Das
Emissionshandelssystem der EU Totales Systemversagen und dennoch Bestrebungen
zur Ausdehnung
von
Franz Garnreiter
10/2019
trend
onlinezeitung
Das CO2-Emissionshandelssystem ist
derzeit wieder verstärkt im Gespräch. Ursache
ist letztlich die relativ erfolgreiche
Klimaschutzbewegung, die die Regierung,
regierungsnahe Institutionen und Organisationen
der Wirtschaft animierte, laut über Maßnahmen
zur Begrenzung der Treibhausgas-Emissionen
(THG) nachzudenken. In diesem Zusammenhang
kommt dem Sachverständigenrat zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR)
eine Schlüsselstellung zu. Dieser Gralshüter
der reinen neoklassischen Marktgläubigkeit hat
in einem aktuellen Gutachten („Aufbruch
zu einer neuen Klimapolitik„) eine sehr
entschiedene Stellungnahme zugunsten einer
totalen Ausweitung des CO2-Emissionshandels
auf alle Branchen und Privathaushalte, alle
Emissionen, alle Länder abgegeben. Die quasi
päpstliche Autorität des SVR in der Gemeinde
der Marktgläubigen verleiht dieser Propaganda
Wirkungsmacht. Im Folgenden ein Kommentar zu
dieser Position, beginnend mit der Darstellung
des bestehenden Systems.
1. Das CO2-Emissionshandelssystem
der EU
Grundgedanke und Konzeption
Der Grundgedanke ist einfach und bestechend:
zugunsten des Klimaschutzes erlaubt der Staat
nur eine beschränkte und jährlich planmäßig und
systematisch sinkende Menge an Emissionen. Um
das zu kontrollieren, bedarf jede CO2-Emission
einer staatlichen Genehmigung. Der Staat gibt
dazu Zertifikate = Erlaubnisscheine für die
Emission einer bestimmten Menge CO2
aus. Jeder CO2-Emittent muss sich
entsprechend seiner Emissionshöhe um
ausreichend viele Zertifikate bemühen (so wie
ein Briefeschreiber pro Brief eine Briefmarke
braucht, wenn er Briefe verschicken =
emittieren will). Das wird anfangs, im Jahr
Null, einfach sein. Aber bei zunehmender
Verknappung müssen sich die Emittenten um die
knappen CO2-Zertifikate streiten.
Zur Bestimmung der richtigen Verteilung haben
wir den Markt, das tolle Wundersystem zur
Lösung aller Probleme. Die knappen Zertifikate
werden also nicht kostenlos für alle verfügbar
sein, sondern im Gegenteil immer teurer werden.
Die Nachfrage ist höher als das Angebot. Das
stellt die Emittenten vor die Frage: Habe ich
eine Möglichkeit, meine CO2-Emissionen
zu reduzieren und damit Zertifikatskosten
einzusparen? Vielleicht durch Einspartechniken,
durch andere Produktionsverfahren, durch den
Austausch von Materialien? Gibt es nutzbare
Forschungsergebnisse, neue Patente? Die Antwort
wird von Betrieb zu Betrieb (v.a. in
verschiedenen Branchen) sehr unterschiedlich
ausfallen. Im Ergebnis, so die
Markttheoretiker, wird überall, wo die CO2-Reduzierung
günstiger kommt als der aktuelle
Zertifikatpreis, eine solche Reduzierung
vorgenommen. In der Folge stellt sich ein
Gleichgewicht ein zwischen Zertifikatpreis und
gerade noch rentablen CO2-Vermeidungskosten.
Das Ziel der CO2-Reduzierung
(begrenzte Zertifikateanzahl) ist zu
gesamtwirtschaftlich günstigsten, niedrigsten
Kosten erreicht worden.
Ein solches System erfordert einen
Handel zwischen den Emittenten: Einer
mit einem Zertifikateüberschuss (sei es durch
Produktionskürzung oder durch technische
Änderungen) kann seine überschüssigen
Zertifikate an einen anderen mit einem
Mehrbedarf verkaufen. Dafür wurden
spezialisierte Börsen eingerichtet (die EEX in
Leipzig und die ICE in London). So bildet sich
ein Zertifikatpreis, den die Emittenten mit
ihren CO2-Reduzierungskosten
vergleichen können.
Das EU-Emissionshandelssystem EU-ETS (Emissions
Trading System) umfasst 31 Länder: Die EU28,
Norwegen, Schweiz, Liechtenstein. Es beschränkt
und konzentriert sich auf die großen
Emittenten aus der Industrie (Stahl,
Papier, Chemie u.a.) und der Energiewirtschaft
(Strom). Seit einigen Jahren ist auch die
EU-Binnenluftfahrt dabei. Das sind 11.000
Betriebe, davon 1900 in Deutschland. Dadurch
werden etwa 50 % der gesamten CO2-Emissionen
in diesem Gebiet erfasst – weil das EU-ETS
praktisch nur CO2 betrifft, sind das
etwa 40 % bis 45 % aller THG-Emissionen. Weil
die deutschen Anlagen sehr groß sind (v.a. die
vielen riesigen Braunkohle-Kraftwerke), liegt
der deutsche Anteil an den vom EU-ETS erfassten
Emissionen bei etwa 25 %, bei der Anzahl der
Anlagen dagegen bei etwa 17 %.
Die vielen Millionen von kleinen
Emittenten (Haushalte, Autofahrer,
Kleinunternehmer, öffentliche Einrichtungen)
werden von dem ETS-System nicht erfasst. Die
auf sie zielende Klimapolitik besteht aus einer
Vielzahl von unterschiedlichsten Maßnahmen,
etwa zur Wärmedämmung, Solarförderung,
Abwärme-Rückgewinnung, CO2-Preis,
Strompreisaufschläge usw. Für diesen Bereich
wird derzeit die Einführung eines CO2-Preises
vorbereitet, siehe dazu „Die kommende
CO2-Abgabe – ein Fortschritt für die
Klimapolitik?„.
Es gibt in der EU also zwei klar getrennte
Emissionsbereiche, die von der Klimapolitik
völlig unterschiedlich angesprochen werden.
^2005 wurde das System eingeführt. In der
ersten Handelsperiode 2005-2007, eine Art
Testlauf, wurden praktisch alle Zertifikate
kostenlos vergeben. Seit der dritten
Handelsperiode wird ein zunehmender Anteil über
Auktionen an den genannten Börsen versteigert,
also zum Marktpreis abgegeben.
Im Überblick wurden folgende
Zertifikatemengen (ein Zertifikat
steht für die Erlaubnis, eine Tonne CO2
zu emittieren) ausgegeben bzw. werden geplant:
Periode I,
2005-2007: durchschnittlich 2150 Mio. pro
Jahr, zu fast 100 % kostenlos.
Periode II,
2008-2012: durchschnittlich 2080 Mio., zu
über 90 % kostenlos.
Periode III,
2013-2020: durchschnittlich 1950 Mio.,
erstmalig mit der Vorgabe einer jährlichen
Reduzierung um 38 Mio., d.h. 2013: 2083 Mio.,
2020: 1817 Mio. Der Anteil der kostenlosen
Zertifikate sinkt von 80 % auf 30 %,
Zertifikate für die Stromwirtschaft sind
nicht mehr kostenlos, außer in Polen.
Periode IV,
2021-2030: weitere Reduzierung um jährlich 48
Mio., d.h. 2021: 1769 Mio., 2030: 1337 Mio.
Die kostenlose Zuteilung sinkt von 30 % auf
null.
Es gibt folgende Ausnahme für die kostenlose
Zuteilung: Industriebetriebe, die unter starker
Importkonkurrenz stehen, die also von billigen
Importen aus Ländern ohne Klimaschutzkosten
bedroht werden, erhalten weiterhin alle
Zertifikate kostenlos, soweit sie nach dem
besten Stand der Technik (so genannter
Benchmark) unabdingbar sind.
Diese Entwicklung der Zuteilungen zeigt bereits
das totale Versagen des ETS als
klimapolitisches Instrumentarium:
von 2005 bis
2012 ein Rückgang von 2150 auf 2080 Mio.:
minus 70 Mio. = 3 % in 7 Jahren,
von 2012 bis
2020 ein Rückgang auf 1817 Mio.: minus 263
Mio. = 13 % in 8 Jahren,
von 2020 bis
2030 ein (geplanter!) Rückgang auf 1337 Mio.:
minus 520 Mio. = 26 % in 10 Jahren.
Nicht nur, dass die halbwegs nennenswerten
Reduzierungen erst für 2020 ff. geplant sind,
auch das höhere Tempo im kommenden Jahrzehnt
reicht bei weitem noch nicht für eine
Dekarbonisierung bis 2050. Geschweige, dass zur
Einhaltung eines 1,5°C-Limits die
Dekarbonisierung bis 2035 erreicht sein müsste.
Aber es kommt noch viel bizarrer.
Clean-Development-Mechanism CDM
Für das Klima ist es egal, an welcher Stelle
auf dem Erdball CO2 emittiert oder
auch die Emission reduziert wird. Daher wurde
der obige Grundgedanke ausgedehnt: Wenn jemand
nachweist, dass er in einem anderen Land
THG-Emissionen reduziert hat – wobei
vorausgesetzt wird, dass diese Reduzierung eine
besondere sein muss, eine zusätzliche,
die ansonsten unterlassen worden wäre – dann
kann er diese Reduzierung auf den eigenen
Zertifikatebedarf anrechnen lassen. Oder an
einen Interessenten verkaufen. In diesem Umfang
kann man sich also ETS-Zertifikate sparen.
Hierzu wurden zwei Ansätze kreiert, zum einen
der Joint-Implementation-Ansatz JI, bei dem es
um Reduzierungsmaßnahmen in Industrieländern
geht: er blieb mit etwa 10% aller Maßnahmen
ziemlich unbedeutend. Anders der CDM-Ansatz,
der für Maßnahmen in Entwicklungs- und
Schwellenländern steht. 2006 begann der Run,
bis 2013 wurden mehr als 7000 CDM-Projekte
zugelassen (seither nur noch wenige), die
zusammen bis heute ein Äquivalent von knapp
2000 Mio. CO2-Zertifikaten
erreichten, also etwas mehr als einen
EU-Jahresbedarf. Durchgeführt wurden rund 70 %
der Projekte in China und in Indien, auf
Brasilien an dritter Stelle entfielen nur 5%.
Eine Reihe von Finanzgesellschaften
spezialisierte sich auf solche Geschäfte. Es
war hoch lukrativ, günstige THG-Reduzierungen
in Schwellenländern zu inszenieren und sie hier
in EU-Zertifikaten einzutauschen. Die Kontrolle
der Behörden hielt kaum Schritt mit dem Boom.
Die oben genannte Anforderung der
Zusätzlichkeit dieser Projekte wurde häufig
nicht eingehalten. Nach diversen
Nachuntersuchungen bestehen bei 40 % aller
Projekte, möglicherweise sogar bei bis zu 85 %,
starke Zweifel an der Zusätzlichkeit. Dazu:
Mehr als die Hälfte der Zertifikate wurde
erworben mit der Reduzierung von Nicht-CO2-Gasen
(extrem klimaschädliche Hydrofluorkarbonate
u.a.), wobei in einigen Fällen der Verdacht
entstand, dass die zu vernichtenden
Industriegase erst eigens dafür in neuen
Anlagen erzeugt wurden.
Offensichtlich brachte der CDM-Mechanismus in
erster Linie eine riesige Welle an
Geschäftemacherei ins Rollen, mit
wenig Nutzen für die armen Länder, mit höheren
Überschüssen und daher verschärfter
Wirkungslosigkeit der Zertifikate in der EU,
aber mit ordentlichen Profiten für die wie
Pilze aus dem feuchten Boden geschossenen
CDM-Projektgesellschaften. Kein Wunder, dass
zur Hochzeit dieses Booms diese Projektierer
zur Interessenwahrung ein Mehrfaches an
Lobby-Vertretern auf die jährlichen
internationalen Klimagipfel schickten im
Vergleich zu den meisten nationalen
Delegationen. Der ganze Mechanismus war, wie
immer, wenn in Märkten Extraprofite locken,
durchwirkt von schwer zu kontrollierenden
Betrügereien.
Das ist mittlerweile Geschichte, die EU hat die
Notbremse gezogen: Seit 2013 gibt es keine
Gutschriften mehr für
Industriegas-Reduzierungen und auch nicht mehr
für große Staudammprojekte, und generell nur
noch für Projekte, die in der Gruppe der
ärmsten Entwicklungsländer (derzeit 49)
durchgeführt werden. Das führte dazu, dass in
den letzten Jahren nach dem Auslaufen alter
Projekte praktisch gar keine CDM-Projekte mehr
angemeldet wurden.
Zertifikateüberschuss und Systemzusammenbruch
Überschüsse und Preise der Zertifikate
Quelle: Deutsche Emissionshandelsstelle/ ISW
Die Grafik zeigt, wie der Grundgedanke auf
sukzessive Absenkung der Emissionen pervertiert
wurde – ein Lehrstück an verlogener,
kapitalfreundlicher, promonopolistischer
Pseudo-Klimaschutzpolitik.
Bereits in der Periode I (2005-2007) lag der
Bedarf der Emittenten bei nur 94 % der
ausgegebenen Zertifikate. Ein Überschuss lief
auf. In Periode II (2008-2012) rügte die EU
beispielsweise die Bundesregierung wegen
überhöhter Anmeldungen und kürzte den von ihr
angemeldeten Bedarf für die deutschen
Emittenten um 6 %. Dennoch wuchs der
Überschuss, wie die Grafik zeigt, in riesige
Höhen. Als Ursachen für die Überschüsse
sind laut der Deutschen Emissionshandelsstelle
(der deutsche Teil der EU-ETS-Organisation) zu
nennen:
In allen
bisherigen Handelsperioden wurden den
Anlagenbetreibern, gemessen an ihrem Bedarf,
viel zu viele Zertifikate bereit gestellt.
Überschüssige Zertifikate wurden nicht nach
Ablauf des Zuteilungsjahres ungültig, sondern
sie konnten quasi auf immer weiter
vorgetragen werden.
In der scharfen
Wirtschaftskrise 2008 sanken die Emissionen
viel stärker (und stiegen anschließend viel
langsamer auf das alte Niveau) als erwartet,
wobei das Zertifikateangebot dieser
Entwicklung eben nicht angepasst wurde.
Die Anzahl der
jährlich ausgegebenen Zertifikate ist fix:
Eine Emissionsänderung aufgrund
Konjunkturkrisen oder eines Booms, einer
Produktionsverlagerung ins Ausland oder
umgekehrt, oder einer konkurrierenden
energiepolitischen Maßnahme
(Windenergieförderung zulasten fossiler
Kraftwerke) änderte nichts am Ausgabevolumen.
Ein dramatischer Konstruktionsfehler. Erst
bei der aktuellen Kohleausstiegsdiskussion
wird überlegt, die durch einen forcierten
Ausstieg frei werdenden Zertifikate vom Markt
zu nehmen.
Wie
dargestellt, konnten die Emittenten CDM- (und
JI-)Gutschriften nutzen. Diese liefen
ausnahmslos in den eh schon bestehenden
Überschuss.
In der Summe stiegen die Überschüsse (siehe
Grafik) auf 2100 Mio. Zertifikate, was mehr als
einem kompletten Jahresbedarf entspricht – nach
anderer Zählung sogar auf drei Mrd.
Infolgedessen brachen die Zertifikatpreise, die
in der ersten Periode noch in der Größenordnung
bis 30 Euro pro Zertifikat lagen (entsprechend
also 30 Euro pro Tonne CO2-Emission),
völlig ein. Sie fielen und lagen jahrelang in
der Größenordnung von 5 Euro.
Mehr als ein Jahrzehnt war die EU und die sie
tragenden Regierungen völlig unfähig – und vor
allem wohl völlig unwillens – an dieser
Entwicklung etwas zu ändern. Statt, wie der
Grundgedanke forderte, das Ausmaß der
Emissionen Jahr für Jahr zu drosseln, gab die
EU Jahr für Jahr überhöhte
Emissionserlaubnisse. Statt den Preishebel für
eine forcierte Einsparung zu nutzen, machte die
EU das Tor weit auf für eine riesige
Geschäftemacherei, die mit Klimaschutz rein gar
nichts zu tun hat. Dieses System hat
über viele Jahre hinweg nicht mal ein Minimum
an Anreiz zur Emissionsreduzierung ausgeübt.
Eine auch für den Gutwilligsten völlige
Pervertierung von Klimaschutz, die
offensichtlich rein aus Hörigkeit und Treue zum
Profitmaximierungszwang zu verstehen ist.
Mühsamer Neuaufbau mit
Marktstabilisierungsreserve MSR
Diese Perversion konnte auch von den
unbedingtesten Kapitalfreunden nicht mehr offen
gerechtfertigt werden. Es musste eine Revision
her. Zunächst wurde 2013, wie schon
angesprochen, das CDM-Geschäft abgeregelt und
faktisch auf null gebracht. Damit entfiel
allerdings auch die sehr attraktive
Selbstbeweihräucherung, wie toll man den armen
Ländern doch helfe.
Dann folgte jahrelang eine Vielzahl von
EU-Konferenzen, um das System neu zu gestalten.
Zunächst fand man das Backloading: Von 2014 bis
2016 wurde die Versteigerung von insgesamt 900
Mio. Berechtigungen zurück gehalten. Sie
sollten erst nach Abbau der Überschusssituation
auf den Markt gebracht werden.
Im Jahr 2017 einigte man sich auf eine
gründlichere Reform, und die Zertifikatpreise
begannen zu steigen (heute bei 30 Euro, also
immer noch nicht mehr als der Mindestbetrag,
der bei der CO2-Steuer-Diskussion
genannt wird). Es wurde eine
Marktstabilitätsreserve MSR
vereinbart, die seit 2019 installiert ist.
Zunächst wurden die obigen Backloadingmengen in
die MSR umgebucht. Dann werden künftig die neu
zu vergebenden Auktionsmengen gekürzt, wenn die
Überschüsse auf dem Markt zu hoch sind: Zu hoch
sind die Überschüsse (= gültige Zertifikate
minus Bedarf), wenn sie höher als 833 Mio.
sind. Das heißt, ein Überschuss von einem
halben Jahresbedarf gilt als unbedenklich.
(Nur!) ein Viertel von dem darüber liegenden
Überschuss geht dann in die MSR. Die
Überschüsse können auch zu niedrig liegen für
einen nach EU geordneten Markt: Wenn sie unter
400 Mio. liegen, dann werden sie durch Entnahme
aus der MSR aufgestockt, es kommen dann
Extra-Zertifikate ins staatliche
Auktionsprogramm. Die MSR ist also die
Reserve zusätzlich und hinter den Überschüssen
auf dem Markt. Sie soll maximal eine
Jahresmenge enthalten, darüber hinaus gehende
Mengen werden endgültig ungültig. Dieses ist
der wesentliche preissteigernde Punkt: Ganz am
Ende sollen also neuerdings überschüssige
Zertifikate tatsächlich irgendwann mal
annulliert werden.
Das ist alles vielleicht ein etwas
kompliziertes Verfahren. Letztlich steht die
offizielle Prognose, dass gegen Mitte
der 2020er Jahre die
Überschusssituation sich „normalisiert“
haben wird, d.h. unter 833 Mio. liegen
wird.
20 Jahre nach Beginn des Zertifikatesystems
werden wir dann (vielleicht!) so weit sein,
dass das System wieder bzw. besser gesagt
überhaupt zum ersten mal „normal“ funktionieren
soll, so wie propagiert. Was für ein ungeheures
Versagen kapitalistischer kapitalfreundlicher
Politik! Was für eine ungeheure und
schamlose Zeitverschwendung angesichts der
Klimaprobleme, angesichts dessen, dass jedes
einzelne Jahr dringend zählt und brennt!
Bürokratie
Wenn die Marktwirtschaftler über nicht-private,
öffentliche oder gar sozialistisch verdächtige
Wirtschaftsformen herziehen, dann fällt ihnen
als besonders schlimmes Charakteristikum die
staatliche Bürokratie ein: Dass der Staat
überall vorschreibt und gängelt.
Schauen wir uns das EU-Emissionshandelssystem
an. In einer sicher nicht vollständigen
Übersicht führt die Deutsche
Emissionshandelsstelle auf:
rund 30
Gesetze, Verordnungen, Erlasse der EU, rund
35 der Bundesregierung, rund 10
internationale Vereinbarungen, alles um das
EU-ETS auf die Beine zu stellen und zu
steuern,
rund 60
wesentliche Gerichtsurteile deutscher
Gerichte und rund 35 vom Europäischen
Gerichtshof (und vergleichbaren EU-Gerichten)
zur Klärung der ETS-Fragen,
einen
75-seitigen eng bedruckten Leitfaden für
Antragsteller auf eine Genehmigung eines
CDM-Projektes,
eine
Gebührenverordnung im Rahmen der CDM-Projekte
mit 15 verschiedenen Gebührenarten.
Ein reiches Feld für hochbezahlte
Anwaltskanzleien – sei es bei der Formulierung
der Politik, sei es bei ihrer Interpretation.
Entgegen der üblichen Propaganda sind
detaillierte Vorschriften und ihre Überwachung
generell unabdingbar in der Marktwirtschaft, um
die allgemein sehr starke Tendenz zu
Betrügereien zugunsten der eigenen
Profitmaximierung wenigstens einigermaßen in
Schach zu halten. Tatsächlich war oder ist es
beim ETS immer noch zu wenig, um die hohe
kriminelle Energie einiger Marktteilnehmer zu
unterbinden: Vor etlichen Jahren kam es zu so
genannten Karussellgeschäften. Jahrelang wurden
Emissionsrechte über EU-Landesgrenzen hin und
her verkauft und die dabei anfallende
Mehrwertsteuer unrechtmäßig vom Finanzamt an
den Händler erstattet. Das erinnert an den
Cum-Ex-Steuerbetrug-Skandal. Den großen
EU-Ländern entstand dadurch ein Steuerverlust
von 5 Mrd. Euro, davon in Deutschland 850 Mio.
Euro. Abhilfe wurde geschaffen dadurch, dass
die Zertifikate mehrwertsteuerfrei gestellt
wurden.
2. Der Sachverständigenrat beschäftigt sich mit
Klimapolitik
Aufbruch zu „neuer Klimapolitik“
Der Sachverständigenrat für Wirtschaft (SVR)
hat im Juli 2019 ein Sondergutachten
angefertigt mit dem Titel „Aufbruch zu einer
neuen Klimapolitik“. Alles, was bisher war, sei
zu wenig vom Vertrauen in die Kräfte der
Marktwirtschaft geprägt. „Kleinteiliges
Vorgehen in Deutschland ist
ineffizient“ (Kernbotschaft). Mit
„Kleinteiligkeit“ meint er eine differenzierte,
situationsangepasste Klimapolitik mit
Förderungen, Geboten, Verboten, Anreizen,
Steuern und Subventionen – und mit dieser
Zuschreibung fasst der SVR die gesamte Energie-
und Klimapolitik der Bundesregierung zusammen
und verdammt sie pauschal. Stattdessen: „Der
volkswirtschaftlich kosteneffizienteste Weg
ist, einen sektorübergreifend
einheitlichen Preis für
Treibhausgasemissionen zu etablieren“
(Kernbotschaft). Denn: „Ein
Preis für CO₂-Emissionen kann
Einzelentscheidungen der Haushalte und
Unternehmen effizient koordinieren und ist
daher einer kleinteiligen Steuerung überlegen„.
Daher sei die „historische
Chance“ zu nutzen für einen völligen
Umbruch: „Diese
Neuausrichtung sollte die einer kleinteiligen
Zielsetzung folgende Detailsteuerung ersetzen„[!].
Also: Die Förderung regenerativer Energien und
der Kraft-Wärme-Kopplung nach dem EEG bzw. dem
KWKG: überflüssig, teuer, streichen.
Emissionsgrenzen für Autos, Wärmedämmstandards
für Gebäude: alles bürokratisch teuer, es
reicht der einheitliche Preis für
CO₂-Emissionen.
Diese „neue Klimapolitik“ will „rasch
das Ideal des vollumfassenden
europäischen Emissionshandelssystem“
einführen, das heißt einen „alle Sektoren und
alle Mitgliedstaaten umfassenden
Emissionshandel“ (Kernbotschaft). Das
bestehende ETS-Zertifikatesystem für die
Großemittenten soll ausgedehnt werden auf alle
Emittenten in allen EU-Staaten. Man hätte dann
EU-weit den „sektorübergreifend einheitlichen
Preis“. „Ein alle Sektoren und alle
Mitgliedstaaten umfassender Emissionshandel
stellt sicher, dass alle europäischen
Emissionsziele erreicht werden“
(Kernbotschaft). Ist doch alles so einfach –
deshalb weg mit der ganzen kleinteiligen
Klimapolitik.
Spätestens 2030 muss dieses „vollumfassende“
System stehen, die Wartezeit bis zu seiner
Einführung könnte man noch mit einer CO2-Steuer
überbrücken. Hier haben wir den
Marktdogmatismus in Reinform. Der
(Fast-)Nachtwächterstaat benennt einen Preis
für die Emission von CO₂ – oder besser noch: er
schafft ein Zertifikatesystem und benennt dann
die jährlich zulässige Menge von
Verschmutzungsrechten – und den Rest machen die
Marktkräfte.
Abwegige Vorstellung eines „vollumfassenden
Zertifikatesystems“
Bei aller Dogmatik merken auch die „Fünf
Weisen“, wie irre ein Zertifikatesystem für die
gesamte Gesellschaft wäre. Ein solches System
bedeutet, dass strikt jeder Emittent, also
jeder Energieverbraucher, für sich entscheiden
muss, wie viele Zertifikate er für das laufende
Jahr kaufen will, oder ob er alternativ seine
Emissionen (durch Verzicht oder Substitution
oder durch eine Einsparinvestition)
einschränken will. Statt wie bisher 11.000
Zertifikatekäufer würde es dann 500 Millionen
Teilnehmer an den Zertifikate-Auktionen geben.
Jeder ist (potentieller) Teilnehmer am
Zertifikatemarkt. Und jeder heißt hier jeder
(erwachsene) Einwohner: jeder Selbständige mit
Betrieb, jeder Autofahrer, jeder
Wohnungsheizer, eigentlich auch jeder Mieter,
der die Heizung aufdreht oder badet und damit
direkt Energie verbraucht. An dieser
Vorstellung wird deutlich, zu welch
hemmungslosem Organisations-Bürokratismus die
Überführung von Lehrbuchmärkten in die Praxis
führen würde.
Der SVR schlägt daher etwas bescheidener vor,
dass „stellvertretend“ (!) für die einzelnen
Autofahrer und Wohnungs-Beheizer Tankstellen
und Brennstoffhändler die Zertifikate kaufen
und die Zertifikatekosten auf ihre Preise
aufschlagen sollten. Das wäre dann aber
kein wirkliches Zertifikatesystem mehr, sondern
– für die Millionen End-Energieverbraucher –
faktisch ein CO2-Steuersystem, bei
dem die Steuerhöhe von der Tankstelle und
einzelnen Versorger-Unternehmen festgelegt
würde, sozusagen ein privates Steuersystem. Die
Quasi-Steuerhöhe ist dann für jeden Autofahrer
und Heizer unterschiedlich, je nachdem wann und
zu welchen Preisen sich sein Versorger mit
Zertifikaten eindeckt oder welche nachkauft.
„Schwierige“ Probleme sieht der SVR-Bericht
auch im Bereich Landwirtschaft (immerhin etwa 7
% der THG-Emissionen) wegen der Vielzahl
kleiner Betriebe und wegen der hier
konzentrierten Treibhausgase Methan und
Lachgas. Der SVR kapituliert hier mit seinem
Zertifikatesystem und setzt stattdessen auf die
Gemeinsame Agrarpolitik der EU, auf eine
MWSt-Änderung und schließlich auf die „Aufklärung
von Konsumenten über eine gesündere und
klimafreundlichere Ernährung„.
Ernährungsratgeber, wenn’s mit dem
Emissionshandel nimmer flutscht! Was für eine
grandiose Kapitulation!
Seltsame Vorstellung von Marktwirtschaft, in
der rigide Preisgrenzen eingezogen werden
müssen und eine staatliche Stelle die Preise
laufend korrigierenhi muss. Vielleicht sollte
man die „Fünf Weisen“ nochmal das erste
Semester an der Uni wiederholen lassen, denn:
Kern der Marktwirtschaft ist bekanntlich, dass
sich die Preise frei bewegen und dadurch den
Ausgleich von Angebot und Nachfrage bewirken
können. All diese Possen und Sonderheiten
zeigen, dass das Wesen von Lehrbuchmärkten und
das Wesen von realen Märkten miteinander nichts
gemein hat.
Was den SVR nicht interessiert
Das SVR-Gutachten umfasst 130 Seiten. Es steht
so gut wie nichts drin zu den Themen:
Markteffizienzprobleme. Der SVR
sieht hier offensichtlich keinerlei Probleme,
Märkte wirken immer effizient und optimal –
das kommt laufend wiederholt. Tatsächlich
reagieren wirkliche Märkte viel zögerlicher,
abwartender als der Lehrbuch-Dogmatismus
vorgibt. Wirkliche Märkte funktionieren
holprig und massiv defizitär statt effizient,
wie viele Ingenieurs-Untersuchungen immer
wieder bestätigen. So stellte beispielsweise
das Umweltbundesamt fest, dass „innerhalb von
zehn Jahren zusätzlich [!] insgesamt 100
TWh/Jahr an Strom gegenüber dem Trend
prinzipiell wirtschaftlich [!] eingespart
werden könnten“ (Uba 2016). 100 TWh
Einsparung (ein Sechstel des deutschen
Verbrauchs), die rentabel ist, aber dennoch
nicht durchgeführt wird, weil simples
Marktversagen dominiert. Was folgt aus
solchen Alltags-Marktdefiziten für die
angesteuerte THG-Reduzierung? Kann sie so
problemlos funktionieren, wie es der SVR
erwartet? Zu welchen Kosten? So was Banales
interessiert den SVR nicht.
Mit welchen
Zertifikatepreisen muss man rechnen, wenn der
Staat als Zertifikateherausgeber eine
Mengenbeschränkung um 2% oder 5% oder 10% im
nächsten Jahr oder innerhalb von drei Jahren
vorsieht? Wie wie hoch liegt mutmaßlich der
Zertifikatepreis, wenn die Emissionen im Jahr
2035 auf Nettonull gebracht sind, und wie
hoch, wenn man sich Zeit bis 2050 nimmt?
Absolut keine Silbe zu diesen Fragen. Es gibt
keine Diskussion, keine Abschätzung, keine
Prognose der Preiselastizitäten,
also der Nachfragereaktion auf
Preisänderungen. Relevant wäre das, um
soziale und Verteilungs-Auswirkungen zu
analysieren.
Differenzierte Technikförderung:
Solarstrom und Windkraft hätten im SVR-System
mit alleinigem Emissionshandel als
Klimapolitik keine Chance zur Durchsetzung
gehabt, da das in der Entwicklungsphase viel
zu teuer war, also von privater Seite (mit
Profitziel) nie aufgegriffen worden wäre. Das
wäre keine rentable Alternative zu den
Emissionen gewesen. Die lange
Entwicklungsförderung über das vom SVR
verabscheute EEG führte aber dazu, dass wir
heute mit diesen Techniken ein machtvolles
Instrument haben zur Emissionsreduzierung.
Ähnlich auch Elektro-Autos, seien sie mit
Batterie oder Wasserstofftechnik. Desgleichen
neue Stromspeichertechniken,
Power-to-Gas-Techniken, das würde von rein
privater Seite erst entwickelt bei einem
extrem hohen Zertifikatpreis. Staatliche
Förderung und Entwicklung solcher
Technologien führen aber zu sehr viel
früherer Reife und Einsatz. Das ist alles
kein Thema für den SVR.
Wie kann man
den kapitalistischen
konzernfreundlichen Staat dazu
bringen, durch Mengenvorgaben im
Zertifikatesystem die Emissionen gegen den
Widerstand mächtiger Kapitalgruppen schnell
genug herunter zu schleusen – dies angesichts
der Tatsache, dass eben diese
Staatengemeinschaft EU in den letzten 15
Jahren eine Mengenpolitik fuhr, die statt
einer Begrenzung einen gigantischen
Überschuss an Zertifikaten zuließ. Jahr um
Jahr um Jahr immer wieder. Natürlich ist auch
das dem SVR keine Silbe wert.
Das Gutachten ist ein Lehrbuch-Beispiel dafür,
wie unendlich und unglaublich weit die Theorie
von der Effizienz, Stabilität, Optimalität,
Wohlfahrtsmaximierung des Marktmechanismus vom
realen Wirtschaften entfernt ist.
Wir spiegelten den Beitrag
von der
Website des ISW, wo er am 2.9.2019
veröffentlich wurde.
Was ist das
isw?
1990 haben kritische Wirtschafts- und
SozialwissenschaftlerInnen zusammen mit
GewerkschafterInnen in München das isw –
Institut für sozial-ökologische
ErdballWirtschaftsforschung e.V. gegründet.
Seitdem haben wir fast zweihundert Studien
und Berichte veröffentlicht.