Neue Studien
gehen davon aus, dass selbst eine grundlegende
Änderung der ökonomischen Entwicklung den
Klimawandel nicht mehr aufhalten kann. Dennoch
wäre die Überwindung des Kapitalismus für ein
Überleben der Menschheit unabdingbar.
Es kommt immer
schlimmer als angenommen – deshalb müssen alle
Jahre wieder die langfristigen klimatischen
Prognosen revidiert werden. In der Frühzeit der
Erforschung des Klimawandels, in den achtziger und
frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhundert, wurde
dieser als ein langfristiger, gradueller Prozess
begriffen, der Jahrtausende in Anspruch nehmen
würde. Bis die Analyse prähistorischer Eisbohrkerne
und Sedimentablagerungen die Wissenschaft mit der
klimageschichtlichen Tatsache offenbarte, dass ein
Klimasystem binnen weniger Dekaden kippen kann.
Seither tobt in der Wissenschaft der Streit
darüber, ab welcher CO2-Konzentration in der
Atmosphäre der point of no return erfolgen wird,
nach dessen Überschreiten sich das globale
Klimasystem vollends menschlicher
Einflussmöglichkeit entziehen wird.
Derzeit wird
dieser qualitative Wendepunkt nach ausführlichen
Diskussionen im Intergovernmental Panel on Climate
Change (IPCC) der Vereinten Nationen bei einer
Erhöhung der globalen Temperatur um zwei Grad
Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter
verortet. Diese Annahme bildete auch die Grundlage
des internationalen Klimavertrags von Paris, in dem
sich die beteiligten Staaten formell dazu
verpflichteten, ihren Ausstoß an Treibhausgasen in
den kommenden Dekaden zu reduzieren, um das
Überschreiten dieses Wendepunkts bis zum Ende
dieses Jahrhunderts zu verhindern.
Dass es sich bei
dieser Zwei-Grad-Grenze eher um einen politischen
Kompromiss als um einen wissenschaftlichen Konsens
handelt, wird anhand jüngster wissenschaftlicher
Studien offensichtlich. Einem Bericht des
Wissenschaftsmagazins Nature zufolge sind selbst
die pessimistischeren Szenarien des IPCC zu
optimistisch. Laut der in dem Magazin vorgestellten
Untersuchung ist eine Begrenzung der Erderwärmung
auf zwei Grad bei Beibehaltung der gegenwärtigen
ökonomischen Entwicklung kaum noch realistisch. Die
Autoren der Studie, Adrian E. Raftery und Peiran
Liu vom Statistikinstitut der University of
Washington in Seattle, Dargan M. W. Frierson vom
Wetterforschungsinstitut derselben Universität und
Richard Startz vom Wirtschaftsinstitut der
University of California in Santa Barbara, kommen
zu dem Schluss, dass die globalen Temperaturen mit
einer »90prozentigen Wahrscheinlichkeit« bis 2100
um zwei bis 4,9 Grad Celsius ansteigen würden. Der
errechnete Mittelwert beträgt 3,2 Grad Celsius.
Eine Begrenzung des Anstiegs der globalen
Temperatur auf weniger als zwei Grad Celsius weise
eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit von nur fünf
Prozent auf.
Die Modelle, mit
denen die Autoren der Studie arbeiteten, basierten
nicht auf luftigen künftigen Emissionsszenarios,
sondern auf einer konkreten Datenbasis des
Zeitraums von 1960 bis 2010, auf deren Grundlage
drei Entwicklungen hochgerechnet wurden: globales
Bevölkerungswachstum, Bruttoinlandsprodukt (BIP)
pro Kopf und die sogenannte CO2-Intensität der
globalen Wirtschaft. Mit letzterem Faktor ist der
Anteil der Verbrennung fossiler Energieträger an
der Wertproduktion gemeint. Die wichtigste
Erkenntnis der Studie ist, dass das
Bevölkerungswachstum kaum eine nennenswerte
Triebkraft des Klimawandels sei, da es vor allem in
Afrika stattfinde, wo der Ressourcenverbrauch pro
Kopf sehr niedrig ist.
Entscheidend sei
die Ökonomie: Um doch noch unterhalb der
Zwei-Grad-Grenze zu bleiben, wären radikale
Maßnahmen notwendig. »Unsere Analyse hat ergeben,
dass das Zwei-Grad-Ziel ein best-case-Szenario
darstellt«, sagte einer der Autoren der Studie der
israelischen Zeitung Haaretz. Es sei erreichbar,
»aber nur durch eine großangelegte, anhaltende
Anstrengung an allen Fronten in den kommenden 80
Jahren«. Die Menschheit müsse ihre Emissionsmuster
»abrupt ändern«, um auf dem Planeten
überlebensfähig zu bleiben. Konkret warnen die
Wissenschaftler – bezugnehmend auf entsprechende
Studien der Nasa – vor globalen Hungersnöten,
Massensterben und Umweltkatastrophen in den
Küstenregionen, die durch den raschen Anstieg des
Meeresspiegels ausgelöst würden.
Den Autoren der
Studie zufolge könnte die Klimakatastrophe im
21. Jahrhundert noch abgewendet werden, wenn »die
industrialisierte Welt schnell zusammenarbeiten
würde, um Technologien zu entwickeln, die
nachhaltig CO2 ersetzen«. Doch selbst in diesem
Fall sei es nicht wahrscheinlich, dass der
Temperaturanstieg auf unter 1,5 Grad im Vergleich
zum vorindustriellen Zeitalter begrenzt würde.
Schon ab diesem Wert drohten ernsthafte klimatische
Verwerfungen; die Tageshöchsttemperaturen im Nahen
Osten könnten auf ein Niveau jenseits menschlicher
Überlebensfähigkeit ansteigen, so Haaretz.
Überdies deuten
weitere aktuelle Befunde darauf hin, dass die Zeit
abgelaufen ist, um eine Klimakatastrophe zu
verhindern. So scheint die statistische Erfassung
von Klimagasen alles andere als zuverlässig, wie
die BBC jüngst berichtete. Demnach seien viele
Staaten bemüht, die statistisch erfassten Zahlen
möglichst niedrig zu halten, um so ihren
tatsächlichen Ausstoß an Klimagasen zu
verschleiern. Die wirklichen Emissionen von
Treibhausgasen seien also sehr viel höher als
statistisch erfasst. Diese großen Abweichungen
stellten für das Pariser Klimakommen eine weitaus
größere Bedrohung dar als der Ausstieg der USA aus
dem Vertragswerk, erläuterten Klimaforscher.
Offensichtlich ist
die spätkapitalistische »Verbrennungskultur«
(Robert Kurz) nicht in der Lage, angesichts der
evidenten zivilisationsbedrohenden Folgen des
Klimawandels umzusteuern. Der Konkurrenz- und
Verwertungszwang setzt sich gegen alle politischen
Deklarationen durch. Der ökologisch nachhaltige
Kapitalismus, wie er vor allem von den Grünen
propagiert wird, ist als Hirngespinst entlarvt. Die
Überwindung des Kapitalismus samt seines
autodestruktiven Verwertungszwangs wird zu einer
zivilisatorischen Überlebensfrage. Die Autoren der
in Nature vorgestellten Studie fordern nichts
anderes als eine Revolution, wenn sie eine abrupte
Änderung der Emissionsmuster der Weltwirtschaft
anmahnen.
Eine
Klimakatastrophe kann nur noch durch einen
revolutionären Prozess aufgehalten werden. Zugleich
wandelt sich die strategische Perspektive der
postkapitalistischen Gesellschaft: Es geht nicht
mehr um die Realisierung einer Utopie, sondern um
die Herausbildung einer globalen Infrastruktur, mit
der die bereits unausweichlichen Folgen des
Klimawandels ohne Abdriften in die Barbarei
bewältigt werden können. Eine emanzipatorische
postkapitalistische Gesellschaft wäre vor allem mit
der Bewältigung der ökologischen Folgen der
kapitalistischen Verwertungsexzesse beschäftigt.
Ein Blick auf das
zum Massengrab verkommene Mittelmeer lässt erahnen,
was ein krisenbedingt sich faschisierender
Kapitalismus hervorbringen würde. Der gegenwärtige
öffentliche Klimadiskurs befindet sich wegen des
Aufschwungs der Rechten insbesondere in den USA in
offener Regression. Die US-Wissenschaftler, die den
neusten Klimabericht im Auftrag der US-Regierung
anfertigten, ließen ihn vor der Veröffentlichung
der Presse zukommen, um der Regierung Trump nicht
die Möglichkeit zu geben, die enthaltenen
dramatischen Warnungen zu verwässern.
Der von der
Rechten in Europa und den USA geführte Kampf gegen
jegliche Art von Klimapolitik sollte indes nicht
nur auf ökonomische Interessen etwaiger
Kapitalfraktionen aus dem »fossilen Sektor« der
Wirtschaft zurückgeführt werden. Dieser irrationale
Kreuzzug gegen eine halluzinierte
»Klimaverschwörung« von Wissenschaftlern hat auch
tiefergehende Ursachen: Es ist eine ideologische
Manifestation des unbewussten Bedürfnisses, die
wachsenden Widersprüche der kapitalistischen
Vergesellschaftung mit einem lauten »Weiter so« zu
beseitigen – auch wenn die kapitalistische
Vergesellschaftung auf diese Weise als eine Art
irre Selbstmordsekte zu sich selbst kommt.
Editorische
Hinweise
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Erstveröffentlicht wurde er in der
Jungle World, 2017/35.

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