-Emissionen in diesem Gebiet erfasst – weil das EU-ETS praktisch nur CO2 betrifft, sind das etwa 40 % bis 45 % aller THG-Emissionen. Weil die deutschen Anlagen sehr groß sind (v.a. die vielen riesigen Braunkohle-Kraftwerke), liegt der deutsche Anteil an den vom EU-ETS erfassten Emissionen bei etwa 25 %, bei der Anzahl der Anlagen dagegen bei etwa 17 %.

Die vielen Millionen von kleinen Emittenten (Haushalte, Autofahrer, Kleinunternehmer, öffentliche Einrichtungen) werden von dem ETS-System nicht erfasst. Die auf sie zielende Klimapolitik besteht aus einer Vielzahl von unterschiedlichsten Maßnahmen, etwa zur Wärmedämmung, Solarförderung, Abwärme-Rückgewinnung, CO2-Preis, Strompreisaufschläge usw. Für diesen Bereich wird derzeit die Einführung eines CO2-Preises vorbereitet, siehe dazu „Die kommende CO2-Abgabe – ein Fortschritt für die Klimapolitik?„.

Es gibt in der EU also zwei klar getrennte Emissionsbereiche, die von der Klimapolitik völlig unterschiedlich angesprochen werden. ^2005 wurde das System eingeführt. In der ersten Handelsperiode 2005-2007, eine Art Testlauf, wurden praktisch alle Zertifikate kostenlos vergeben. Seit der dritten Handelsperiode wird ein zunehmender Anteil über Auktionen an den genannten Börsen versteigert, also zum Marktpreis abgegeben.

Im Überblick wurden folgende Zertifikatemengen (ein Zertifikat steht für die Erlaubnis, eine Tonne CO2 zu emittieren) ausgegeben bzw. werden geplant:

  • Periode I, 2005-2007: durchschnittlich 2150 Mio. pro Jahr, zu fast 100 % kostenlos.

  • Periode II, 2008-2012: durchschnittlich 2080 Mio., zu über 90 % kostenlos.

  • Periode III, 2013-2020: durchschnittlich 1950 Mio., erstmalig mit der Vorgabe einer jährlichen Reduzierung um 38 Mio., d.h. 2013: 2083 Mio., 2020: 1817 Mio. Der Anteil der kostenlosen Zertifikate sinkt von 80 % auf 30 %, Zertifikate für die Stromwirtschaft sind nicht mehr kostenlos, außer in Polen.

  • Periode IV, 2021-2030: weitere Reduzierung um jährlich 48 Mio., d.h. 2021: 1769 Mio., 2030: 1337 Mio. Die kostenlose Zuteilung sinkt von 30 % auf null.

Es gibt folgende Ausnahme für die kostenlose Zuteilung: Industriebetriebe, die unter starker Importkonkurrenz stehen, die also von billigen Importen aus Ländern ohne Klimaschutzkosten bedroht werden, erhalten weiterhin alle Zertifikate kostenlos, soweit sie nach dem besten Stand der Technik (so genannter Benchmark) unabdingbar sind.

Diese Entwicklung der Zuteilungen zeigt bereits das totale Versagen des ETS als klimapolitisches Instrumentarium:

  • von 2005 bis 2012 ein Rückgang von 2150 auf 2080 Mio.: minus 70 Mio. = 3 % in 7 Jahren,

  • von 2012 bis 2020 ein Rückgang auf 1817 Mio.: minus 263 Mio. = 13 % in 8 Jahren,

  • von 2020 bis 2030 ein (geplanter!) Rückgang auf 1337 Mio.: minus 520 Mio. = 26 % in 10 Jahren.

Nicht nur, dass die halbwegs nennenswerten Reduzierungen erst für 2020 ff. geplant sind, auch das höhere Tempo im kommenden Jahrzehnt reicht bei weitem noch nicht für eine Dekarbonisierung bis 2050. Geschweige, dass zur Einhaltung eines 1,5°C-Limits die Dekarbonisierung bis 2035 erreicht sein müsste.

Aber es kommt noch viel bizarrer.

Clean-Development-Mechanism CDM

Für das Klima ist es egal, an welcher Stelle auf dem Erdball CO2 emittiert oder auch die Emission reduziert wird. Daher wurde der obige Grundgedanke ausgedehnt: Wenn jemand nachweist, dass er in einem anderen Land THG-Emissionen reduziert hat – wobei vorausgesetzt wird, dass diese Reduzierung eine besondere sein muss, eine zusätzliche, die ansonsten unterlassen worden wäre – dann kann er diese Reduzierung auf den eigenen Zertifikatebedarf anrechnen lassen. Oder an einen Interessenten verkaufen. In diesem Umfang kann man sich also ETS-Zertifikate sparen.

Hierzu wurden zwei Ansätze kreiert, zum einen der Joint-Implementation-Ansatz JI, bei dem es um Reduzierungsmaßnahmen in Industrieländern geht: er blieb mit etwa 10% aller Maßnahmen ziemlich unbedeutend. Anders der CDM-Ansatz, der für Maßnahmen in Entwicklungs- und Schwellenländern steht. 2006 begann der Run, bis 2013 wurden mehr als 7000 CDM-Projekte zugelassen (seither nur noch wenige), die zusammen bis heute ein Äquivalent von knapp 2000 Mio. CO2-Zertifikaten erreichten, also etwas mehr als einen EU-Jahresbedarf. Durchgeführt wurden rund 70 % der Projekte in China und in Indien, auf Brasilien an dritter Stelle entfielen nur 5%.

Eine Reihe von Finanzgesellschaften spezialisierte sich auf solche Geschäfte. Es war hoch lukrativ, günstige THG-Reduzierungen in Schwellenländern zu inszenieren und sie hier in EU-Zertifikaten einzutauschen. Die Kontrolle der Behörden hielt kaum Schritt mit dem Boom. Die oben genannte Anforderung der Zusätzlichkeit dieser Projekte wurde häufig nicht eingehalten. Nach diversen Nachuntersuchungen bestehen bei 40 % aller Projekte, möglicherweise sogar bei bis zu 85 %, starke Zweifel an der Zusätzlichkeit. Dazu: Mehr als die Hälfte der Zertifikate wurde erworben mit der Reduzierung von Nicht-CO2-Gasen (extrem klimaschädliche Hydrofluorkarbonate u.a.), wobei in einigen Fällen der Verdacht entstand, dass die zu vernichtenden Industriegase erst eigens dafür in neuen Anlagen erzeugt wurden.

Offensichtlich brachte der CDM-Mechanismus in erster Linie eine riesige Welle an Geschäftemacherei ins Rollen, mit wenig Nutzen für die armen Länder, mit höheren Überschüssen und daher verschärfter Wirkungslosigkeit der Zertifikate in der EU, aber mit ordentlichen Profiten für die wie Pilze aus dem feuchten Boden geschossenen CDM-Projektgesellschaften. Kein Wunder, dass zur Hochzeit dieses Booms diese Projektierer zur Interessenwahrung ein Mehrfaches an Lobby-Vertretern auf die jährlichen internationalen Klimagipfel schickten im Vergleich zu den meisten nationalen Delegationen. Der ganze Mechanismus war, wie immer, wenn in Märkten Extraprofite locken, durchwirkt von schwer zu kontrollierenden Betrügereien.

Das ist mittlerweile Geschichte, die EU hat die Notbremse gezogen: Seit 2013 gibt es keine Gutschriften mehr für Industriegas-Reduzierungen und auch nicht mehr für große Staudammprojekte, und generell nur noch für Projekte, die in der Gruppe der ärmsten Entwicklungsländer (derzeit 49) durchgeführt werden. Das führte dazu, dass in den letzten Jahren nach dem Auslaufen alter Projekte praktisch gar keine CDM-Projekte mehr angemeldet wurden.

Zertifikateüberschuss und Systemzusammenbruch

Überschüsse und Preise der Zertifikate


Quelle: Deutsche Emissionshandelsstelle
/ ISW

Die Grafik zeigt, wie der Grundgedanke auf sukzessive Absenkung der Emissionen pervertiert wurde – ein Lehrstück an verlogener, kapitalfreundlicher, promonopolistischer Pseudo-Klimaschutzpolitik.

Bereits in der Periode I (2005-2007) lag der Bedarf der Emittenten bei nur 94 % der ausgegebenen Zertifikate. Ein Überschuss lief auf. In Periode II (2008-2012) rügte die EU beispielsweise die Bundesregierung wegen überhöhter Anmeldungen und kürzte den von ihr angemeldeten Bedarf für die deutschen Emittenten um 6 %. Dennoch wuchs der Überschuss, wie die Grafik zeigt, in riesige Höhen. Als Ursachen für die Überschüsse sind laut der Deutschen Emissionshandelsstelle (der deutsche Teil der EU-ETS-Organisation) zu nennen:

  • In allen bisherigen Handelsperioden wurden den Anlagenbetreibern, gemessen an ihrem Bedarf, viel zu viele Zertifikate bereit gestellt. Überschüssige Zertifikate wurden nicht nach Ablauf des Zuteilungsjahres ungültig, sondern sie konnten quasi auf immer weiter vorgetragen werden.

  • In der scharfen Wirtschaftskrise 2008 sanken die Emissionen viel stärker (und stiegen anschließend viel langsamer auf das alte Niveau) als erwartet, wobei das Zertifikateangebot dieser Entwicklung eben nicht angepasst wurde.

  • Die Anzahl der jährlich ausgegebenen Zertifikate ist fix: Eine Emissionsänderung aufgrund Konjunkturkrisen oder eines Booms, einer Produktionsverlagerung ins Ausland oder umgekehrt, oder einer konkurrierenden energiepolitischen Maßnahme (Windenergieförderung zulasten fossiler Kraftwerke) änderte nichts am Ausgabevolumen. Ein dramatischer Konstruktionsfehler. Erst bei der aktuellen Kohleausstiegsdiskussion wird überlegt, die durch einen forcierten Ausstieg frei werdenden Zertifikate vom Markt zu nehmen.

  • Wie dargestellt, konnten die Emittenten CDM- (und JI-)Gutschriften nutzen. Diese liefen ausnahmslos in den eh schon bestehenden Überschuss.

In der Summe stiegen die Überschüsse (siehe Grafik) auf 2100 Mio. Zertifikate, was mehr als einem kompletten Jahresbedarf entspricht – nach anderer Zählung sogar auf drei Mrd. Infolgedessen brachen die Zertifikatpreise, die in der ersten Periode noch in der Größenordnung bis 30 Euro pro Zertifikat lagen (entsprechend also 30 Euro pro Tonne CO2-Emission), völlig ein. Sie fielen und lagen jahrelang in der Größenordnung von 5 Euro.

Mehr als ein Jahrzehnt war die EU und die sie tragenden Regierungen völlig unfähig – und vor allem wohl völlig unwillens – an dieser Entwicklung etwas zu ändern. Statt, wie der Grundgedanke forderte, das Ausmaß der Emissionen Jahr für Jahr zu drosseln, gab die EU Jahr für Jahr überhöhte Emissionserlaubnisse. Statt den Preishebel für eine forcierte Einsparung zu nutzen, machte die EU das Tor weit auf für eine riesige Geschäftemacherei, die mit Klimaschutz rein gar nichts zu tun hat. Dieses System hat über viele Jahre hinweg nicht mal ein Minimum an Anreiz zur Emissionsreduzierung ausgeübt. Eine auch für den Gutwilligsten völlige Pervertierung von Klimaschutz, die offensichtlich rein aus Hörigkeit und Treue zum Profitmaximierungszwang zu verstehen ist.

Mühsamer Neuaufbau mit Marktstabilisierungsreserve MSR

Diese Perversion konnte auch von den unbedingtesten Kapitalfreunden nicht mehr offen gerechtfertigt werden. Es musste eine Revision her. Zunächst wurde 2013, wie schon angesprochen, das CDM-Geschäft abgeregelt und faktisch auf null gebracht. Damit entfiel allerdings auch die sehr attraktive Selbstbeweihräucherung, wie toll man den armen Ländern doch helfe.

Dann folgte jahrelang eine Vielzahl von EU-Konferenzen, um das System neu zu gestalten. Zunächst fand man das Backloading: Von 2014 bis 2016 wurde die Versteigerung von insgesamt 900 Mio. Berechtigungen zurück gehalten. Sie sollten erst nach Abbau der Überschusssituation auf den Markt gebracht werden.

Im Jahr 2017 einigte man sich auf eine gründlichere Reform, und die Zertifikatpreise begannen zu steigen (heute bei 30 Euro, also immer noch nicht mehr als der Mindestbetrag, der bei der CO2-Steuer-Diskussion genannt wird). Es wurde eine Marktstabilitätsreserve MSR vereinbart, die seit 2019 installiert ist. Zunächst wurden die obigen Backloadingmengen in die MSR umgebucht. Dann werden künftig die neu zu vergebenden Auktionsmengen gekürzt, wenn die Überschüsse auf dem Markt zu hoch sind: Zu hoch sind die Überschüsse (= gültige Zertifikate minus Bedarf), wenn sie höher als 833 Mio. sind. Das heißt, ein Überschuss von einem halben Jahresbedarf gilt als unbedenklich. (Nur!) ein Viertel von dem darüber liegenden Überschuss geht dann in die MSR. Die Überschüsse können auch zu niedrig liegen für einen nach EU geordneten Markt: Wenn sie unter 400 Mio. liegen, dann werden sie durch Entnahme aus der MSR aufgestockt, es kommen dann Extra-Zertifikate ins staatliche Auktionsprogramm. Die MSR ist also die Reserve zusätzlich und hinter den Überschüssen auf dem Markt. Sie soll maximal eine Jahresmenge enthalten, darüber hinaus gehende Mengen werden endgültig ungültig. Dieses ist der wesentliche preissteigernde Punkt: Ganz am Ende sollen also neuerdings überschüssige Zertifikate tatsächlich irgendwann mal annulliert werden.

Das ist alles vielleicht ein etwas kompliziertes Verfahren. Letztlich steht die offizielle Prognose, dass gegen Mitte der 2020er Jahre die Überschusssituation sich „normalisiert“ haben wird, d.h. unter 833 Mio. liegen wird.

20 Jahre nach Beginn des Zertifikatesystems werden wir dann (vielleicht!) so weit sein, dass das System wieder bzw. besser gesagt überhaupt zum ersten mal „normal“ funktionieren soll, so wie propagiert. Was für ein ungeheures Versagen kapitalistischer kapitalfreundlicher Politik! Was für eine ungeheure und schamlose Zeitverschwendung angesichts der Klimaprobleme, angesichts dessen, dass jedes einzelne Jahr dringend zählt und brennt!

Bürokratie

Wenn die Marktwirtschaftler über nicht-private, öffentliche oder gar sozialistisch verdächtige Wirtschaftsformen herziehen, dann fällt ihnen als besonders schlimmes Charakteristikum die staatliche Bürokratie ein: Dass der Staat überall vorschreibt und gängelt.

Schauen wir uns das EU-Emissionshandelssystem an. In einer sicher nicht vollständigen Übersicht führt die Deutsche Emissionshandelsstelle auf:

  • rund 30 Gesetze, Verordnungen, Erlasse der EU, rund 35 der Bundesregierung, rund 10 internationale Vereinbarungen, alles um das EU-ETS auf die Beine zu stellen und zu steuern,

  • rund 60 wesentliche Gerichtsurteile deutscher Gerichte und rund 35 vom Europäischen Gerichtshof (und vergleichbaren EU-Gerichten) zur Klärung der ETS-Fragen,

  • einen 75-seitigen eng bedruckten Leitfaden für Antragsteller auf eine Genehmigung eines CDM-Projektes,

  • eine Gebührenverordnung im Rahmen der CDM-Projekte mit 15 verschiedenen Gebührenarten.

Ein reiches Feld für hochbezahlte Anwaltskanzleien – sei es bei der Formulierung der Politik, sei es bei ihrer Interpretation.

Entgegen der üblichen Propaganda sind detaillierte Vorschriften und ihre Überwachung generell unabdingbar in der Marktwirtschaft, um die allgemein sehr starke Tendenz zu Betrügereien zugunsten der eigenen Profitmaximierung wenigstens einigermaßen in Schach zu halten. Tatsächlich war oder ist es beim ETS immer noch zu wenig, um die hohe kriminelle Energie einiger Marktteilnehmer zu unterbinden: Vor etlichen Jahren kam es zu so genannten Karussellgeschäften. Jahrelang wurden Emissionsrechte über EU-Landesgrenzen hin und her verkauft und die dabei anfallende Mehrwertsteuer unrechtmäßig vom Finanzamt an den Händler erstattet. Das erinnert an den Cum-Ex-Steuerbetrug-Skandal. Den großen EU-Ländern entstand dadurch ein Steuerverlust von 5 Mrd. Euro, davon in Deutschland 850 Mio. Euro. Abhilfe wurde geschaffen dadurch, dass die Zertifikate mehrwertsteuerfrei gestellt wurden.

2. Der Sachverständigenrat beschäftigt sich mit Klimapolitik

Aufbruch zu „neuer Klimapolitik“

Der Sachverständigenrat für Wirtschaft (SVR) hat im Juli 2019 ein Sondergutachten angefertigt mit dem Titel „Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik“. Alles, was bisher war, sei zu wenig vom Vertrauen in die Kräfte der Marktwirtschaft geprägt. „Kleinteiliges Vorgehen in Deutschland ist ineffizient“ (Kernbotschaft). Mit „Kleinteiligkeit“ meint er eine differenzierte, situationsangepasste Klimapolitik mit Förderungen, Geboten, Verboten, Anreizen, Steuern und Subventionen – und mit dieser Zuschreibung fasst der SVR die gesamte Energie- und Klimapolitik der Bundesregierung zusammen und verdammt sie pauschal. Stattdessen: „Der volkswirtschaftlich kosteneffizienteste Weg ist, einen sektorübergreifend einheitlichen Preis für Treibhausgasemissionen zu etablieren“ (Kernbotschaft). Denn: „Ein Preis für CO₂-Emissionen kann Einzelentscheidungen der Haushalte und Unternehmen effizient koordinieren und ist daher einer kleinteiligen Steuerung überlegen„. Daher sei die „historische Chance“ zu nutzen für einen völligen Umbruch: „Diese Neuausrichtung sollte die einer kleinteiligen Zielsetzung folgende Detailsteuerung ersetzen„[!]. Also: Die Förderung regenerativer Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung nach dem EEG bzw. dem KWKG: überflüssig, teuer, streichen. Emissionsgrenzen für Autos, Wärmedämmstandards für Gebäude: alles bürokratisch teuer, es reicht der einheitliche Preis für CO₂-Emissionen.

Diese „neue Klimapolitik“ will „rasch das Ideal des vollumfassenden europäischen Emissionshandelssystem“ einführen, das heißt einen „alle Sektoren und alle Mitgliedstaaten umfassenden Emissionshandel“ (Kernbotschaft). Das bestehende ETS-Zertifikatesystem für die Großemittenten soll ausgedehnt werden auf alle Emittenten in allen EU-Staaten. Man hätte dann EU-weit den „sektorübergreifend einheitlichen Preis“. „Ein alle Sektoren und alle Mitgliedstaaten umfassender Emissionshandel stellt sicher, dass alle europäischen Emissionsziele erreicht werden“ (Kernbotschaft). Ist doch alles so einfach – deshalb weg mit der ganzen kleinteiligen Klimapolitik.

Spätestens 2030 muss dieses „vollumfassende“ System stehen, die Wartezeit bis zu seiner Einführung könnte man noch mit einer CO2-Steuer überbrücken. Hier haben wir den Marktdogmatismus in Reinform. Der (Fast-)Nachtwächterstaat benennt einen Preis für die Emission von CO₂ – oder besser noch: er schafft ein Zertifikatesystem und benennt dann die jährlich zulässige Menge von Verschmutzungsrechten – und den Rest machen die Marktkräfte.

Abwegige Vorstellung eines „vollumfassenden Zertifikatesystems“

Bei aller Dogmatik merken auch die „Fünf Weisen“, wie irre ein Zertifikatesystem für die gesamte Gesellschaft wäre. Ein solches System bedeutet, dass strikt jeder Emittent, also jeder Energieverbraucher, für sich entscheiden muss, wie viele Zertifikate er für das laufende Jahr kaufen will, oder ob er alternativ seine Emissionen (durch Verzicht oder Substitution oder durch eine Einsparinvestition) einschränken will. Statt wie bisher 11.000 Zertifikatekäufer würde es dann 500 Millionen Teilnehmer an den Zertifikate-Auktionen geben. Jeder ist (potentieller) Teilnehmer am Zertifikatemarkt. Und jeder heißt hier jeder (erwachsene) Einwohner: jeder Selbständige mit Betrieb, jeder Autofahrer, jeder Wohnungsheizer, eigentlich auch jeder Mieter, der die Heizung aufdreht oder badet und damit direkt Energie verbraucht. An dieser Vorstellung wird deutlich, zu welch hemmungslosem Organisations-Bürokratismus die Überführung von Lehrbuchmärkten in die Praxis führen würde. Der SVR schlägt daher etwas bescheidener vor, dass „stellvertretend“ (!) für die einzelnen Autofahrer und Wohnungs-Beheizer Tankstellen und Brennstoffhändler die Zertifikate kaufen und die Zertifikatekosten auf ihre Preise aufschlagen sollten. Das wäre dann aber kein wirkliches Zertifikatesystem mehr, sondern – für die Millionen End-Energieverbraucher – faktisch ein CO2-Steuersystem, bei dem die Steuerhöhe von der Tankstelle und einzelnen Versorger-Unternehmen festgelegt würde, sozusagen ein privates Steuersystem. Die Quasi-Steuerhöhe ist dann für jeden Autofahrer und Heizer unterschiedlich, je nachdem wann und zu welchen Preisen sich sein Versorger mit Zertifikaten eindeckt oder welche nachkauft. „Schwierige“ Probleme sieht der SVR-Bericht auch im Bereich Landwirtschaft (immerhin etwa 7 % der THG-Emissionen) wegen der Vielzahl kleiner Betriebe und wegen der hier konzentrierten Treibhausgase Methan und Lachgas. Der SVR kapituliert hier mit seinem Zertifikatesystem und setzt stattdessen auf die Gemeinsame Agrarpolitik der EU, auf eine MWSt-Änderung und schließlich auf die „Aufklärung von Konsumenten über eine gesündere und klimafreundlichere Ernährung„. Ernährungsratgeber, wenn’s mit dem Emissionshandel nimmer flutscht! Was für eine grandiose Kapitulation!

Abgesehen von solchen absonderlichen Skurrilitäten kommen dem SVR Bedenken, wenn etwa bei einer Wirtschaftskrise die Zertifikatenachfrage und damit auch ihr Preis einbricht mit der Folge, dass sich die Vermeidungsmaßnahmen nicht mehr lohnen. Daher brauche das Zertifikatesystem einen Mindestpreis. Umgekehrt, wenn weitere CO2-Vermeidungen schwierig und teuer werden und dadurch der Zertifikatepreis zu stark ansteigt, dann könnte für solche Fälle ein Höchstpreis notwendig werden. Und überhaupt brauche es eine staatliche Zentralstelle ähnlich der Zentralbank, die regelmäßig in den Zertifikatemarkt eingreift, um falsche Preisbewegungen zu korrigieren.

Seltsame Vorstellung von Marktwirtschaft, in der rigide Preisgrenzen eingezogen werden müssen und eine staatliche Stelle die Preise laufend korrigierenhi muss. Vielleicht sollte man die „Fünf Weisen“ nochmal das erste Semester an der Uni wiederholen lassen, denn: Kern der Marktwirtschaft ist bekanntlich, dass sich die Preise frei bewegen und dadurch den Ausgleich von Angebot und Nachfrage bewirken können. All diese Possen und Sonderheiten zeigen, dass das Wesen von Lehrbuchmärkten und das Wesen von realen Märkten miteinander nichts gemein hat.

Was den SVR nicht interessiert

Das SVR-Gutachten umfasst 130 Seiten. Es steht so gut wie nichts drin zu den Themen:

  • Markteffizienzprobleme. Der SVR sieht hier offensichtlich keinerlei Probleme, Märkte wirken immer effizient und optimal – das kommt laufend wiederholt. Tatsächlich reagieren wirkliche Märkte viel zögerlicher, abwartender als der Lehrbuch-Dogmatismus vorgibt. Wirkliche Märkte funktionieren holprig und massiv defizitär statt effizient, wie viele Ingenieurs-Untersuchungen immer wieder bestätigen. So stellte beispielsweise das Umweltbundesamt fest, dass „innerhalb von zehn Jahren zusätzlich [!] insgesamt 100 TWh/Jahr an Strom gegenüber dem Trend prinzipiell wirtschaftlich [!] eingespart werden könnten“ (Uba 2016). 100 TWh Einsparung (ein Sechstel des deutschen Verbrauchs), die rentabel ist, aber dennoch nicht durchgeführt wird, weil simples Marktversagen dominiert. Was folgt aus solchen Alltags-Marktdefiziten für die angesteuerte THG-Reduzierung? Kann sie so problemlos funktionieren, wie es der SVR erwartet? Zu welchen Kosten? So was Banales interessiert den SVR nicht.

  • Mit welchen Zertifikatepreisen muss man rechnen, wenn der Staat als Zertifikateherausgeber eine Mengenbeschränkung um 2% oder 5% oder 10% im nächsten Jahr oder innerhalb von drei Jahren vorsieht? Wie wie hoch liegt mutmaßlich der Zertifikatepreis, wenn die Emissionen im Jahr 2035 auf Nettonull gebracht sind, und wie hoch, wenn man sich Zeit bis 2050 nimmt? Absolut keine Silbe zu diesen Fragen. Es gibt keine Diskussion, keine Abschätzung, keine Prognose der Preiselastizitäten, also der Nachfragereaktion auf Preisänderungen. Relevant wäre das, um soziale und Verteilungs-Auswirkungen zu analysieren.

  • Differenzierte Technikförderung: Solarstrom und Windkraft hätten im SVR-System mit alleinigem Emissionshandel als Klimapolitik keine Chance zur Durchsetzung gehabt, da das in der Entwicklungsphase viel zu teuer war, also von privater Seite (mit Profitziel) nie aufgegriffen worden wäre. Das wäre keine rentable Alternative zu den Emissionen gewesen. Die lange Entwicklungsförderung über das vom SVR verabscheute EEG führte aber dazu, dass wir heute mit diesen Techniken ein machtvolles Instrument haben zur Emissionsreduzierung. Ähnlich auch Elektro-Autos, seien sie mit Batterie oder Wasserstofftechnik. Desgleichen neue Stromspeichertechniken, Power-to-Gas-Techniken, das würde von rein privater Seite erst entwickelt bei einem extrem hohen Zertifikatpreis. Staatliche Förderung und Entwicklung solcher Technologien führen aber zu sehr viel früherer Reife und Einsatz. Das ist alles kein Thema für den SVR.

  • Wie kann man den kapitalistischen konzernfreundlichen Staat dazu bringen, durch Mengenvorgaben im Zertifikatesystem die Emissionen gegen den Widerstand mächtiger Kapitalgruppen schnell genug herunter zu schleusen – dies angesichts der Tatsache, dass eben diese Staatengemeinschaft EU in den letzten 15 Jahren eine Mengenpolitik fuhr, die statt einer Begrenzung einen gigantischen Überschuss an Zertifikaten zuließ. Jahr um Jahr um Jahr immer wieder. Natürlich ist auch das dem SVR keine Silbe wert.

Das Gutachten ist ein Lehrbuch-Beispiel dafür, wie unendlich und unglaublich weit die Theorie von der Effizienz, Stabilität, Optimalität, Wohlfahrtsmaximierung des Marktmechanismus vom realen Wirtschaften entfernt ist.

Quellen & Weiterführendes

Editorischer Hinweis

Wir spiegelten den Beitrag von der Website des ISW, wo er am 2.9.2019 veröffentlich wurde.

Was ist das isw?
1990 haben kritische Wirtschafts- und SozialwissenschaftlerInnen zusammen mit GewerkschafterInnen in München das isw – Institut für sozial-ökologische ErdballWirtschaftsforschung e.V. gegründet. Seitdem haben wir fast zweihundert Studien und Berichte veröffentlicht.