Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Migrantencamp in Calais vor Räumung

Artikel vom 21. Oktober 2016

10/2016

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Im Hinblick auf die geplante Umverteilung der Betroffenen ab dem kommenden Montag., den 24. Oktober 16 häufen sich unterdessen rassistische Demonstrationen in mehreren Teilen Frankreich...

Am vergangenen Samstag, den 15. Oktober 16 begann die Mauer, Gestalt anzunehmen. An dem Tag wurden die ersten, vier Meter hohen Zementplatten installiert1. Am 20. September d.J. hatten die Fundamentarbeiten dafür begonnen2. Auch in Frankreich – wo man noch im vergangenen Jahr die stacheldrahtbewehrte Grenzsicherung im Ungarn Viktor Orbans scharf kritisierte – ist das Mauerbauen in Mode gekommen, wenn es um die Abwehr von Migranten geht3. Allerdings handelt es sich im vorliegenden Falle im nordfranzösischen Calais nicht darum, dieselben an der Einreise zu hindern, sondern kurioserweise an der Ausreise.

Infolge der französisch-britischen Vereinbarung von Le Touquet (2003) wurden die Grenzkontrolle des Vereinigten Königreichs auf das Südufer des Ärmelkanals vorverlagert. Dort „stauen“ sich nun auf französischer Seite Migrantinnen und Migranten, deren Lebenstraum darin besteht, auf die britischen Inseln überzusetzen. Sei es aus sprachlichen Gründen oder weil sie – etwa als Abkömmlinge früherer britischer Kolonialuntertanen – Familienmitglieder und nahe Bekannte in England haben. Oder sei es, weil der neoliberal durchstrukturierte britische Arbeitsmarkt zwar schlechte Arbeits- und Lohnbedingungen bietet, aber immerhin „durchlässig“ genug ist, um ihnen überhaupt Chancen auf einen Lebensunterhalt zu geben.

Unterdessen werden die Lebensbedingungen für die Geflüchteten, die in der Nähe der französischen Hafenstadt Calais in einem unter dem Namen „Jungle“ bekannt gewordenen Camp leben, immer stärker erschwert. Neben den bereits bestehenden Sperranlagen und Zäunen rund um das Hafengebiet von Calais soll nunmehr bis zum Jahreswechsel 2016/17 zusätzlich eine vier Meter hohe und einen Kilometer lange Mauer errichtet werden, die mit Überwachungskameras und Scheinwerfern ausgestattet sein wird. Sie soll das Betreten der Zufahrtsstraße zum Hafengelände verhindern, weil die Migranten sich ebendort an Bord von LKWs oder Fähren zu schmuggeln versuchen4. Die Kosten dafür in Höhe von 2,7 Millionen Euro werden durch die britische Regierung übernommen.

Hingegen bezeichnete die konservative Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, das mit britischen Geldern finanzierte Vorhaben als „Schandmauer“5. Ihr wäre es mutmaßlich lieber, überhaupt keine Migranten oder jedenfalls keinen „Schandfleck“ in Gestalt des Jungle mehr in ihrer Stadt sehen zu müssen. Diesbezüglich machte sie in jüngerer Vergangenheit bereits rabiate Vorschläge, die etwa den Einsatz der Armee zum Gegenstand hatten. Nun hat die Rathauschefin kürzlich den Weiterbau der Mauer erst einmal per kommunalem Erlass verboten6. Die französische Zentralregierung machte jedoch kurz darauf deutlich, dass sie sich keineswegs an diese Verbotsverfügung seitens der Kommune zu halten gedenkt, sondern den Weiterbau anordnet7.

Unterdessen schickt auch die französische Staatsmacht sich an, das Camp mit insgesamt rund 10.000 Insassinnen und Insassen zerstören zu wollen. „Wir müssen dieses Camp abreißen, vollständig, definitiv“, tönte Frankreichs Staatspräsident François Hollande Ende September d.J. bei einem Ortsbesuch in Calais8.

Angekündigt ist seine „Evakuierung“ und sein vollständiger Abbau „vor Jahresende 2016“9. Gemeint ist damit der informelle, selbstorganisierte, nicht staatlich durchgeplante Teil des „Jungle“; hingegen wird das vom Staat errichtete Containerlager, mit geplanten 1.500 Insassen, voraussichtlich bestehen bleiben. Zusätzlich sollen weitere 500 Personen in eigenen Camps für Frauen und Jugendlichen verbleiben – laut den Plänen der Regierung10.

Nun heißt es ferner auch, die Evakuierung und der Abriss sollten am Montag, den 24. Oktober beginnen. Ursprünglich war sie bereits für den Montag, 17. Oktober d.J. geplant, doch wurden die ersten Abrisstätigkeiten dann um eine Woche verschoben. Nunmehr verlautbart, ihr Beginn stehe wirklich „unmittelbar bevor“11. Die ersten Auswirkungen dessen, die man vor Ort feststellen kann, sind doppelter Natur: Zum Einen lassen sich viele Bewohner/innen, die im Falle einer Abreise von Calais mit ihrer Ausweisung in Richtung Italien, Griechenland oder Ungarn rechnen müssen (als erste Ein- bzw. Durchreiseländer in der EU und aufgrund der „Dublin-Vereinbarung“), in einem Radius von rund zehn Kilometern Entfernung rund um das Camp in kleineren Strukturen im Gebüsch oder Unterholz nieder. Dadurch wächst die Zahl der, v.a. kleinen und informellen Camps. Zum Anderen nimmt die Aktivität der „Schlepper“, also der gewerblich handelnden (und anders als uneigennützig motivierten) Fluchthelfer, in Richtung England in den letzten Woche sprunghaft zu12. Und die vor Ort tätigen NGOs, welche sich nun in kooperationswillige humanitäre Organisationen – die den Abbau begleiten werden13 – und in „radikale“ Gruppen (wie die No Borders) aufspalten ließen, bereiten sich auf neue Trennungsmaßnahmen staatlicherseits vor. Denn die Behörden wünschen nun, ein Akkreditierungssystem einzuführen: Während der Abbruchphase dürfen – geht es nach ihnen – nur noch solche Organisationen Zugang zum Camp finden, die offiziell dafür akkreditiert worden sind.

Geplant ist, die Bewohnerinnen und Bewohner des abzutragenden Teils über das gesamte französische Staatsgebiet zu verteilen - auf 161 so genannte „Empfangs- und Orientierungszentren“ (CAO), die auch als centres de répit bezeichnet werden, wobei répit sowohl „Aufschub“ und „Atempause“ als auch „Entspannung“ bedeutet. Diese Zentren sollen eine Aufnahme für einen Zeitraum zwischen einem und drei Monaten bieten, um den Geflüchteten zu erlauben, sich – so jedenfalls die offizielle Sichtweise – von den Lebensbedingungen im überfüllten Camp in Calais zu erholen; vor allem aber dafür soll dieser Zeitraum dafür da sein, dass die Betreffenden sich das Vorhaben einer Überfahrt auf die britischen Inseln definitiv aus dem Kopf schlagen. Stattdessen sollen sie sich zwischen dem Stellen eines Asylantrags auf französischem Boden (dem die Überstellung in eine offizielle Asylbewerberunterkunft folgen kann, zumindest theoretisch, weil in solchen Flüchtlingsheimen in Frankreich notorischer Platzmangel herrscht) und einer „freiwilligen Ausreise“ entscheiden.

Allerdings gilt es derzeit als fraglich, ob bis zum fraglichen Datum genügend Aufnahmeplätze – die Rede ist von 9.000 – im gesamten französischen Staatsgebiet tatsächlich zur Verfügung stehen werden, wenn in Calais der Abriss beginnt. Der französische Défenseur des droits (DdD), eine Art Ombudsmann für die Verteidigung von Grund- und Menschenrechten – derzeit bekleidet der frühere konservative Justizminister Jacques Toubon diesen Posten – äußerte diesbezüglich bereits seine Bedenken, und drückte seine Besorgnis über das Schicksal vor allem der minderjährigen Geflüchteten im Camp aus14.

Bereits im Herbst 2015 hat die Verteilung von ersten Migrantinnen und Migranten aus Calais auf solche CAO begonnen. In einigen Fällen stellte sich das Angebot jedoch als Falle für die Geflüchteten heraus, weil etwa in Südwestfrankreich sudanesische Flüchtlinge, die zuvor – bei ihrer Einreise in die EU - Fingerabdrücke in Italien hinterlassen hatten, prompt ihre Abschiebung nach Italien verkündet wurde. Daraufhin stockte der Zulauf zu diesen Zentren, und viele Migranten begannen zu zögern. Zwischenzeitlich scheint jedoch bei den in Calais verbliebenen Geflüchteten ein Run auf die Busse eingesetzt zu haben, um in solche CAO verbracht zu werden15. Allerdings handelt es sich vielen Betroffenen wahrscheinlich um eine Art Torschlusspanik; denn da gleichzeitig nun die Ankündigung eines vollständigen Abrisses des informellen Camps im Raum steht, dürften viele befürchten, nicht mehr lange in den „Genuss“ eines freiwillig anzunehmenden Angebots zu kommen. Es zeichnet sich ab, dass wahrscheinlich späterhin mit einer zwangsweisen Verbringung derer, die zögern oder aber nicht von der Idee einer England-Überfahrt ablassen möchten, in andere Landesteile Frankreichs gerechnet werden muss16.

Ein Hindernis bilden könnte dabei allerdings die feindselige Haltung zumindest mancher Regionen, deren politische Vertreter nicht wünschen, dass ihnen Migrantinnen aus Calais (laut ihrer Diktion) „aufgezwungen“ werden. Das stärkste Kontingent von rund 1.700 Geflüchteten aus Calais soll die Region Rhône Alpes-Auvergne aufnehmen. Deren Regionalpräsident, der konservative Hardliner und Scharfmacher Laurent Wauqiez, startete jedoch landesweite Kampagne mittels einer Petition gegen die Aufnahme von Migranten aus Calais17. In Reaktion auf Vorwürfe von seiner Seite sicherte Innenminister Bernard Cazeneuve zu, es werde (entgegen Wauquiez’ Behauptung) eine „Abstimmung“ mit örtlichen Politikern stattfinden; man ziehe „freiwillige“ Kommunen für die vorübergehende Ansiedlung von Migranten vor18.

FN und Andere: „Schafft zwei, drei, viele Brennpunkte!“ Do it like a Sachsenmob...?

Erst recht mobil macht zu diesem Thema „natürlich“ der rechtsextreme Front National (FN). Einer von dessen Bürgermeistern – die Partei kontrolliert insgesamt zwölf Rathäuser -, Steeve Briois im nordostfranzösischen Hénin-Beaumont, lancierte eine „Charta“ unter dem Titel „Meine Kommune ohne Migranten“, welcher andere Städte oder Gemeinden beitreten sollen19. Und die neofaschistische Partei mobilisiert an vielen Orten in Frankreich, an denen Migranten für einige Wochen untergebracht werden sollen, zu Protestdemonstrationen20. So kamen am Wochenende des 01./02. Oktober rund 150 bis 200 rechte Demonstranten in das 1.300 Einwohner zählende Dorf Saint-Denis-de-Cabanne im weiteren Umland von Lyon21, wo achtzig Geflüchtete vorübergehende Aufnahme finden sollen22. Am selben Wochenende demonstrierten mehrere hundert Menschen in Louveciennes (in der Nähe von Versailles, westlich von Paris) gegen eine geplante Unterkunft23. Die Initiative dazu ging von „Anwohnerkollektiven“ – deren Anhänger aber z.T. auch im weiteren Umland wohnen – aus, doch sowohl der FN als auch Anhänger der identitären Bewegung nahmen vor Ort an der Demo teil. Am darauf folgenden Wochenende des 08. und 09. Oktober kam es erneut in mehreren französischen Städten zu ähnlichen Aufläufen. Im südostfranzösischen Pierrefeu-du-Var sollen laut Angaben der extremen Rechten (Webseite Riposte Laïque) 1.000 Teilnehmer zusammen gekommen sein. In Montpellier kam es hingegen auch zu einer Gegendemo.

Andernorts finden jedoch auch viel gewalttätigere Formen von „Protest“ statt. So wurden in der Nacht zum Mittwoch, den 05. Oktober in Saint-Brévin, in der Nähe des westfranzösischen Nantes, vier Schüsse auf eine geplante Aufnahmeeinrichtung abgefeuert24. In der Nacht darauf wurde im Département Isère – dem Umland von Grenoble – ebenfalls mit scharfer Munition geschossen25.

Eine Solidaritätsdemonstration mit den Migranten, die am Samstag, den 1. Oktober in Calais stattfinden sollte und an der NGO-Mitglieder, Linke und Migrantenkollektive auch aus dem Raum Paris teilnehmen sollte, wurde unterdessen verboten und mit allen staatlichen Mitteln behindert26. Vier Reisebusse aus Paris wurden in 35 Kilometern Entfernung von Calais durch starke Sicherheitskräfte aufgehalten, auf eine Autobahnraststätte umgeleitet und für drei Stunden festgesetzt. Die Teilnehmer – unter ihnen der Verf. dieser Zeilen - mussten letztendlich unverrichteter Dinge umkehren. Im Camp kam es daraufhin zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Einsatzkräften, die insgesamt 700 Tränengasgranaten abschossen27.

Endnoten

13 Manche von ihnen sprechen sich nun sogar für eine beschleunigte Evakuierung (d.h. vor der Sommerpause) aus; vgl. http://www.lefigaro.fr

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir von Autor für diese Ausgabe.