AfD, Linkspartei, Aufstehen

von W.R. Gettél

10/2018

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Die AfD ist keine Eintagsfliege, die sich mit bloßen Unmutsäußerungen verscheuchen lässt. Tief im System verwurzelt treibt sie mit Macht ihre Blüten hervor. Mit der sich unaufhörlich verschärfenden Systemkrise ist ihre Zeit gekommen. Angesichts sich gegenseitig stimulierender autodestruktiver Prozesse stellt sich die Frage: Was hat diese Entwicklung hervorgebracht, worin liegen ihre Ursachen? Aus der Nazizeit überlebende Strukturen und faschistisches Gedankengut starben zwar in der Nachkriegsgeschichte der BRD nie aus, blieben aber bis zum Ausbruch der Krise verhältnismäßig marginal. Erhalten blieb bis heute dennoch ein harter Kern, der wie ein Samenkorn aus sich herauswachsen und neue Früchte tragen kann, wird er von den Herrschenden an die Sonne gelassen. Faschismus ist eine Staatsform des Kapitalismus. Sie wird virulent, steht die parlamentarische Demokratie gewandelten Herrschaftsinteressen und neuen Bedingungen im Weg. Der Glaube, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bilden die natürliche Daseinsform des Kapitalismus, ist tief in die Gemüter gedrungen, so dass der AfD nicht zugetraut wird, was ihr unbedingt zugetraut werden muss: dass sie mit all den lieben Begriffen zwar jongliert, nicht aber vorhat, sie weder zu erhalten, noch zu verwirklichen. Ihre Ideologie kann dergleichen nicht gebrauchen. Sie favorisiert die diktatorisch geführte, rassisch überlegene Volksgemeinschaft. Das wolle und das könne sie nicht, ist die andere Seite dieses Glaubens, die sich in Form des Nichtglaubens zeigt.

Die AfD feiert heute Triumphe, von denen die NPD weit entfernt war. Woran lag das? Die NPD glich in ihrem Erscheinungsbild nicht selten einem grobschlächtigen Nazihaufen und trat im kriegsmüden Westdeutschland eine Spur zu martialisch auf; aber das war nicht der entscheidende Grund. In nicht geringem Umfang wirkte sie auch lächerlich bis grotesk. Auch deswegen blieb sie nicht unbedeutend, denn lächerlich und grotesk gerieren sich auch andere Parteien. Die AfD bildet keine Ausnahme. Wer sie ohne ideologische Verblendung nüchtern betrachtet, wird stellenweise nicht umhin können, sie für den organisierten Idiotismus zu halten. Tatsächlich hat sie nichts anzubieten, was rationalen kritischen Überlegungen standhält, insoweit es um gesellschaftspolitische Gestaltung von Gegenwart und Zukunft geht. Dennoch ist sie als politischer Faktor ernst zu nehmen – sehr ernst. Denn so wie sie ist, ist sie für ihre Aufgabe bestens geeignet. Sie steht auf fester Grundlage. Das System steht hinter ihr. Sie muss sich nicht um komplizierte ökonomische und soziale Fragen kümmern. Kultur ist ohnehin nicht ihre Sache. Ihre Aufgabe besteht primär darin, Herrschaftswillen zu vermitteln und zu vollstrecken. Ihr geistiger Horizont ist im Wesentlichen nicht weiter, als der der NPD. Doch sie hat deren Fehler vermieden, ist vorgestoßen, als es die Situation verlangte. Sie hat die Krise gerochen und sich parlamentarisch salonfähig gemacht; sie hat frühzeitig begriffen, dass die Demokratie nicht von außen, also außerparlamentarisch, sondern am besten von innen zu liquidieren ist. Ein purer – quasi faschistischer – Staatsstreich könnte katastrophale Folgen haben – sowohl für die Herrschenden, als auch für die Gesellschaft. Zudem gingen seine seismischen Wellen um den Globus. Der kalte, indirekte, gesetzliche, rechtsstaatlich maskierte Staatstreich wird vorgezogen. Die Systemkrise erzwingt ihn. Die NPD spielt keine Rolle mehr. Sie ist ins Fahrwasser der AfD geraten und gehört inzwischen zu ihrer Schwungmasse. Als sie im rechten Lager den Ton angab, wirkte die Krise noch im Verborgenen. Der Sozialstaat wurde noch nicht oder nur geringfügig geschröpft. Von wachsendem Volkszorn war noch nicht die Rede.

Krisenfrei war der Kapitalismus noch nie. Seine zyklischen Krisen, so hart sie mitunter auch ausfielen, erwiesen sich immer als Motor seiner Weiterentwicklung. Die NPD blieb aber auch in krisenhaften Zeiten marginal, woraus sich folgern lässt, dass sämtliche Krisen in der bundesdeutschen Geschichte nicht ausreichten, sie auch nur in annähernd vergleichbare Höhen zu befördern, wie sie sie heute die AfD erreicht hat. Nun ließe sich sagen, zwischen beiden Parteien gebe es Unterschiede. Worin aber sollen die bestehen? Qualitative sind nicht zu erkennen. Verschiedene Taktiken, Färbungen, Sprachregelungen etc. bilden keinen qualitativen Unterschied. Nicht anders verhält es sich zwischen Linkspartei und SPD. Beide, AfD und NPD sind rassistische, den repressiven, diktatorischen Staat anstrebende Parteien. Dass sie sich durch verschiedene Namensgebung unterscheiden, spielt inzwischen keine Rolle mehr. Sie bilden ein Lager. Hätte sich die NPD damals AfD genannt, wäre es ihr nicht anders ergangen als es ihr ergangen ist. Die aktuelle Systemkrise ist die Geburtshelferin und Nahrungsquelle der AfD. Sie ist im Begriff, sie politisch zu gestalten.

Ist er alt, ist die Bezeichnung „Spätkapitalismus“ übertrieben oder gar falsch? Oder prosperiert, wächst und gedeiht er unaufhörlich weiter? Der staatlichen und medialen Propaganda zufolge taumle er nur ein bisschen vor sich hin, bleibe aber alternativlos ewiges Zukunftsprojekt. Von seinen Schattenseiten, seinen dunklen und immer dunkleren ist selten, und wenn nur in abschwächender Weise die Rede. Stattdessen werden Gewinne der Finanzwelt, das Glück der Reichen in einer Weise verallgemeinert, als handele es sich um Gewinne und Glück der ganzen Gesellschaft. Diese Augenwischerei soll wie immer schon die Menschen damit befrieden, dass sie, können sie sich zwar selber keinen Kuchen leisten, wenigsten die Gelegenheit haben, den Reichen und Mächtigen beim Kuchenessen zuzuschauen.

Auch dem Kapitalismus ist kein ewiges Wachsen beschieden. Ihm sind Grenzen gesetzt. Die bestehen darin, dass die von ihm immer neu entfesselten Produktivkräfte an die Grenze der Produktions- und Eigentumsverhältnisse stoßen. Die vorherrschende Systemkrise, insbesondere ihre ständig zunehmende Dynamik, unterscheidet sich von seinen zyklischen, ihn vorwärts treibenden Krisen dadurch, dass sie ihn nicht mehr bereinigt, von überflüssig Gewordenem befreit und die Produktion auf eine neue Entwicklungsstufe hebt, sondern Ausdruck einer grassierender Verwertungskrise ist. Anders gesagt, die in seiner Logik angelegte Überproduktion hat zu einer dramatischen Verengung der Kapitalverwertungsbedingungen geführt. Insofern liegt der Gedanke nicht fern liegt, es handele sich um die finale Krise des westlichen Spätkapitalismus und damit um seinen Eintritt in den Prozess seiner Selbstnegation. Sie ist kein anderes Wort für Zusammenbruch. Sie meint Zerstörung der Zivilisation als Preis seiner damit alles verheerenden Weiterexistenz. Nichts anderes meint „Sozialismus oder Barbarei“. Diese Frage stellt sich heute dringender denn je. Denn was hat die AfD und ihren Anhang hervorgebracht und sie in atemberaubendem Tempo heranwachsen lassen, wenn nicht die sich bereits im Stadium der Zivilisationszerstörung befindliche Krise!

Was die Systemkrise bisher an demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften zerstört hat, ist hinlänglich bekannt. Dieses Zerstörungswerk hält an. Ein Ende ist nicht abzusehen. Es steht zu befürchten, es wird nicht aufhören, bevor die menschliche Zivilisation in Trümmern liegt. Sind die Ursachen und ihre Folgen aber systemisch bedingt, bedarf es einer Kraft, die die Fesseln des gesamten Systems sprengt. Jeder Versuch, den Zerstörungsprozess aufzuhalten, ohne den Boden des Systems zu verlassen und ihm eine Alternative entgegenzusetzen, ist zum Scheitern verurteilt. Diese Kraft ist bisher in notwendiger Weise nicht in Sicht. Was nicht heißt, dass sie auch nicht zustande kommt. Es gärt an allen Ecken und Kanten. Die Flut der Fragen steigt an.

Warum steigen ununterbrochen die Mieten; warum schreiten Umwelt- und Naturzerstörung ungehemmt voran; warum nimmt die Massenverelendung zu; warum schreitet der Polizei-und Überwachungsstaat voran; warum steigt die Kriegsgefahr, das skrupellose Spielen mit dem Atomkrieg; warum wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer? Der Katalog ist umfangreicher. Doch die Beispiele reichen aus, sie dringend zu beantworten. Die Antworten müssen in die Tiefe des herrschenden Systems gehen, um ein tragfähiges Lagebild zu bekommen. Warum und wodurch sind trotz hoher Produktivkraftentwicklung und damit verbundenem gesellschaftlich erzeugten Reichtums all diese Verheerungen entstanden. Die Herrschenden werden darauf nicht antworten. Das überlassen sie ihren ideologischen Apparaten, die sie entsprechend mystifizieren. Das einzige Problem, das sie außer Profit wirklich beschäftigt, ist die Massen verschärft unter Kontrolle zu halten, sie durch Zwang zu befrieden und zu domestizieren. Die Alternative, ihre soziale Lage zu verbessern oder mindesten nicht weiter zu verschlechtern, besteht in erforderlichem Maße nicht mehr. Der Sozialabbau geht weiter. Aber warum? Warum wird überschüssiges Geld nicht nach unten verteilt? Das geht nicht mehr; und sei noch so viel Geld vorhanden: das Kapital braucht es selber und kann davon nicht genug haben.

Den Herrschenden bleibt nur das Mittel verschärfter staatlicher Repression, um wachsende Unzufriedenheit einzudämmen. Der moderne Polizeistaat bedarf um vorzeitiger Erstarrung zu entgehen der ideologischen Vermittlung, d.h. eines ideologischen Überbaus, der dafür sorgt, dass sich die Gesellschaft an die neuen Verhältnisse gewöhnt und sie auf allen Ebenen akzeptiert. Für diesen Umbau und vorzunehmenden allgemeinen Gesinnungswandel ist selbst die CDU nicht mehr zu gebrauchen. Die Krise wird nicht als Krise betrachtet, sondern als natürlicher, vom Schicksal der Völker auferlegter Zustand, in dem nur die starken bestehen können und demzufolge das Recht des Stärkeren herrscht. Jegliche Art vermeintlicher Minderwertigkeit hat sich zu unterwerfen und genießt nur eine geduldete Existenz ohne verbrieftes Daseinsrecht. Das ist die Kernauffassung des Faschismus, die nicht halb oder nur teilweise zu haben ist. Praktizierte Rassismus ist bereits Übernahme des Ganzen, auch wenn der Rest aus taktischen Gründen verborgen gehalten wird.

2.

Es ist nicht lange her, als Wagenknecht den linken Parteien bescheinigte, zu Mehrheiten nicht mehr fähig zu sein. Wahrscheinlich hat sie das desaströse Ergebnis der letzten Bundestagswahl zu dieser Erkenntnis gebracht. Die Linkspartei verlor besonders im Osten Stimmen an die AfD, hässlicher Weise in ihrem politischen Stammesgebiet. Mit linken Parteien meint sie vermutlich Grüne, SPD und ihre, doch wie sie dazu kommt, diese drei Parteien als links zu bezeichnen, verriet sie nicht. Wagenknecht ist seit knapp drei Jahrzehnten am Ruder, wurde ununterbrochen gefeiert und bejubelt und hat ihre Partei nachhaltiger als Gysi geprägt. Sie ließ nie Zweifel daran aufkommen, dass ihre Partei nicht links genug sei. Die Linkspartei sei selbstredend links. So war sie immer zu verstehen. Was aber meint sie damit, linke Parteien fänden keine Mehrheiten mehr? Hat sie damit nur parlamentarische gemeint oder sieht sie Links generell gescheitert? Angesichts des Umstandes, dass die Linkspartei per Namensgebung Links für sich reklamiert, ist Wagenknecht so zu verstehen, dass Links keine Chance mehr hat. Die Gründung von „Aufstehen“ bestätigt das. Es war eine Bankrotterklärung, ohne dass in der Partei sonderlich darüber geredet wurde. Wagenknecht selbst, die sich kurz zuvor noch als großartige linke Führungspersönlichkeit bewundern ließ, war nicht mehr davon überzeugt, wovon sie kurz zuvor die Massen noch überzeugen wollte.

Allem Anschein nach sagt sie nicht die Wahrheit. Weder sie noch Gysi haben je versucht, PDS oder Linkspartei in eine sozialistische Richtung zu bringen. Ohne sozialistischen Inhalt ist Links eine Floskel, bloße Etikettierung. Die PDS war von Anfang an ein Abklatsch der SPD. Sie konnte nur im Osten gedeihen. Unabhängig von anderen Voraussetzungen war der Reformismus dort noch nicht so abgenutzt wie im Westen, wo die SPD als Reformpartei schon lange abgemeldet war. Der PDS wurde ein bedeutender Vertrauensvorschuss gegeben, den sie im Westen nie bekommen hätte. Sie und ihre Nachfolgerin (oder Umbenennung) haben ihn verbraucht, ohne damit auch nur einen einzigen Erfolg erzielt zu haben. PDS und Linkspartei operierten mit immer neuen Aufgüssen des längst ausgelaugten Reformismus, die vom Sturm der Krisendynamik wie welke Blätter hinweggefegt wurden. Ob sie Forderungen stellten, Versprechungen machten, immer wieder Gerechtigkeit verlangten – es blieb hohles Gerede. 2017 verging den von der Krise weit härter getroffenen Wählerinnen und Wählern im Osten nach fast dreißig Jahren die Geduld. Sie kündigten ihr die Treue auf und wechselten in Scharen zur AfD. Nichts, aber auch gar nichts hatte ihnen PDS/Linkspartei gebracht. Wagenknecht wird sich kaum damit herausreden können, das alles habe sie nicht gewusst, nicht einmal geahnt. Doch hätten Gysi, Wagenknecht und ihre Leute der Wählerschaft und ihrer Basis die Wahrheit gesagt, wären sie kaum zu Ruhm, Ehren und gutem Einkommen gekommen. Wagenknecht weiß, dass der Kredit für immer verspielt ist: dass sie ohne Wählerbasis auch für die Medien nicht mehr interessant ist. Gescheitert ist keine sozialistische Linke größeren Ausmaßes. Die hat sich noch nicht gebildet. Gescheitert sind pseudolinke Parteien, wobei die Grünen nicht mehr mitzuzählen sind. SPD und Linkspartei sind von der Realität eingeholt worden. Der Niedergang der SPD bildet einen elenden Anblick. Der Machtkampf in der Linkspartei wird sie womöglich zerreißen oder in die verdiente Unbedeutendheit werfen. Worum geht der Kampf überhaupt? Um Ideen, um ein sozialistisches Ziel. Davon ist nichts zu hören. Die Linkspartei hat wesentlich dazu beigetragen, den Linksbegriff zu diskreditieren. Gibt es aber keine sozialistische Alternative, werden AfD und ihr strategischer Hintergrund bei der Demontage der Zivilisation leichtes Spiel haben.

3.

Mit ihrem Buch „Reichtum ohne Gier“ hat Wagenknecht hinreichend zu verstehen gegeben, dass sie kein sozialistisches Ziel anstrebt. Und wenn sie als quasi bürgerliche Berufspolitikerin einer pseudolinken Versammlung den Rücken kehrt, weil mit ihr und ihren nicht mehr glaubwürdigen Parolen nichts mehr zu holen ist, ist das nur konsequent. Und hat sie nicht gesagt, sie wolle zur AfD übergelaufene Wähler und Wählerinnen zurückholen? Das hat sie gesagt. Doch womit will sie die zurücklocken? Etwa mit den Köstlichkeiten, die sie nicht mehr haben wollten, vor denen sie Reißaus genommen haben? Das funktioniert nicht. Das weiß sie. Folglich muss sie in Konkurrenz zu den Köstlichkeiten der AfD treten. Wie soll das funktionieren? Selbst mit einer pseudolinken Partei, die immerhin den Schein wahren muss, geht das nicht. Vor diesem Hintergrund wird klar, was sich in ihrer Sammlungsbewegung „Aufstehen“ so alles sammeln kann, d. h. sie muss auch für rechte Gesinnungen Platz haben. Dass sie den erodierenden und überwiegend rechtsgeneigten Mittelstand als neue Basis anpeilt, hat sie in „Reichtum ohne Gier“ zu erkennen gegeben. In die Linkspartei die Abtrünnigen zurückzuholen wird nicht gehen. In die Sammlungsbewegung nur dann, bekommen sie dort genügend Speisung aus rechtsradikaler Küche. Das nimmt sie zumindest billigend in Kauf. Pseudolinke Politik findet keine Mehrheiten mehr. Das hat sie insofern richtig diagnostiziert. Dass sie als Katalysator wirkt – dazu hat sie sich nicht geäußert.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.