NACHRUF
Sergei Biez (17.06.1968-24.03.2019)

von
Ewgeniy Kasakow

10/2019

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Er gehörte zu den ersten Trotzkisten während der Perestroika-Zeit. Über dreißig Jahre versuchte Sergei Biez (Bietz) in Russland eine revolutionäre Partei aufzubauen. Nun ist er in Moskau verstorben.

Der 1968 in Moskau geborene Sergei Nikolaewitsch Biez begann seine politische Aktivität 1989, als während der Perestroika in der Sowjetunion unzählige politische Organisationen jeglicher Couleur entstanden. Biez schloss sich zunächst der „Demokratischen Union“ (DS) an. Diese Organisation, 1988 gegründet von radikalliberalen Ex-Dissidentin Walerija Nowodworskaja zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie das Machtmonopol der KPdSU offensiv herausforderte und galt als die erste oppositionelle Partei in der UdSSR. Innerhalb der DU existierten mehrere Fraktionen – christlich-demokratische, sozialdemokratische, eurokommunistische usw. Der Chemiestudent Biez führte die s.g. „kommunistisch-demokratische“ Fraktion an. Der Organ der Fraktion „Prisrak kommunisma“ („Gespenst des Kommunismus“) erschien in der Auflage von 80.000 Exemplaren, dennoch blieb die Organisation weitgehend marginal.


1.5.2018: Sergey Biec mit der Fahne der
Revolutionären Arbeiterpartei (RRP)
Bildquelle: novayagazeta

1990 initiierte Biez, der sich bereits als Trotzkist betrachtete die „Union der Kommunarden“, an denen diverse radikale Linke mitwirken sollten. Die Programmdokumente entwarf Biez zusammen mit Wadim Damier, der später bekannter anarchosyndiklaitischer Aktivist und Historiker wurde. Doch die Organisation spaltete sich bereits in wenigen Monaten. Die marxistische Fraktion um Biez gründete 1990 eine der ersten Organisationen in der späten Sowjetunion, die sich auf Trotzki berief – das Komitee für die Arbeiterrevolution und den internationalen Sozialismus (KRDMS). Biez war unter anderem für die Herausgabe des Organs des KRDMS „Rabotschja demokratija“ („Arbeiterdemokratie“) zuständig.

Anfang der 1990er Jahre reisten Vertreter verschiedener trotzkistischer Strömungen, Tendenzen und Internationalen in die rasch zerfallende Sowjetunion in der Hoffnung Anhänger zu finden. Die wenigen Trotzkisten vor Ort mussten schwere Wahl treffen, welche internationale Organisation sie sich anschließen. 1991 traf das KRDMS ihre Wahl zugunsten der „Militant“-Tendenz (CWI). Doch bereits 1993 kam es in der Organisation zur einen Spaltung, wobei Biez und seine Fraktion mit der CWI brach.

Im selben Jahr nahm Biez aktiv an den blutigen Kämpfen zwischen den Anhängern des Obersten Sowjets Russlands und den Truppen Präsident Jelzins in Moskau teil. Diese Opposition stellte ein fragiles Bündnis zwischen Jelzins ehemaligen Mitstreiter, Stalinisten, Nationalisten und einigen gemäßigten Linken dar. Während Biez vor dem „Weißen Haus“, in dem das von Jelzin aufgelöste Oberstes Sowjet tagte Barrikaden aufzubauen half, wurde er von Rechtsradikalen, die ebenfalls zu den Verteidigern gehörten, bedroht.

Im Gegensatz zu Erwartungen vieler Trotzkisten wurde Anfang der 1990er Jahre deutlich, dass die Stalinisten zu den stärksten oppositionellen Kraft in Jelzins Russland werden. Alle Versuche sozialdemokratische oder linkssozialistische Parteien aufzubauen sind kläglich gescheitert. In dieser Situation versuchte Biez mit den stalinistischen Organisationen zusammenzuarbeiten, die radikaler als die auf parlamentarische Arbeit orientierte Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) waren: Bewegung „Werktätiges Russland“ um Wiktor Anpilow und Revolutionäre Kommunistische Arbeiterpartei (RKRP). Während Anpilow offen nationalistisch auftrat und zu „Querfront“-Bündnissen bereit war, lehnte die RKRP diese jedoch Linie ab. Ein gemeinsames Feld Arbeitsfeld stellte die kleine Gewerkschaft „Saschtschita“ („Schütz“) dar. War das KRDMS zuerst gegenüber den Stalinisten sehr reserviert und bezeichnete ihre Parteien als „kleinbürgerlich“, begann es später die Konsolidierung der mehr klassenkämpferisch orientierten Parteien zu forcieren. Doch die Bedeutung der kleinen stalinistischen Gruppen sank zunehmend zu Gunsten der KPRF. Biez versuchte eine Zeit lang gezielt auf die stalinistischen Jugendorganisationen einzuwirken und könnte dabei auch einige neue Mitstreiter gewinnen. Damals fanden sich unter den KRDMS Mitglieder sowohl ehemalige Stalinisten, als auch solche schillernde Persönlichkeiten, wie der Anarchist Ilja Romanow, der später als Terrorist verurteilt für Jahrzehnte in Gefängnisse verschwand oder Boris Stomachin, der sich später als radikaler Liberaler und unkritischer Unterstützer der tschetschenischen „Freiheitskämpfer“ positionierte. Andere Mitglieder beriefen sich teilweise auf verschiedene „Staatskapitalismus“-Konzepte der Analyse der Sowjetunion. 1995 versuchte das KRDMS sich erfolglos mit den Anhängern der Staatskapitalismustheorie von der Marxistischen Arbeiterpartei (MRP) zusammenzuschließen. 1998-2000 wirkte die so genannte „Kollektivistische Fraktion“ um Wladislaw Bugera und Marlen Insarow, die sich auf die Konzepte von Amadeo Bordiga und der „Internationalen Kommunistischen Strömung“ (IKS) beriefen.

Lange Zeit hielt sich Biez von allen Organisationen des internationalen Trotzkismus fern. Nach der Erfahrung mit der CWI wollte er sich keine Internationale anschließen und die Idee von Russland aus eine neu Internationale zu gründen musste schnell verworfen werden. Biez, der sein Studium aufgab (laut anderen Quellen schloß er eine technische Fachschule ab) und nun als Druckereiarbeiter arbeitete, war für seine Begeisterung für die Straßenaktionen bekannt. Ein selbstständiger Theoretiker war er hingegen nicht und blieb den Debatten mit den Intellektuellen eher fern. Auf diesem Feld war die Konkurrenz von der russischen Sektion der CWI wesentlich erfolgreicher.

1999 benannte sich das KRDMS in die Revolutionäre Arbeiterpartei (RRP) um. Zeitgleich fand der Anschluss an das Committee for a Marxist International (CMI) von Ted Grant und Alan Woods statt. Die auf Entrismus orientierte CMI drang die RRP zur Zusammenarbeit mit der KPRF. Zur Beginn des neuen Jahrhunderts stellte Biez fest, dass die KPRF nun nach links gerückt sei und versuchte seine Anhänger davon zu überzeugen, was jedoch zu neuen Spaltungen führte.

Die Moskauer Fraktion der RRP kehrte der CMI den Rücken, die Petersburger Organisation um Alexei Petrow („Iwan Loch“) und Sergei Marski verblieb bei der Grant und Woods. Beide Fraktionen behielten den Namen „RRP“, eine dritte Organisation mit diesem Namen bildete sich in Moskau und Perm, wobei sie sich ebenfalls von allen Internationalen und Tendenzen fernhielt. Infolgedessen erschienen in Russland parallel drei Zeitungen mit dem Namen „Rabotschaja Demokratija“. Zur der Verwirrung trug bei, das der Organ der CWI, „Lewyi Avangard“ ebenfalls noch offiziell unter dem Namen „Rabotschaja Demokratija“ bei der Behörde für Medien registriert war.

Zu wichtigsten Erfolgen der Biez-RRP zählen unbestritten mehrere Streiks bei den Bauunternehmen „Don-Stroj“ im Jahr 2005. Zuvor war die Baubranche, in der viele Migranten beschäftigt weitgehend von den Gewerkschaften abgeschirmt. Am Ende konnten die Beschäftigten sich mit ihren Forderungen durchsetzen.

Von Moskau aus initiierte die RRP ab 2001 die Gründung einer Sektion in Moldawien. Über die in Russland arbeitende moldawische Arbeitsmigranten wurde Entrismus in gerade regierenden Partidul Comuniștilor din Republica Moldova (PCRM) vorbereitet, jedoch existierte die moldawische Organisation lediglich bis 2007.

An den Protesten gegen die Wahlfälschungen 2011-2012 nahm die RRP zwar Teil, Biez allerdings weigerte sich an den Koordinationsrat der Opposition teilzunehmen und kritisierte die Vorstellungen einiger russischer Linke bei dem Aufstand gegen erneute Präsidentschaft von Wladimir Putin, weil es sich um eine Art „neue Februarrevolution“ handele, da die wirtschaftliche Formation diesmal gar nicht zur Disposition stünde. Während die Einigung von allen oppositionellen Strömungen auf dem Minimalkonsens „Für faire Wahlen“ diskutiert wurde, stellte sich Biez auf die Position, jede Wahl, bei der die Bourgeosie mitmachen darf, per Defenition nicht fair sein könne, da die Startbedingungen nun mal ungleich wären.

Im März 2014 überraschte Biez das linke Spektrum, als er und die RRP an der Gründung der Vereinigten Kommunistischen Partei (OKP) teilnahm. Die OKP Entstand durch die Abspaltung des Moskauer Stadtkomitees der KPRF unter Wladimir Lakejew von der Mutterpartei. Die OKP kritisierte die KPRF zwar von links, pflegte jedoch dieselbe Stalin-Nostalgie wie die kleinen KPs der 90er Jahre, ohne eine ähnlich aktive Basis zu haben. Biez wurde in der neuen Partei Sekretär des ZK für die Arbeit mit den Gewerkschaften und den Betriebskollektiven. Die RRP mit einigen Hundert Mitgliedern begann mit den Eintritt in die OKP entristische Arbeit nicht in einer Massenpartei, sondern in einer Splittergruppe, die selbst kaum auf mehrere Tausend kam und bei den Versuchen, die leninistische Linke jenseits der KPRF zu einigen, wenig erfolgreich war. So blieben die RKRP und der aus der Jugendorganisation der „Werktätigen Russland“ entstandene „Linke Front“ unter Sergei Udalzow dem neuen Parteiprojekt fern. Dazu kam, dass der Ukraine-Konflikt für neue Spaltungen sorgte. Während Biez und seine Anhänger für die Feindschaft zu den beiden Konfliktparteien plädierten, unterstützte die Mehrheit der OKP – wie die Mehrheit der „sowjettraditionalistischen“ Linken die „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk.

Im August 2015 verließ die Biez-Fraktion die OKP und verkündete die Wiedergründung der RRP. Bereits ein Jahr später spaltete sich die RRP erneut. Biez war nun wieder auf die Zusammenarbeit mit der KPRF als der größten linken Partei orientiert und plädierte für die Unterstützung deren Kandidaten, den parteilosen Bankier Wadim Kumin, bei der Moskauer Bürgermeisterwahl. Ein Teil der RRP, angeführt unter anderem von Aktivisten der Interregionale Gewerkschaft Arbeiter-Allianz (MPRA) Grigori Siwatschew wollte ihm darin nicht folgen und erklärte das ZK für abgesetzt. Es kam zu parallelen Parteikonferenzen und Konstituierung von zwei parallelen ZKs.

Bevor der Konflikt in der RRP geklärt werden konnte, erlag Sergei Biez am 24. März 2019 im Alter von 50 Jahren seiner Krebserkrankung. Als einer der ersten Trozkisten in der UdSSR seit der Zerschlagung der linken Opposition unter Stalin erlangte er international wenig Bekanntheit. Von allen trotzkistischen Strömungen konnte seine RRP seine wohl am besten mit den sowjetnostalgischen Strömungen, die die Linke in Russland dominieren, zusammenarbeiten. Den neueren Strömungen aus dem Westen, den Themen der „Neuen Sozialen Bewegungen“ konnte er dagegen wenig abgewinnen. Seine Kritiker erkannten sein persönliches Charisma, attestierten ihm aber einhellig den Hang zum autoritären Führungsstil. Er setzte viele Hoffnungen auf die Jugend und konnte bei dieser Zielgruppe Erfolge erlangen. In der wiedergegründeten RRP waren Schüler und Studenten deutlich überrepräsentiert, was man auch auf den Videoaufnahmen der letzten Konferenzen sehen kann. Doch die Organisationserfolge blieben meist von kurzem Dauer und wurden durch die Spaltungen wieder zunichte gemacht. Einen nennenswerten Beitrag zur Analyse der sowjetische Gesellschaft konnte Biez nicht leisten und blieb daher abseits von der internationalen trotzkistischen Debatte.

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