Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Jihadismus in Frankreich
Zum Prozess zur Mohammed Merah-Affäre sowie zu aktuellen Attacken
 

10/2017

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Ein Abwesender spielt die Hauptrolle, und fast alle Gedanken im Gerichtssaal sind an ihn gerichtet: Ungefähr so lässt sich die erste Verhandlungswoche im Prozess um die Mordtaten des französischen Jihadisten Mohammed Merah aus dem März 2012 zusammenfassen. Am vorigen Montag, den 09. Oktober 17 begann dieser Prozess in Paris; er soll noch bis zur Urteilsverkündung am 02. November d.J. dauern.

Mohammed Merah sitzt nicht auf der Anklagebank, denn er ist tot. Bei der Erstürmung seiner Wohnung durch den RAID, eine ungefähr mit der deutschen GSG9 vergleichbare Eliteeinheit der Polizei, starb er im Kugelhagel, mit der Waffe in der Hand und selbst um sich schießend. Zuvor hatte er drei marokkanischstämmige französische Soldaten, die er als „Verräter“ betrachtete, im südwestfranzösischen Montauban sowie einen Lehrer und drei Kinder an einer jüdischen Schule in Toulouse ermordet.

Angeklagt sind deswegen zwei andere Personen, denen nicht unmittelbare Haupt- oder Mittäterschaft vorgeworfen sind, sondern Beihilfe – französisch complicité – zu den Taten des im Alter von 23 Jahren zu Tode gekommenen Mohammed Merah. Es handelt sich um seinen Bruder Abdelkader Merah, der selbst dem salafistischen Milieu angehörte und bei der ideologischen Entwicklung seines jüngeren Familienmitglieds Einfluss genommen haben soll, sowie den Verkäufer der Tatwaffe. Letzterer heißt Fettah Malki und hat mutmaßlich nicht aus ideologischen Motiven gehandelt, als er die Maschinenpistole vom Typ und eine schusssichere Weste veräußerte. Er trat jedoch auch nicht als anonymer Waffenhändler in Erscheinung, sondern war ein Jugendfreund Mohammed Merahs. Der 1982 geborene Malki war hauptberuflich Pizzabäcker, hatte jedoch durch diverse Deals laut eigenen Angaben 120.000 Euro akkumuliert und bezeichnet sich selbst als religionsfern. Er sitzt seit 2013 in Untersuchungshaft.

Stärker auf der ideologischen Ebene angesiedelt ist der Einfluss des großen Bruders, Abdelkader. Er teilte mit seinem Bruder Mohammed, der sich laut Expertisen während eines anderthalbjährigen Haftaufenthalts in den Jahren 2008 und 2009 – infolge eine Diebstahls – „radikalisierte“, eine Reihen radikalislamistischer Grundideen.

Und er soll ihm in der Haft, während derer Mohammed Merah (laut einer vor Gericht debattierten Darstellung) im Februar 2008 zum Islam salafistischer Version konvertierte, Bücher und CDs mit entsprechendem Gedankengut zur Verfügung gestellt haben. Aus den Debatten vor Gericht schält sich heraus, dass Mohammed Merah im Gefängnis einerseits auf Sinnsuche war und seine Verurteilung als ungerecht empfand, weswegen er auf der Suche nach einer Rechtfertigung für die Abgrenzung von und Rache an der „ungläubigen“ Gesellschaft war. Andererseits sei er aus Vernehmungen betreffend einen Raub, an dem er beteiligt war, was ihm jedoch nicht nachgewiesen werden konnte, heil davongekommen. Dies habe er daraufhin auf „göttliche Hilfe“ zurückgeführt. (Andere Quellen bestreiten diese These, die vor Gericht debattiert wurde und eine Radikalisierung während des Haftaufenthalts 2008/09 annimmt. So finden sich im französischsprachigen Wikipedia-Eintrag zu Mohammed Merah mehrere Quellen, die ihn bereits im Jahr 2006/07 – und in jugendlichem Alter – als entschlossenen radikalislamistischen Aktivisten ausmachen.)

Einem dritten Bruder zufolge, Abdelghani Merah, welcher am ersten Prozesstag in Paris im Zeugenstand auftrat und grundlegend andere Positionen einnimmt als seine nächsten Verwandten, herrschte ferner im familiären Milieu allgemein „ein günstiger Nährboden für eine Hassideologie“. Die Eltern hätten, vor dem Hintergrund – durchaus realer - französischer Kolonialverbrechen in Algerien, einen Groll gepflegt, der die Form eines religiös überformtes Ressentiments angenommen habe. Eine Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikt, die mit einer Empfänglichkeit für die Thesen von Verschwörungstheoretikern einhergegangen sei, habe zudem ihr Bild von Juden geprägt. In diesem kulturell-ideologischen Milieu sei Mohammed Merah erzogen worden: „Er war eine Bombe, und die Salafisten haben den Zünder dazu geliefert“, präzisierte Abdelghani Merah. Abdelghani Merah ist seit 2003 mit einer Frau jüdischer Herkunft verheiratet und gilt als „schwarzes Schaf“ in einer Familie, die während der Hochphase der radikalen Islamistenpartei FIS (Islamische Errettungsfront) in Algerien – seiner Darstellung zufolge – in deren Sympathisantenumfeld angesiedelt war.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis trat der jüngere Bruder (Mohammed Merah) eine Reise an, die ihn zunächst durch mehrere arabische Staaten führte und bei denen er mit jihadistischen Gruppen in Kontakt zu treten versuchte. Zunächst vergeblich. Am Ende führte ihn sein Weg in das Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan, wo er die Gruppe Dschound Al-Khalifat (oder hocharabisch Dschounoud Al-Khilafat, also „Soldaten des Kalifats“) traf, die dem Netzwerk Al-Qaida angegliedert war.

Gibt es auch eindeutige ideologische Berührungspunkte zwischen den Brüder Abdelkader und Mohammed Merah, so zeichnete sich doch in der ersten Verhandlungswoche ab, dass die Grundlage für gerichtsfeste Fakten bezüglich eines „Beihilfe“-Vorwurfs dünn erscheint. Zwei mal hintereinander, am vorigen Mittwoch und am Donnerstag (04. und 05. Oktober 17), sagten Polizisten im Zeugenstand aus, keine Hinweise auf materielle Beihilfehandlungen von irgendjemandem gefunden zu haben. Man habe nach ihnen gesucht, erklärten zunächst ein Kommissar und am folgenden Tag ein weiterer Beamter, jedoch keine entdeckt. Deswegen gehe man – so jedenfalls der Polizeikommissar – davon aus, Mohammed Merah habe bei der materiellen Tathandlung als „lonely wolf“ (im Original, in grammatikalisch schlechtem Englisch) agiert.

Debattiert wurde jedoch über die Anwesenheit von Abdelkader Merah zu dem Zeitpunkt, als das Tatfahrzeug gestohlen wurde – der berühmt gewordene Motorroller, auf dem Mohammed Merah zu seinen beiden Mordaktionen fuhr, mit einer Go Pro-Kamera auf dem Helm. Beide Brüder saßen dabei in einem Auto, aus dem Mohammed Merah urplötzlich ausstieg, als er den Motorroller am Straßenrand sehen sah. Dass sein Bruder Abdelkader davon gewusst hätte, ist zumindest nicht nachweisbar. Sein Verteidiger - der Pariser Staranwalt Eric Dupont-Moretti - holte ferner aus einem der im Zeugenstand vernommenen Polizisten die Aussage heraus, hätte Abdelkader Merah diese Episode den Ermittlern nicht selbst erzählt, wüssten diese auch gar nicht, dass er mit in dem Auto gesessen hatte. Dies bekräftigt seine Version, wonach er von dem Aussteigen seines Bruders Mohammed zum Fahrzeugdiebstahl überrascht gewesen sei.

Unter dem Strich dürften seine ursprünglich ideologische Rolle gegenüber seinem Bruder bedeutsam, seine Handlungen jedoch nicht strafrechtlich relevant ausfallen. Jedenfalls nicht im Sinne einer „Beihilfe“ zur Tat. (Anm.: Hingegen könnten Aussprüche Abdelkader Merahs aus dem Jhr 2012, er sei „stolz“ auf seinen Bruder, unter das Delikt der Terrorismus-Apologie fallen; im Prozess äußerte er sich jedoch vorsichtiger und erklärte, er „bedauere, was passiert ist“.)

Aktuelle Attacken

Jihadistische Ideologie und entsprechende Aktivitäten bilden auch über den weiterlaufenden Merah-Prozess hinaus derzeit ein aktuelles Thema in Frankreich. Am 30. September 17 wurde etwa zunächst ein funktionsfähiger Sprengsatz mit Gasflaschen am Fuße eines Wohngebäudes im großbürgerlichen 16. Pariser Bezirk aufgefunden. Deswegen sitzen drei Männer nun in Untersuchungshaft, es soll Verbindungslinien zu der 2012 verbotenen salafistischen Gruppierung Forsane Alizza geben.

Kurz darauf wurde auch ein weitaus rudimentärer wirkender Sprengsatz unter einem Lastwagen der Zementfirma Lafarge am anderen Ende von Paris aufgefunden. Dies wirft jedoch noch Fragen auf. Denn der französische Zementhersteller hatte in den letzten Jahren, unter seiner mittlerweile abgesetzte vorherigen Direktion – wie die Firma selbst zugegeben – an einem seiner Standorte in Syrien den „Islamischen Staat“ (IS) monatlich finanziert, um seine Präsenz dort aufrecht erhalten zu können.

Am 1. Oktober 17 wurden zwei junge Frauen, die beiden zwanzigjährigen Cousinen und Studentinnen Laura und Maranne, bei einer Messerattacke am Bahnhof Saint-Charles in Marseille getötet. Der Täter, welcher selbst erschossen wurde, ein 1987 geborener tunesischer Staatsbürger mit den Namen Ahmed Hanachi, rief dabei „Allah akbar“ aus. Hanachi hatte seit 2006 im italienischen Aprilia gelebt, wo er zeitweilig mit einer Italienerin verheiratet war, verschwand dort jedoch seit 2015. Er soll unter sieben verschiedenen Identitäten gelebt haben, zumindest zeitweilig in Frankreich. Dort war er am Tag vor seiner Mordtat in Lyon wegen eines Ladendiebstahls in Polizeigewahrsam gesteckt, im Laufe des Tages jedoch aus ihm entlassen worden.

Seitdem tobt eine heftige Debatte, weil es auf zahlreichen Blogs und in anderen Medien so dargestellt wird, als hätte er abgeschoben werden können – Hanachi hielt sich tatsächlich illegal in Frankreich auf, doch die Abschiebehaftanstalt am Lyoner Flughafen war laut behördlichen Angaben überfüllt, was manche Medienberichte in Frage stellen. Dies wird nun vielfach so hingestellt, als habe die Nichtabschiebung unmittelbar und in einer zwingenden Ursache-Wirkungs-Kette zu dem Mord geführt, was eine nun wirklich ziemlich zweifelhafte Sicht darstellt.

Ungeklärt ist jedoch die genaue Motivation des Täters, bei dem sich eine jihadistische Vorprägung bislang nicht nachweisen lässt, auch wenn ein – wohl als opportunistisch zu charakterisierendes – Bekennerschreiben des „Islamischen Staates“ dazu gibt. Die tunesischen Behörden erklärten, die Angaben zur Person überprüft und keine Verbindung zu jihadistischen Gruppen aufgespürt zu haben. Am Montag, den 09. Oktober d.J. wurde allerdings einer seiner Brüder, Anis Hanachi, in Italien festgenommen. Er wiederum soll sich als jihadistischer Kombattant in Syrien aufgehalten haben. Vielleicht ist auch hier die Ideologie über familiären Einfluss bis zum Täter vorgedrungen.

Terrorpolemik bei der Linken..

Die Attacke von Marseille hat indirekt auch zu einer trüben Debatte bei der linkssozialdemokratischen und linksnationalistischen Bewegung La France insoumise – der vormaligen Wahlplattform von Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon – geführt. Sonia Nour, Mitarbeiterin eines KP-geführten Rathauses in der nördlichen Pariser Banlieue, bezeichnete in einer alsbald gelöschten Facebook-Nachricht den Täter von Marseille als „Märtyrer“. Allem Anschein nach hatte sie sich allerdings nicht apologetisch äußern wollen, sondern hatte eine missverständliche Ausdrucksweise gewählt. Im Kern ging es zweifellos nicht um eine Rechtfertigung des Täters – mit dessen religiös-politischer Ideologie sie sich offensichtlich nicht identifiziert -, sondern um eine gewisse Relativierung; in der Annahme, die Gesellschaft reagiere nicht gleichermaßen scharf auf Terrortote einerseits und auf Opfer bspw. familiärer Gewalt andererseits.

Kurz darauf erklärte sie, mit „Märtyrer“ nicht jemanden zu meinen, der sich – so die herrschende religiöse Sichtweise - zu Ehren des Glaubens opferte, sondern einen „narzisstischen Täter“, welcher für seine Ideologie über Leichen zu gehen bereit sei. Ihr eigentlicher Ansatzpunkt war eine, mehr oder minder diffus feministisch argumentierende, Relativierung der Bedeutung des Marseiller Angriffs auf die beiden jungen Frauen: Der „patriarchalische Terror“ töte wesentlich mehr Frauen.

Daraufhin entzog der KP-Bürgermeister von La Courneuve, Gilles Poux, der jungen Frau ihre Funktionen im Rathaus // http://www.lemonde.fr // und verurteilte ihre Nachricht.

Auch die beiden Abgeordneten von La France insoumise Jean-Luc Mélenchon und François Ruffin (parteilos doch für LFI gewählt) distanzierten sich von derselben // http://www.lexpress.fr/ //, nachdem die Wahlkreis-Stellvertreterin des Abgeordneten Ruffin zuvor Sonia Nour unterstützt hatte.

Einmal mehr eine reichlich unnötige Debatte in den Reihen der Linken, die einen - in der Sache absolut falschen - Eindruck der ideologischen Rechtfertigung jihadistischer Gewalt erwecken konnte. Jedenfalls ließen die rechten Gegner es sich nicht zwei mal sagen, dass sie hier eine Gelegenheit wahrnehmen konnten, die Linke in der Öffentlichkeit in ebendiese Ecke zu rücken...

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Eine überarbeitete und gekürzte Fassung erschien am Donnerstag, den 12.10.17 in der Berliner Wochenzeitung ,Jungle World’