Psychologie ohne Logos

von Wilma Ruth Albrecht

 

10/2019

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Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Der Menschen allerhöchste Kraft,
Laß nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken,
So hab ich dich schon unbedingt“


Johann Wolfgang Goethe: Faust I: 1851/52

«Gefährlich ist´s den Leu zu wecken
Verderblich ist des Tigers Zahn,
Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn“


Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke 1799

FREUD Euch des Lebens
Solange Ihr JUNG seid.
Wenn Ihr erst REICH seid
Werdet Ihr FROMM.


Ernst-Ulrich Pinkert: Psychologisches Gedicht, 1982


I. Zur gesellschaftlichen Funktion von Psychologie
II. Zum negativen Menschenbild von Psychologie
III. Idealismus im neurowissenschaftlichen Gewand
IV. Zum humanistischen Menschenbild der Aufklärung
V. Sinne und Wahrnehmung
VI. Bewusstsein und Verstand
VII. Dialektik der Vernunft
VIII. Praktische Vernunft und Ästhetik
IX. Verrücktheit als methodische Störung der Vernunft
X. Zur Rückkehr des Logos

I.

Vor mehr als fünfzig Jahren konstatierte Peter R. Hofstätter, auf siebzig Jahre seiner Disziplin, der Psychologie, rückblickend, dass „unsere Bemühungen um die Gegenstände der Psychologie noch kaum das Niveau der Physik Newtons und seiner Zeitgenossen erreicht haben“.(1)

Hofstätter führte diesen Tatbestand darauf zurück, dass die Psychologie als Wissenschaft es mit drei Aspekten zu tun habe: den Erlebnissen von Menschen, dem Verhalten von Menschen und mit von Menschen geschaffenen Gebilden wie Sprache, Kunstwerke und soziale Institutionen, die in wechselseitiger Abhängigkeit ständen. Folglich schließe Psychologie ein oder beziehe sich auf die drei großen Wissenschaftsgruppen: Als Naturwissenschaft (Biologie, Physiologie und Neurologie) versuche sie die Wechselwirkung zwischen Erleben und Verhalten aufzuklären, als Sozialwissenschaft befasse sie sich mit dem Verhalten in sozialen Institutionen und als Geisteswissenschaft mit dem Erleben in diesen.

“Die besondere, manchmal zur Verzweiflung Anlaß gebende Schwierigkeit der Psychologie ist darin zu erblicken, daß ihre Fragestellungen in die Bereiche sämtlicher Disziplinen hineinführen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer äußerst delikaten Balance zwischen engem Spezialistentum und uferlosem Dilettantismus.”(2)

Dieses Dilemma ist jedoch ein Konstitut der Disziplin Psychologie, die das religiöse und sozialethische Vakuum, das Säkularisierung, Kapitalismus und Industrialisierung mit sich brachten, füllen sollte und wollte.

Nachdem sich mit der Neuzeit die Vorstellung von der Einheit von Körper und Seele auflöste und sich die Anschauung durchsetzte, dass im Gehirn der Sitz von Verstand und Gefühl ist, erkämpfte sich im 20. Jahrhundert die Psychologie gegen die Philosophie die Deutungshoheit über Denk-, Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen, definierte als Psychiatrie normabweichendes Denken und Verhalten als “Geisteskrankheit” und bot sich als “Heilkunst” an, diese im Sinne der herrschenden Kräfte der Gesellschaft zu verwalten und zu “therapieren”.

Psychologie konnte und kann diese herausragende Position im Wissenschafts- und Alltagsbetrieb nur erlangen, weil sie ohne einheitliches theoretisches Fundament auf praktisch verwertbare Erkenntnisse der Pathologie, Physiologie, Neurologie, Biologie, Physik, Technik und empirischen Verhaltensuntersuchungen etc. zurückgreift, diese für verschiedene Institutionen und Produzenten instrumentell nutzbar aufarbeitet und anbietet, parallel Allianzen mit einflussreichen Organisationen und Gruppen schloss und schließt und sich selbst als Marktprodukt anbietet und verwertet.(3)

Damit entwickelte die Psychologie sich zu einem diffizilen Herrschaftsinstrument, um die Funktionsfähigkeit des einzelnen im Sinne einer kostengünstigen gesellschaftlichen und ökonomischen Ein- und Ausgliederung sowie Zuweisung vorzunehmen. So gewann und gewinnt sie z. B. als angewandte Militär-, Arbeits-, Schul-, Konsum- und Wirtschafts-Psychologie an gesellschaftlichem Einfluss und tarnte sich als wissenschaftlich-ärztliche Heillehre.

Bezeichnenderweise etablierte sich die Psychologie als eigenständiges Fach im nationalsozialistischen System, als ihre Verwertungsfunktion als diagnostisches und anwendungsorientiertes Instrument erkennbar wurde. So wurden Psychologiediplom und Prüfungsordnung in Deutschland 1941 eingeführt und mit den “wachsenden Anforderungen, die der Staat, die Wehrmacht und die Wirtschaft an die Psychologie stellen“, begründet. “Vorausgegangen waren ihr die neuen Laufbahnbestimmungen für Wehrmachtspsychologen von 1937, die den Abschluss eines Universitätsstudiums in Psychologie vorschrieben.“(4)

Die damals vorgenommene Aufteilung der Disziplin in Teilfächer wirkte nach und prägt noch heute die gültigen Prüfungsordnungen, allerdings wurde die damals noch vorherrschende geisteswissenschaftliche Psychologie nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine positivistische Psychologie ersetzt, die experimentell “die Realität aus der Methode ableitet”(5) und in der Hochschulausbildung eine “Kontrollmentalität” fördert, wobei im Zusammenhang mit der Computertechnik das Kontrolldenkens nun auch auf die Innerlichkeit des Menschen zielt: “Nicht nur das Verhalten, sondern auch ihr Bewußtsein soll kontrollierbar maschinisiert werden.”(6)

II.

Innerhalb des Fachs Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft haben sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert drei Hauptrichtungen ausgebildet; sie versuchen, die „außerhalb des generellen Bewusstseins gelegenen Vorgänge begrifflich zu fassen“:

  • Behaviorismus,

  • Gestaltpsychologie und

  • Tiefenpsychologie.

Während der Behaviorismus sich auf die durch einen außenstehenden Beobachter feststellbaren Verhaltensweisen von Lebewesen konzentriert und mit den Kategorien von Reiz, Reaktion und ihren Abhängigkeitsgesetzen arbeitet, hebt die Gestalt- oder Ganzheitspsychologie als deskriptive Theorie von Wahrnehmen und Erleben auf die ganzheitliche Struktur des Erlebens ab und beschäftigt sich hauptsächlich mit Wahrnehmung von Scheinbewegungen und optischen Täuschungen, um Gestaltgesetze zu formulieren; dabei gilt der Emotionalismus und Antirationalismus als „Grundüberzeugung der Schule“ (Albert Wellek). Auch die Tiefenpsychologie interessiert sich für die emotionale und unbewusste Seite des Denkens und Handelns, die - wie sie glaubt - z.B. von Trieben (Todestrieb, Sexualitätstrieb), frühen Erfahrungen oder gesellschaftlichen Mythen gesteuert werden.

Die philosophische bzw. erkenntnistheoretische Fundierung dieser ´bürgerlichen´ Psychologie beruht zunächst auf der „imperialistischen Lebensphilosophie“(7), sei es in Form der Phänomenologie (Edmund Husserl, Martin Heidegger), sei es der Existenzphilosophie (Karl Jaspers) oder sei es heute eines von der Biologie übernommenen konstruktivistischen Konzepts. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Strömungen in der Psychologie, dass sie Unerkennbarkeit und Nichtexistenz einer vom Bewusstsein unabhängigen objektiven Wirklichkeit als grundlegendes Axiom verkünden, ein subjektivistisches, dazu typischerweise negatives (für die Anhänger selbst jedoch elitäres) Menschenbild verkünden und sich methodologisch entweder im angeblich „reinen Empirismus“, tatsächlich einer künstlich arrangierten Experimentalpsychologie (Tier- und Laborexperimente) oder im mythisch-mythologischen intuitivem Erfassen der Wesenssuche erschöpfen.

Die von diesen Positionen abgeleitete ´bürgerliche´ Psychiatrie interessiert sich folglich vor allem für das „Unnormale“, „Kranke“, „Schwache“, „Degenerierte“, „Irrationale“, „Egoistische“ des Menschen. Durch den ständigen Blick auf diese negativen Aspekte humaner Existenz werden diese verstärkt und in ein asymmetrisches symbiotisches Arzt-Patient-, Therapeut-Klient - Verhältnis eingebunden, in dem es dem Arzt als/und Therapeuten zukommt, das Verhalten, ja selbst das Bewusstsein seines Patienten zu kontrollieren und zu ändern:

„Anstatt über die Befreiung des Menschen von äußeren und inneren Zwängen nachzudenken, verwandeln Psychologen seine Psyche in das Objekt einer autoritären Kontrollwut.“(8)

Hierzu dienten und dienen bis heute chirurgische Eingriffe am morphologischen gesund erscheinenden Gehirn, Schocktherapien (Elektro-, Cardiazol- und Insulinschock), die Verabreichung von chemischen Mitteln, sog. Neuroleptika (Chlorpromazin, Haloperiodol) und Antidepressiva (Hadol, Modicate, Thorazin, Mood Modifier Lithium) und „psychologische Foltermethoden“ (Deprivationstechniken, Hypnosetechniken, Interaktionstechniken, Interviewtechniken und Kommunikationstechniken), um Angst zu erzeugen, Gewalt auszuüben und irreführende Täuschungen zu praktizieren, die zu schweren Persönlichkeitsänderungen führen.(9)

Gesellschaftlich gesehen wird dem Menschen als homo patiens die Möglichkeit des eigenen Handelns, seine individuelle und soziale Geschichte selbst zu gestalten, abgesprochen. Damit wird die Ideologie der Unveränderlichkeit bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse gestärkt.

Dagegen bleibt mit Thomas Szasz festhalten: Es gibt keine Geisteskrankheit; denn Krankheiten können nur den Körper affizieren. Insofern sind „psychiatrische Diagnosen stigmatisierende Etiketten“, die Menschen angehängt werden, deren Denkergebnisse und Verhalten andere Menschen stört, ärgert und verletzt. Menschen können jedoch ihr Verhalten ändern; und vor allem:

„Es gibt keine medizinische, moralische oder juristische Rechtfertigung für unerbetene psychiatrische Eingriffe wie ´Diagnose´, ´Hospitalisierung´ oder ´Behandlung´. Sie sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“(10)

Historisch gesehen war der Holocaust oder Shoah (seltener Judeozid) genannte Völkermord oder Genozid an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs im militärisch besetzten Osten weder voraussetzungslos noch einzigartig. Die massenhafte Vernichtungspraxis angeblich „lebensunwerten Lebens“ 1939/41 folgte vielmehr im Sinne eines Prozesses vorausgegangenen planvollen staatlichen Mordaktionen gegen (heute Sinti und Roma genannte) „Zigeuner“ und andere angebliche „Asoziale“ oder „Ballastexistenzen“ oder „unnütze Esser“:

„Zwangssterilisation, Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Kinder in Krankenhäusern, Tötung erwachsener Anstaltsinsassen durch Gas in medizinischen Tötungszentren (Euthanasie), Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Insassen von Konzentrationslagern und schließlich die Massenmorde an den Juden.“(11)

III.

Die materialistisch ausgerichtete Psychologie in Gestalt von Hirnforschungen oder Neurowissenschaften der Gegenwart geht, abgesehen von Fortschritten in methodischer Hinsicht, nicht über die grundlegenden Konzepte über die Gehirnfunktionalität, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, hinaus.(12)

Die Ausbildung dieser Disziplin war Ergebnis der Aufklärung (Enzyklopädisten Emile d´Alembert, Denis Diderot, Paul Thiry d´Holbach); diese wollte nicht nur die Natur einschließlich des Menschen nach physikalischen, physiologischen oder ihnen entsprechende Gesetzen erklären, sondern auch Seele, Geist und Ich im Gehirn verorteten und materialisieren. Damit sollte der Mensch aus seinen feudalen Bindungen befreit werden, um ihn zum selbstbestimmten, denkenden und entscheidenden Individuum zu erklären, wie es auch US-Verfassung (1776) und Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) der Französischen Revolution festlegten.

Auf Grundlage naturwissenschaftlich-technischer Paradigmen und mittels teilweise grausamer, auch heute noch vorgenommener Experimente an Tieren und Menschen bildeten sich im 19. Jahrhundert in der Hirnforschung die Lokalisationstheorie sowie elektrophysikalische und zelltheoretische Konzepte heraus. Diese wurden im 20. Jahrhundert mit molekularbiologischen Erkenntnissen verbunden, um Gehirnaktivitäten als Bewusstsein mit dem Modell mehrschichtiger neuronaler Netze zu erklären. Diese Aktivitäten können wohl als elektrische Ströme und biochemische Prozesse nachgewiesen werden, ihre Inhalte bleiben jedoch weitgehend verborgen.

Evidenz und Faszination gewinnt dieses Modell hauptsächlich durch die visuelle Repräsentation celebraler Prozesse, das Neuroimaging. Damit wird ein Verfahren der „Bildgebung“ (Michael Hagner) bezeichnet, das Durchblutung (BOLD-fMRT-BOLD-Oxygen-Level-Dependent) und/oder Nervenaktivität (über Elektroenzephalographie) misst und einzeln oder in korrelierter Form über ein kompliziertes technisches Umrechnungsverfahren in einem Gehirnabbild visualisiert, das auch als Grafik dargestellt werden könnte. Trotz seines dynamisch wirkenden Augenscheins ist Neuroimaging letztlich kaum mehr als ein statisches Abbild über elektrische Ladung und Sauerstoffgehalt des Bluts:

„Wo Nervenzellen vermehrt feuern, wird auch mehr Sauerstoff benötigt. Aber schon hier taucht ein Problem auf: Werden die Neuronen einer bestimmten Region aktiviert, so dauert es 3 bis 8 Sekunden, bis diese Region mit frischem sauerstoffangereicherten Blut versorgt wird. Initial kommt es sogar zu einer Verminderung des oxygenierten Bluts, eben weil es von den Nervenzellen sogleich verbucht wird. Nach einigen Sekunden steht dann möglicherweise sogar mehr oxygeniertes Blut zu Verfügung, als die Neuronen für ihre Tätigkeit überhaupt benötigen. Daraus folgt, dass es auf jeden Fall eine Korrelation zwischen Durchblutung und Nervenaktivität gibt, aber mit einer bislang nicht genau bestimmbaren zeitlichen Verzögerung. Beide lassen sich nicht exakt aufeinander abbilden.“(13)

Damit kann keine die exakte Korrelation vorgenommen werden.

So gesehen, erklären naturwissenschaftliche Modelle allein wenig über Bewusstseins-, Unterbewusstseins- und Denkprozesse, vielmehr können sie sogar das Menschenbild der Aufklärung in ein biologistisches und subjektivistisches Menschenbild, etwa den „homo neurobiologicus“(14), verkehren. So bildet aus konstruktivistischer Sicht „unser eigener Organismus und nicht irgendeine absolute äußere Realität den Orientierungsrahmen“(15) für unsere Umgebung; Gefühle und körperliche Empfindungen steuerten das Alltagsverhalten. Wahrnehmung und Freiheit des Willens gilt als „reine Interpretation“ (Gerhard Roth). Auch wird behauptet, dass die Objektwelt, die Wirklichkeit, Natur oder Realität, wohl vorhanden, aber dem Menschen nicht zugänglich sei:

„Wir leben in der Welt unserer vom Nervensystem hervorgebrachten Konstrukte. Nur unsere mentalen Erlebnisse sind uns zugänglich. Die Realität, die Welt an sich, ist unerreichbar. Jeder lebt in seiner Welt für sich.“(16)

Dieser Konstruktivismus führt zur „Preisgabe des Ideals der objektiven Erkenntnis“; er ersetzt den Begriff der „objektiven Wahrheit“ durch „den Begriff der Nützlichkeit“(17)

Damit wird der Mensch wieder in einen animalischen Zustand zurückgeworfen, wird Gesellschaft in ihre atomistischen Einzelteile aufgelöst.

Tatsächlich ist Bewusstsein und Bewusstwerdung ein dialektischer Prozess, der sich aus der Tätigkeit des Gehirns selbst und den Erfahrungen mit der Außenwelt konstituiert:

„Wirksam wird das assoziative System Hirn nur in der Dynamik seiner Reaktionen. […] Das in der fortlaufenden Abbildung der Dynamik in sich konstruierte Erregungsprofil wirkt zurück und verändert die Textur, über die sich diese Dynamik vermittelt. Diese Verrechnungsstruktur und die in ihr ablaufende Dynamik stehen damit in fortlaufender Vermittlung. Die Regeln, nach denen das System operiert, werden in diesem Wechselverhältnis modifiziert oder sogar - nach Maßgabe der organischen Anlage - überhaupt erst geschaffen.“18

Phylogenetisch ist somit im Gehirn „die Architektur der Verbindungen der Nervenzellen“ vorgegeben; es verändert sich jedoch strukturell und funktionell unter dem Einfluss von Erfahrungen und kann sich auch in vielen Bereichen rekonstruieren, also auch verlorene Fähigkeiten wiedererlangen.(19)

Angesichts des Tatbestandes, dass die Außenwelt in das Erregungsgefüge eingreift und vermittelnd das Bewusst- und Selbstbewusstsein bestimmt, geraten die Kulturwissenschaften wieder in den Blick und erhalten ihren wichtigen Stellenwert zugewiesen.

Der Psychologie sollte deshalb ihre „Deutungshoheit über das Seelenleben des Menschen“ ernsthaft bestritten und abgenommen werden; denn alte und neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Untersuchungsergebnisse können jedoch ebenso in wissenschaftliche Disziplinen wie Philosophie, Medizin, Soziologie und Pädagogik einbezogen werden, um Wissenschaft für die Gestaltung einer humanen Gesellschaft, in der “der Mensch dem Menschen ein Helfer” wird und ist (Bertolt Brecht), zu nutzen.

Empirische Einzelergebnisse der Gehirnforschung im besonderen erfordern kein neues Menschenbild: „Sie gehen nicht über das hinaus, was Philosophen und Wissenschaftler seit der Antike in Opposition zum dominierenden Menschenbild gedacht und geschrieben haben. [...] Die Bedeutung der […] neuen Erkenntnisse der Hinforschung liegt also nicht in deren Originalität, sondern in der empirischen Unterstützung bestimmter - meist alternativer - Ansichten vom Menschen.“(20)

IV.

Wenn diese Aussage von Gerhard Roth zutrifft, dann sind neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse durchaus mit dem Menschenbild der klassischen Aufklärung und Philosophie des dialektischen Materialismus vereinbar. Denn sowohl empirische Forschungsergebnisse psychologischer Versuche und Beobachtungen als auch neurobiologische beruhen auf Hypothesen, Begriffen und Theorien. Diese sind jedoch Instrumente des Denkens, um eine außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein bestehende und insofern ´objektive´ Realität annähernd zu erklären und zu erfassen; denn Wirklichkeit als solche oder ´objektive´ Realität teilt sich dem Menschen nicht unmittelbar mit, sondern muss von ihm erst aktiv angeeignet werden.

In Erklärungsmodellen des Emotionalen und Irrationalen und in Therapien finden sich nicht selten selbst emotionale und irrationale Konzepte, weil - wie schon der klassische bürgerliche Materialismus erkannte - Irrationalität und Gefühle selbst der Ratio direkt und als solche nicht zugänglich sind, sondern nur vermittelst deren Äußerungen in Verhalten, Handeln und Sprache.

„Von den im Innern des Menschen vor sich gehenden Bewegungen, von seinen Gedanken, seinen Leidenschaften, seinem Willen können wir uns aufgrund seiner Handlungen Ideen machen.“(21)

Es erweist sich deshalb als „Holzweg der Holzwege“ (Joseph Dietzgen), unvernünftiges Handeln und Denken, z.B. Wahnsinn, Irrsinn oder Verrücktheit, erklären zu wollen; stattdessen ist methodisch vom vernünftigen Denken und Handeln auszugehen, um unvernünftiges und sinnloses bestimmen und beeinflussen zu können.

Diese Position rückbezieht sich auf das klassische rationalistisch-humanisti-sche Menschenbild der Aufklärung: Der Mensch ist ein natürliches (Produkt der materiellen Natur), vernunftbegabtes (ein mit Verstand ausgestattetes) und gesellschaftliches (im Austauschprozess über gesellschaftliche Arbeit mit den Naturprozessen stehendes) Gattungswesen, das sich selbst lieben und erhalten, das nach einer glücklichen Existenz streben und das über die Vernunft erkennen kann, dass der Mensch, weil diese Ziele auch seine Mitmenschen verfolgen, mit anderen Menschen friedlich zusammenleben muss.

V.

Wenn, wie folgend, versucht wird, zu prüfen, ob und inwieweit die Klassische Philosophie, die Erkenntnisse des französischen Materialismus und des englischen Empirismus verarbeitet, und der dialektische Materialismus psychische Erscheinungen und Verhaltensweisen vernünftig erklären können, dann wird bewusst deshalb von Kant ausgegangen, weil bereits Kants Philosophie zwischen sinnlicher und intellektueller „Erkenntnis“ – in der klassischen (alt)griechischen Philosophie „Phänomen“ und „Noumenon“ – analytisch unterschied:

„Der Gegenstand der Sinnlichkeit ist das Sinnding; was aber nichts enthält als was durch den bloßen Verstand erkannt werden muß ist das Verstandeswesen.“(22)

Bei der „Erkenntnis“ eines Sinndinges, also eines Dings, das über die Sinne wahrgenommen wird, lässt sich der Ablauf so darstellen: Ein Objekt oder Ding wird mit dem/den entsprechenden Sinn/en wahrgenommen, löst Empfindungen aus und wird dann durch das Denken (den logischen Verstand) gruppiert, geordnet und erkannt. In der zeitgenössischen Gehirnforschung wird dieser Sachverhalt so ausgedrückt:

„Sinnesreize werden zuerst unbewusst im primären sensorischen Kortex nach ihren Details ´vorsortiert´. Diese Informationen werden zu assoziativen Arealen weitergeleitet und dort unter Zuhilfenahme von Gedächtnisinhalten interpretiert. Diese Interpretation wird zum primären sensorischen Kortex zurückgeleitet, und hierdurch werden die Wahrnehmungsdetails sinnvoll gruppiert.“(23)

Dabei ist die Sinneswahrnehmung selbst ein komplizierter psychophysischer dynamischer und dialektischer Prozess, bei dem sowohl die Funktion der Sinne wie auch der Verarbeitungsprozess der Sinnesreize materiell verändert, erweitert oder eingeschränkt werden (kann) und eine einzelne Sinneswahrnehmung durch anderer Sinne unterstützt wird. Darüber hinaus ist jede Sinneswahrnehmung emotional und individual-geschichtlich besetzt sowie historisch und gesellschaftlich-kulturell geprägt.

Die Wahrnehmung erfolgt durch die materielle Reizung der Sinne über die entsprechenden freien Nervenendigungen der Sinnesorgane, die diese Reize entsprechenden Sphären des Gehirns melden. Dabei ist das Prinzip der Injunktion, der fließenden Grenzen,(24) zu beachten.

Hinsichtlich des Geschmackssinnes lassen sich vier Grundgeschmäcke unterscheiden: süß, bitter, sauer, salzig und hinsichtlich des Geruchssinns sechs Grundgerüche: blumig, fruchtig, würzig, harzig, brenzlig und faulig. Geschmacks- und Geruchssinn unterliegen schneller weitgehender Anpassung an Dauerreize und sind bzw. werden stark mit Gefühlen verbunden.

Der Gehörsinn erlaubt ein Schallspektrum, das sich für den Menschen in Tonhöhe und Lautstärke darstellt, wahrzunehmen und dient primär dem Richtung finden, d.h. der Orientierung im Raum. Dabei besteht die Hörwelt im Unterschied zur Sehwelt prinzipiell aus bewegten und vorwiegend aus belebten Erscheinungen; auch Hören ist stark mit Gefühlen verbunden.

Mittels des Gesichtssinns, des Sehens, nimmt der Mensch seinen Außenraum, die Natur in Farben, Formen, Bewegungen, Distanzen, Größen und Mustern wahr. Dabei funktioniert der Gesichtssinn, in dessen physiologischen Grundierung optische Täuschungen begründet sind, synthetisch und setzt einen intensiven Lernprozess, der vom Tastsinn unterstützt wird, voraus.

Während die vorgenannten Sinne als Organe am Kopf platziert sind, erstreckt sich der Hautsinn, der Berührungsempfindungen ermöglicht, auf den gesamten sich von der Außenwelt abgrenzenden Körper, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität einzelner Hautpartien. Der Tastsinn vermittelt Schmerz-, Druck-, Kälte- und Wärmeempfindung; diese können sich auf ein jeweiliges Intensitätsniveau von Dauerreizen schnell einstellen. Der Tastsinn ist es auch, der den Informationen, die andere Sinnesorgane erzeugen, dadurch Bedeutungen zuschreibt, dass er Berührungserfahrung voraussetzt oder sie mit Berührungserfahrung vergleicht bzw. paart: Erst der Tastsinn verbindet das Individuum praktisch mit der objektiven, materiellen Außenwelt, mit Natur und Gesellschaft und ermöglicht Korrekturen von anderen Sinneseindrücken.

Verarbeitet werden Sinnesreize einmal über einen psychophysischen Prozess der/des Sinnesorgan/s selbst und zum anderen über die damit verbundenen Gehirnfunktionen. Gerhard Roth drückt diesen Vorgang so aus:

„Während der Bewusstseinszustände finden entsprechende Umstrukturierungen kortikaler neuronaler Netzwerke aufgrund von Sinnesreizen und Gedächtnisinhalten statt, und zwar durch eine schnelle Veränderung der Koppelungen (Synapsen) zwischen Neuronen. Hierbei spielen die so genannten Neuromodulatoren Serotonin, Dopamin, Noradrealin und Acetylcholin eine wichtige Rolle, die über das so genannte limbische System Emotionen, Motivation und Bedeutung vermittelt.“(25)

Schematisch lässt sich der Ablauf des Bewusstwerdungsprozesses so darstellen:

Sinnesreiz > primär-sensorischer Kortex, dort Sortierung > assoziative Areale und Interpretation durch Gedächtnisinhalte > Rückmeldung zum primär sensorischen Kortex, dort sinnvolle Gruppierung der Wahrnehmung.

Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen biologisch-schematischen Prozess, sondern um einen dynamisch-dialektischen Vorgang, bei dem auch bewusst und unbewusst erlernte und erlernbare kulturelle Interpretationsmuster mitwirken.

So kann die sinnliche Reizwahrnehmung des Hörens, Sehens, Schmeckens, Riechens und Fühlens erlernbar verfeinert werden; z.B. lässt sich erlernen, verschiedene Musikinstrumente des Orchesters oder unterscheidbare Vogelstimmen zu bestimmen, eine Landschaft, eine Person oder ein bildnerisches Kunstwerk differenzierter zu sehen, Inhaltsstoffe von Speisen und Getränken heraus zu schmecken und zu riechen, Temperatur- und Druckempfinden zu sensibilisieren. Zudem lässt sich die sinnliche Wahrnehmung auch mit technischen Hilfsmittel (Brille, Fernrohr, Mikroskop, Hörgerät etc), die wiederum selbst von der Entwicklung der Produktivkräfte abhängig sind, nicht nur rekonstruieren, sondern auch erweitern. Auf der anderen Seite des Wahrnehmungsprozesses spielen beim Gruppierungsprozess der Reize nicht nur individuelle und emotionale Erfahrungen, sondern im besonderen auch gesellschaftlich-kulturelle Muster (z.B. Schönheit, Klugheit, Harmonie, Nützlichkeit, Verwerflichkeit) eine wesentliche Rolle.

VI.

Dies alles zusammen – biologisch-neurologische, individuell-historische, gesellschaftlich kulturelle Prozesse – kennzeichnen das Bewusstsein, das sich nur sprachlich verbinden und ausdrücken kann. Zugleich aber kann mittels Sprache die Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität auch beeinflusst, erweitert oder verengt werden:

“Was die Sprache, die zugleich Denken ist, in der Wirklichkeit unterscheidet, existiert objektiv, aber das Weltbild kann dieses Etwas in dieser oder jener Weise oder überhaupt nicht berücksichtigen. Und in diesem gemäßigten Sinne ´schafft´ die Sprache tatsächlich das Bild der Wirklichkeit.”(26)

Das Bewusstsein bildet im Gegensatz zu Instinkthandlungen und erlernten Verhaltensweisen die Grundlage für bewusstes Handeln, das sich qualitativ vom reaktiven Verhalten unterscheidet, und für Entscheidungshandeln, das einen Denkvorgang, etwa Operationsvermögen mit unanschaulichem Charakter, einschließt. Dieses Operationsvermögen, vergleichbar mit Kants Begriff von Verstand, kann linear-vorwärtsweisende Strukturen, linear-rückweisende Strukturen und dialektische Strukturen umfassen und insofern auf das Handeln (rück)wirken; dieses Vermögen kann sich aber auch vom Entscheidungsgrund lösen, d.h. ihn umgehen oder in Phantasiegebilde flüchten.

Auch deshalb forderte Kant, dass der Verstand einerseits „dienende“ Funktion gegenüber der Ordnung der Sinneseindrücke haben soll. Erst so gelangt der Mensch zur Willensfreiheit und unterliegt nicht einem affektiven Determinismus. Andererseits vermag der Verstand (als Gehirn), sich, losgelöst von sinnlichen Eindrücken, mit dem reinen Denken zu beschäftigen; dabei sind die „Objekte“, Vorstellungen oder Beziehungen durch die Natur des Verstandes vorgegeben und können zu eigenen Denkergebnissen führen. Damit verbunden ist die Kant´sche Vorstellung, dass jeder Mensch von seinen persönlichen Belangen absehen und unvoreingenommen über sich selbst urteilen könne, sozusagen sich neben sich selbst stellen und sich beurteilen, betrachten und achten kann. Dies sind besondere gattungsbezogene Fähigkeiten des Menschen, die später sowohl psychologisch als auch soziologisch als Selbstbeobachtung und Rollenverständnis präzisiert wurden.

VII.

In der „Kritik der reinen Vernunft“ (1784) nahm Kant diesen Gedankengang wieder auf und untersuchte systematisch, welche Fragen die Venunft als Denkfähigkeit oder Bewegung des Denkens beantworten könne und welche nicht bzw. welche Erkenntnisse sie treffen könne und welche nicht mit dem Ergebnis: Dem Ziel oder Prozess der Erkenntnis hinderlich ist die Natur der Vernunft selbst, die einen Hang zum Widerspruch besitzt:

„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermöge der menschlichen Vernunft.“(27)

Dabei ging Kant zunächst von der Vorstellung aus, dass sich Gegenstände oder Objekte nicht von selbst dem Verstand mitteilen sondern sich umgekehrt nach dessen Erkenntnismöglichkeit richten (Kopernikanische Wende). Erkenntnisse über die Objektwelt gewinnt der Mensch, schematisch gesehen, so: Als Gattungswesen verfügt der Mensch über Anschauungsvermögen, mit dem er von Gegenstände/Objekten eine Vorstellung empfängt. Die Anschauung ist jedoch ebenso an Raum und Zeit gebunden wie sich das Anschauungsvermögen in diesen Kategorien bewegt. Nachdem der Mensch eine Anschauung von einem Objekt/Gegenstand erlangt hat, kommt es dem Verstand (als Funktion der Vernunft, die sich im Denken und Urteilen erschöpft) zu, die Anschauung mithilfe von Begriffen in Erkenntnis zu übertragen.

Erkenntnis ist für Kant Ergebnis von Anschauung u n d Denken.

Wie erhält der Mensch nun aber eine Anschauung von sich selbst? Das ist nur möglich in der Widerspiegelung seiner Handlungen und Äußerungen in den Handlungen und Äußerungen seiner Mitmenschen einerseits und der eigenen Vergegenständlichung (Bearbeitung, Arbeit und Kunst) andererseits. Zusammen mit der Wahrnehmung der Objektwelt bildet sich das Anschauungsvermögen aus oder/und um; wobei das menschliche Anschauungsvermögen aus materiell-gegenständlich-biologischer Sicht in Schädellappen, Schläfenlappen, Scheitellappen und Gehirnrinden zu verorten ist.

Dem Denken (der Vernunft) ist auch eigen, sich über die Grenzen von Raum und Zeit, dem Raum der Erfahrungen, hinaus zu bewegen und Ideen zu entwickeln (Dialektik der Vernunft). Dies insbesondere als Metaphysik der Psychologie, der Kosmologie und der Theologie. In der Psychologie ist es die Idee der Seele, in der Kosmologie die Vorstellung von Welt/Weltall, Schöpfung und in der Theologie die Idee von Gott.

Diese Ideen des Denkens (der Vernunft) sind eigentlich „Hirngespinste“ („la chimère“ nach d´Holbach); der Verstand deckt sie als „Paralogismen der Vernunft“ auf. Denn diese Ideen im Raum der reinen Vernunft sind ebensowenig auf Wirklichkeit, auf wissenschaftliche Erkenntnisse gerichtet wie ihre Objekte erkannt werden können.

Allerdings ist im Raum der reinen Vernunft auch Raum für Glaube und Ethik. In der Weise kann sie auch praktisch wirksam werden zur Erkenntnis ethischer Normen: der Moral.(28)

In der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788)(29) sucht Kant nach einer Urnorm und findet sie in der menschlichen Gleichheit.

Diese Norm setzt Kant als humaner „Aufklärer“ dem gängigen/üblichen Axiom der Ethik, dem Streben nach Glücksseligkeit, der persönlichen und individuellen Glücksuche, die er als „norm posterior“ kennzeichnet, entgegen.

Seine Urnorm, die Norm a priori, ist das Gesetz der Pflicht, der kategorische Imperativ:

„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“(30)

Dies ist die einzige und allein verbindliche Norm, die losgelöst von jeder Materie dennoch für jede Handlung in der Materie und im Erfahrungsraum gilt. Sie ist die „Forderung der praktischen Vernunft“.

Diese Forderung der des Menschen eigener Vernunft steht im Widerspruch zu individuellen und persönlichen Neigung des Menschen oder zu seinen Trieben. Ob der Mensch seinen Trieben folgt oder dem Gesetz der Vernunft ist seine Willensentscheidung.

F r e i ist oder wird der Mensch erst, wenn er nicht den Trieben, sondern dem Gesetz der Vernunft folgt. Deshalb wurde bereits in der Antike gefordert:

„Die Affekte soll man nicht nur zügeln, sondern gänzlich austilgen.“(31)

Erst so kommt der Mensch als vernunftbegabtes Wesen zu sich selbst nach dem Motto: „Du kannst, weil du willst, was du sollst!“

Aus dem ethischen Imperativ und der Zweckbestimmung des Menschen als vernunftbegabtes Wesen folgt die Pflicht einerseits für sich selbst und sein körperliches Wohlergehen zu sorgen: Selbstentleibung, Selbstschädigung und auch Selbstbetäubung sind dem Menschen in seiner Verantwortung als physischer Organismus verboten, ebenso Lüge, Diebstahl, Geiz, Kriecherei etc.; andererseits soll der Mensch gegenüber seinen Mitmenschen Achtung, die allerdings auch Distanz erfordert, zeigen, d.h. er soll auf Hochmut, böse Nachreden und/oder Verhöhnung verzichten, und Liebespflichten gegenüber seinen Mitmenschen (Wohltätigkeit, Dankbarkeit und Teilnahme) erfüllen.

Keinesfalls aber soll Mitleid gezeigt werden, weil es pathologisch auf den Willen (hier zu leiden) einwirkt. Damit wendet sich Kant ausdrücklich gegen eine „Ethik der Hilflosigkeit und der Hilfsbereitschaft“.(32)

VIII.

Neben Vernunft und Verstand erkennt Kant noch ein drittes (transzendentales) Vermögen des Subjekts: die Urteilskraft.(33) Diese kann „aus sich selbst ein Prinzip des Naturdinges auf das Übersinnliche nehmen“. Dieses Übersinnliche wird als „Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“ begriffen:

„[...] Die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte.“(34)

Wird über Anschauung oder Betrachtung eines Naturdinges eine Zweckmäßigkeit erkannt, so stellt dieser Gedanke oder diese Vorstellung ein Bindeglied zwischen Vernunft und Verstand dar, es erweckt ein Gefühl der Lust und wir empfinden es als schön. Schön ist ein Ding, wenn wir es betrachten und „die Einbildungskraft (als Vermögen der Anschauung a priori) zum Verstande (als Vermögen der Begriffe) „unabsichtlich in Einstimmung versetzt oder dadurch ein Gefühl der Lust erweckt wird“ oder:

„Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zweckes an ihn wahrgenommen wird.“(35)

Bei der Betrachtung eines „schönen“ Gegenstandes gerät der Mensch in Harmonie mit seiner sinnlichen Wahrnehmung und seiner ideellen (verstand- und vernunftbestimmten) Vorstellung.

Hier trifft sich Kants mit Johann Joachim Winckelmanns und Georg Wilhelm Friedrich Hegels ästhetischem Verständnis. So führt Winkelmann aus:

„Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogene Geist, welcher sich sucht ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der in dem Verstand der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Kreatur.“(36)

Erhabenheit wiederum ist nur mit der Vernunft als „Vorstellung von Größe“ erfassbar. Das damit verbundene Gefühl ist Achtung - für das Gute.

Auch für Hegel ist ästhetische Wahrnehmung die Entwicklung des Geistes auf der Stufe der Anschauung. Sie ist ein Zwischenstadium des sich entäußernden Geistes auf dem Wege zu sich selbst, seine Rückkehr enthält nichts anderes als das Zurücknehmen jeglicher Sinnlichkeit in das reine Denken. Schönheit ist demnach die Einheit des Begriffes mit der Realität.

Ästhetische Ideen stehen zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, mit der sie über die Moral verbunden sind. Heinrich Heine drückt diesen Zusammenhang prägnant so aus:

„Ich strebe nach dem Guten, weil es schön ist und mich unwiderstehlich anzieht, und ich verabscheue das Schlechte, weil es hässlich und mir zuwider ist.“(37)

IX.

Gegen Ende seines Lebens hat sich Kant auch mit dem sinnlosen, unvernünftigen Denken befasst.(38) Er kennzeichnete den Wahnsinn als „methodische Verrückung“, die sich durch „selbstgemachte Vorstellungen einer falsch dichtenden Einbildungskraft“ ausdrückt. Insofern ist der Wahn eine Störung der Vernunft, wobei die Betroffenen andere Vernunftregeln anwenden als die ´gesunden´ anderen Menschen.

Hinzu kommt, dass mit allen Formen des Wahnsinns ein Verlust des Gemeinsinns (sensus communis) einhergeht, der durch einen logischen Eigensinn (sensus privates) ersetzt wird.

Kants philosophisches System zeigt jedoch eine grundlegende Schwäche, die schon Hegel erkannte: das Festhalten am Dualismus des denkenden Subjekts und dem ihm gegenüberstehenden Objekt. Kant könne nicht erklären, wie im Ich der subjektive Abbildungsprozess erfolge. Statt dessen vertrat Hegel einen aktiven Abbildungsprozess: „Bewußtsein ist nach Hegel kein (In-an-sich), es ist der lebendige Vorgang der Reflexion, also eine Handlung - wie Fichte schon vorweggenommen hatte.(39)

Darüber hinaus berücksichtigte Kant auch nicht, dass das Wahrnehmungsvermögen Sinnestäuschungen unterliegen kann, die nur über die Praxis, d.h. die praktische Auseinandersetzung mit den Objekten/Gegenständen durch den Menschen, aufgedeckt und überwunden werden können.

Diesen Aspekt arbeitete Ludwig Feuerbach deutlich heraus: „Die Zweifel, die die Theorie nicht löst, löst die die Praxis“(40) . Und Karl Marx präzisierte in seinen Feuerbachthese diesen Ansatz als „sinnlich menschlich Tätigkeit, Praxis(41) und meinte vor allem die aktive Tätigkeit des Menschen in der materiellen produktiven Auseinandersetzung.

X.

Versucht man mit Hilfe der kritischen Philosophie Kants psychopathologische Erscheinungen im allgemeinen und menschlichen Wahnsinn, Irrsinn, Verrücktheit im besonderen zu beschreiben, zu verstehen und/oder zu „heilen“, dann wären als Grundsätze zu berücksichtigen:

1) Zunächst sollten irrationale Begriffen wie z.B. „Seele“, Schicksalsschlag, Vorsehung, Karma, Gottesfügung nicht benutzt werden; denn mit diesen Begriffen bewegt man sich im spekulativen, dem Verstand rational nicht zugänglichen Bereich der absoluten Vernunft und ihren irrationalen Entäußerungsformen. Vielmehr gilt es, die materiell-realen Ursachen (für Wahn oder Sucht) herauszufinden.

2) Sodann sollte, um die „methodische Verrücktheit“ aufzubrechen, das Erkenntnisvermögen als Ergebnis von Anschauung und Denken (nicht das Triebvermögen und die Gefühlswelt) gefördert werden. Das schließt die Förderung des Anschauungsvermögens in Raum und Zeit (die Realitätserfassung und praktische Auseinandersetzung mit ihr durch menschliche Arbeit), Denkvermögen mit Gruppierung und logischem Schlussfolgerungen ein.

3) Weiter müssen Pflichtbewusstsein (im Sinne der Kantschen Ethik) und Gemeinsinn geweckt und verstärkt werden: „Wahn-sinnige sind schlecht organisierte Wesen“ und Aufgabe der Gesellschaft ist es, „gar nicht solche Neigungen aufkommen zu lassen“(42). Auch ist, damit zusammenhängend, das ästhetische Urteilsvermögen auszubilden und zu schulen. Unerlässlich ist schließlich, dass - tatsächliche oder vermeintliche - Einsichten und Erkenntnisse immer sprachlich ausgedrückt und der praktischen überprüft werden.

In diesem praktisch-operativen Sinn hatte Wolfgang Jantzen bereits vor Jahrzehnten eine humanpädagogische „Therapie-Methode“ vorgestellt; sie orientiert sich an einem Dreiphasenmodell: 1) kognitiver Aufarbeitung des Geschehenen, 2) Rekonstruktion der individual-historischen emotionalen Verletzbarkeit und 3) Erkenntnis und Förderung handlungsorientierter Alternativen.(43)

Dabei soll sich das „therapeutische Handeln“ von sieben Grundsätzen leiten lassen, der bislang weder die Disziplin der bürgerlichen Psychologie noch ihrer Vertreter, der Psychologen und Psychiater, nachgekommen sind:

Radikale Parteinahme für den Klienten“ im Sinne Anton Semjonowitsch Makarenkos: “Möglichst hohe Forderungen an den Menschen und möglichst hohe Achtung vor ihm”, 2. “Demokratisierung der Therapieprozesse und Entmystifizierung der Therapeutenrolle”, 3.”Absolute Eindeutigkeit des eigenen Handelns”, 4. “Positive Lösung der Machtfrage”, 5. “Aufbau individueller Realitätskontrolle” im Sinne der Entwicklung von Bedürfnissen und Fähigkeiten in den Bereichen Tätigkeit, Sprache und nichtsprachlicher Kommunikation, 6. “die Tätigkeit des Klienten ist als eingebettet in kollektive Lebensprozesse zu begreifen und zu organisieren” und 7. Suche geeigneter Bündnispartner für Therapeut und Klient”.(44)

Im Selbstverständnis dieses therapeutischen Ansatzes steht in ihrem Zentrum – so Jantzen – „die Wiederherstellung der Würde und Verantwortung des Subjekts, wobei an letzter Stelle des “Heilungsprozesses“ die Verantwortung für sich selbst wieder übernommen werden kann, indem über Bindung und Dialog Verantwortung in andere Menschen und schließlich in sich selbst gewonnen wird.”(45)

Jeder Rückfall hinter das Menschenbild der Aufklärung und Versuche, dieses therapeutisch-praktisch sei es individuell als Arzt und Therapeut und Pädagoge sei es institutionell als Sonder/Behindertenpädagogik und Klinik bedeutet auch aus meiner Sicht ein weiterer Schritt in die Barbarei.

Anmerkungen

1) Das Fischer-Lexikon: Psychologie. Hg. Peter R. Hofstätter. Frankfurt 1957 (13. Auflage 1968), S. 9

2) Ebenda, S. 10f.

3) Steven C. Ward: Modernizing the mind: Psychological knowlegde and the remaking of society. Westport, C T, 2002; Thomas Teo: The Critique of Psychology. From Kant to Postcolnial Theory. New York, Toronto 2005

4) Marion Hachmann-Gleixner: Das Psychologische Institut Heidelberg im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Dipl. Arbeit, Heidelberg o. J.

5) Gerhard Vinnai: Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft. Psychologie im Universitätsbetrieb. Frankfurt/Main, New York 1993, S. 55

6) Ebenda, S. 36

7) Georg. Lukacs: Die Zerstörung der Vernunft [1953]. Berlin/Weimar 1964², S. 318-431

8) Gerhard Vinnai: Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft, aaO., S. 30

9) Wolfgang Jantzen: Allgemeine Behindertenpädagogik. Bd.2: Neurowissenschaftliche Grundlagen, Diagnostik, Pädagogik und Therapie. Weinheim, Basel 1990, S. 318-324; Leonard Roy Frank: Influencing Minds. [Manipulation des Denkens]; Don Weitz (Toronto, Ontario: Notizen über den psychiatrischen Faschismus: http://www.antipsychiatry.org)

10) Thomas Szasz: Geisteskrankheit - ein moderner Mythos. Grundzüge einer Theorie des persönlichen Verhaltens. München 1975, S.294-295; vgl. zur umfassenden Kritik der Psychologie als Wissenschaft und ihrer Einzeldisziplinen auch die Broschüre mit polemischer Pointierung: Argumente gegen die Psychologie. Gegenstandpunkt. München, Januar 1990), 55 Seiten

11) Bernd Jürgen Wendt, Moderner Machbarkeitswahn. Zum Menschenbild des Nationalsozialismus, seinen Wurzeln und Konsequenzen; in: Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. Burghart Schmidt. Hamburg: 2006 [= Geistes- und Kulturwissenschaftliche Studien Bd. 1], S. 157-176

12) Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ichs. Zur Gehirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1977; Michael Hagner: Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen der Hirnforschung. Göttingen 2006.

13) Olaf Breitbach: Die Materialisierung des Ichs, aaO, S. 167

14) Gerhard Roth: Homo neurobiologicus - ein neues Menschenbild? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 44/45, 2008, S. 6-12

15) Antonio R. Damasio: Descartes´ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschlich Gehirn. München 2000, S. 17

16) Harald Gropengießer: Lernen und Lehren. Thesen und Empfehlungen zu einem professionellen Verständnis. Report. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung: Gehirn und Lernen, 26. Jg. 2003/3, S. 30

17) Gerhard Vinnai: Die Austreibung der Vernunft, aaO, S. 64

18) Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ichs, aaO, S. 418f.

19) Wolf Singer: Ein neues Menschenbild. Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt/Main 2003, S. 89

20) Gerhard Roth: Homo neurobiologicus, aaO, S. 12

21) 29 Thesen des Materialismus nach D´Holbachs „System der Natur“ 1774. Mit einem Nachwort von J. Höppner. Leipzig o.J. [1960], S. 4

22) Immanuel Kant: De mundig sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Königsberg 1770 „§ 3 Objectum sensualitatis est sensible; quod autem nihil continet, nisi per intelligentiam cognoscendum, est intelligibile.“ In: Akademieausgabe von Immanuels Kants Gesammelten Werken: http://www.korpora.org/kant/verzeichnisse-gesamt.html, S. 385-420, hier S. 392 (nachfolgend zitiert als Akademieausgabe)

23) Roth: Homo neurobiologicus …, aaO, S. 7

24) Bernhard Hassenstein: Injunktion. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4, Basel 1971

25) Roth: Homo neurobiologicus, aaO, S. 7

26) Adam Schaff: Sprache und Erkenntnis und Essays über die Philosophie der Sprache. Reinbek 1974, S. 115

27) Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781). Vorrede zur ersten Ausgabe vom Jahre 1781. Leipzig 1971, S. 5; auch: Akademieausgabe von Immanuel Kants…, aaO, Bd. IV, S. 7

28) Immanuel Kant: Grundlagen der Metaphysik der Sitten, 1785. In: Akademieausgabe …, aaO, Bd. IV, S. 385-464

29) Immanuel Kant: „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788). In: Akademieausgabe …, aaO, Bd. V, S. 1-199

30) Kant: Ebenda, S. 130; siehe auch: Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1783) In: Was ist Aufklärung. Thesen und Definitionen. Hg. von E. Bahr. Stuttgart 1996, S. 8-17

31) Seneca: Moralische Briefe, ep. 116

32) Szasz: Geistskrankheit, aaO, S. 181-210. Diese unterliegt sowohl der Religion als auch der Psychologie z.B. Freuds, nach dessen Verständnis in Anlehnung an Spencers Biologismus der Mensch im Grunde Kind bleiben will. So halten beide den Menschen im Infantilismus und fördern seine Regression; Religion und Psychologie stehen damit in fundamentalem Gegensatz zur klassischen Aufklärung

33) Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790). In: Akademieausgabe …, aaO, Bd. V, S. 165-487

34) Ebenda S. 181

35) Ebenda, S. 236; „Das Schöne ist das, was ohne Begriff als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird.“ (S. 211) „Naturschönheit ist ein schönes Ding, die Kunstschönheit ist eine schöne Vorstellung von einem Ding.“ (S. 311)

36) Johann Joachim Winckelmann: Von der Kunst unter den Griechen [1764]. In: Winckelmanns Werke in einem Band. Berlin/Weimar 1976, S. 196

37) Heinrich Heine: Die Stadt Lucca, 1829/30. Reisebilder. Vierter Teil. In: Heinrich Heine. Sämtliche Werke Bd. VI. München 1964, S. 38

38) Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Akademieausgabe…, aaO, Bd. VII, S. 117-282

39) Gotthard Günther, Kritische Bemerkungen zur gegenwärtigen Wissenschaftstheorie. Aus Anlaß von Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften; in: Soziale Welt, 19 (1968), S. 328-341; auch als Netztext: http://www.vordenker.de/downloads/kritische.pdf

40) Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie,1843/44. In: Ludwig Feuerbach: Philosophische Kritiken und Grundsätze. Leipzig 1969, S. 321

41) Karl Marx [Thesen über Feuerbach]: In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Berlin 1969, Bd. 3, S. 5-7, 1. These S. 5; 8. These S. 7: „Alles Gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.“

42) Thesen des Materialismus nach d´Holbachs ´System der Natur´, aaO, S. 16

43) Wolfgang Jantzen: Allgemeine Behindertenpädagogik. Bd. 2: Neurowissenschaftliche Grundlagen, Diagnostik, Pädagogik und Therapie. Weinheim/Basel 1990

44) Ebenda S. 331f.

45) Ebenda S. 324

Editorische Hinweise

Erstdruck in: Topos 31/2009, gekürzt auch in: Aufklärung & Kritik II/2009.

Wilma Ruth Albrecht ist Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr.rer.soc., Lic.rer.reg.) mit Arbeitschwerpunkten aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie veröffentlichte unter anderem die Bücher Bildungsgeschichte/n (Shaker Verlag, 2006), Harry Heine (Shaker 2007), Nachkriegsgeschichte(n) (Shaker 2008), Max Slevogt 1868-1932 (Hintergrund Verlag 2014), PFALZ & PFÄLZER. LeseBuch Pfälzer Volksaufstand 1849 (Verlag freiheitsbaum 2014) sowie zuletzt ihr vierbändiges Werk ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza 2016-2019).

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