Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Migrantencamp in Calais vor Räumung

Artikel vom 24. Oktober 2016

10/2016

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Alles verläuft ruhig“, und planmäßig: So lautet die Quintessenz der PR von Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve, seitdem am Montag früh – wie seit längerem vorgesehen – die Evakuierung des „Jungle“ genannten MigrantInnencamps in der Nähe von Calais begonnen hat. Gegen 08.45 Uhr am Montag Vormittag verließ ein erster Bus mit Migranten an Bord das Lager, um zu einem „Aufnahme- und Orientierungszentrum“ (CAO) in der ostfranzösischen Region Burgund zu fahren.

Rund 170 solcher CAO bestanden bereits bislang, seit im Herbst 2015 eine erste Umverteilung von MigrantInnen aus Calais über das gesamte französische Staatsgebiet begonnen hatte, bevor sie vorläufig ins Stocken geriet. Weitere 280 sind nun zusätzlich eingerichtet worden, wodurch ihre Gesamtzahl nun die 450 übersteigt. Doch nicht alle geplanten Einrichtungen dürften rechtzeitig fertig werden. Auch, weil es lokal zum Teil heftige Widerstände gibt, die von Rechten aller Schattierungen eifrig Nahrung erhalten. Am Montag früh wurde bekannt, dass die fünfte Aufnahmeeinrichtung in Folge, sie liegt in Loubeyrat im französischen Zentralmassiv, in der Nacht zufolge attackiert worden war. Wie in anderen Fällen handelte es sich um mutwillige Brandstiftung. In zwei Fällen – im Raum Nantes und im Umland von Grenoble waren, noch unbewohnte, Einrichtungen auch nächtlich mit Feuerwaffen beschossen worden.

Nicht nur deswegen, und weil die Kapazitäten auch sonst nicht immer mit den Planungen mithalten, dürfte die über mehrere Wochen hinweg vorgesehene - und mehrere Tausend Polizisten mobilisierende - Operation nicht ganz so reibungslos verlaufen, wie offiziell dargestellt. „2.000 Migranten weigern sich, aus Calais zu gehen“, und werden Widerstand leisten, kündigte Christian Salomé von der NGO L’auberge des migrants (Die Herberge für Migranten) am Montag früh vor Ort an. Denn sie wollen sich nicht darin fügen, sich das Vorhaben einer Überfahrt auf die britischen Inseln definitiv aus dem Kopf zu schlagen. Ebendies aber bedeutet der Weggang aus Calais in zum Teil weit entfernte Landesteile Frankreichs. Dort wird ihnen aber nur eine vorübergehende Aufnahme für allerhöchstens vier Monate garantiert. Spätestens dann sollen die Betreffenden entweder eine „freiwillige Ausreise“ antreten, oder ins französische Asylsystem aufgenommen sein. Letzteres ist aufgrund notorisch unzureichender Mittelausstattung bereits heute mit der Unterbringung von Geflüchteten reichlich überfordert oder gibt sich jedenfalls so.

Keinerlei Garantie gibt es dabei für jene MigrantInnen, die aufgrund der Dublin-Vereinbarung in ein anderes EU-Land zurückgeschoben werden können, wie Griechenland, Italien oder gar Ungarn. Dies widerfuhr bereits vor einem Jahr Sudanesen, die sich von Calais nach Südwestfrankreich hatten überstellen lassen. Deswegen werden sich auch die „Dublin-Betroffenen“ mit am ehesten ihrer Umverteilung widersetzen. Oder aber sie lassen sich bereits in einiger Entfernung vom „Jungle“ in kleineren, informellen Camps in bis zu zehn Kilometern Entfernung nieder. So sah die Lage im gesamten Raum Calais im Übrigen noch vor zwei Jahren aus. Danach hatte die Staatsmacht den Druck erhöht, um die Betreffenden mittels Vertreibungsmaßnahmen an einem einzelnen Punkt zu konzentrieren, dem „Jungle“, in dem vor kurzem 8.000 bis 10.000 Menschen lebten. Heute ist die Staatsmacht umgekehrt der Auffassung, das Camp sei zu groß und sichtbar geworden, und versuchen eine neue Unsichtbarkeit herzustellen.

Für eine gewisse Unsichtbarkeit sollen auch die Kontrollen für den Zugang von JournalistInnen sowie NGOs sorgen. Rund 700 Medienvertreter/innen waren anwesend, als es am Sonntag zu Auseinandersetzungen zwischen Migrantengruppen und Polizeikräften im Camp kam. Zu solchen kam es in jüngster Zeit immer öfter, da auch die so genannten Schlepper ihre Tätigkeit intensiviert haben, bevor es zum „Torschluss“ kommt.

Doch die Staatsmacht möchte ab jetzt nur noch akkreditierte Medien-, aber auch NGO-Vertreter/innen direkt vor Ort in das bisherige Camp lassen, das dem Abriss zugeführt werden soll. Bei den NGOs und Initiativen geht es dabei vor allem darum, aus ihrer Sicht zu radikale Gruppen – wie die „No borders“ – auszugrenzen und fern zu halten. Institutionell ausgerichtete NGOs, die die Zerschlagung des „Jungle“ begleiteten und von denen elf jüngst sogar einen beschleunigten Abriss „vor der Winterpause im November“ forderten, sind dagegen wohl gelitten.

Um die weniger gut angesehenen Kräfte draußen zu halten, greifen die Behörden dabei auch auf das Notstandsgesetz zurück. Die Zufahrtsstraßen und –wege zwischen „Jungle“ und Hafengelände wurden auf der Grundlage der derzeit in Kraft stehenden Bestimmungen zum Ausnahmezustand zum besonderen „Gefahrengebiet“ erklärt. Dies erlaubt, „widerrechtlich Eindringende“ strafrechtlich zu verfolgen.

Gegen das Aussieben der vor Ort zugelassenen Medienvertreter/innen protestierten die Journalistengewerkschaften CGT-SNJ, CFDT-Journalisten und SNJ zusammen in einem Pressekommuniqué vom Samstag, den 22. Oktober 16. // Vgl. http://www.acrimed.org //

Aber protestiert haben auch die Sprachlehrer/innen und Übersetzer/innen, welche die Behörden (auf Anordnung eines Kommissariats in Calais hin) einspannen wollten, um durch Übersetzungsdienste einen reibungslosen Ablauf der geplanten Operation zu gewährleisten. In einer gemeinsamen Erklärung vom 17. Oktober d.J. verwandten sich mehrere Gewerkschaften im Bildungssektor (CGT Educ’action, FSU, SNFOLC, Sundep Solidaires und CNT) dagegen und kündigten an, das Personal lasse sich nicht für Dienste als Polizeibüttel instrumentalisieren. // Vgl. https://passeursdhospitalites.files.wordpress.com und http://www.cnt-f.org

 

Den Artikel erhielten wir von Autor für diese Ausgabe.
Eine gekürzte Artikelfassung erschien in der Tageszeitung ,Neues Deutschland’ vom Dienstag, den 25.10.16