Bernard Schmid berichtet aus Frankreich


Streit um die Migrationspolitik

10/2016

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Geschäftsleute und die örtliche CGT protestieren im nordostfranzösischen Calais, mit nicht ganz identischen Motiven doch aus verwandten Gründen, gegen das „Jungle“ genannte Migrantencamp; der Branchenverband der CGT ergreift etwas bessere Positionen

Artikel vom 12. September 16

Das gibt es leider nicht nur in Sachsen: In der Nacht zum Dienstag, den 06. September 16 brannte ein zur Aufnahme von neunzig Geflüchteten bestimmtes Gebäude in Forges-les-Bains, im südlichen Pariser Umland, gegen 2.30 Uhr aus. Der gesamte Dachstuhl wurde zerstört. Voraus ging am Vorabend eine öffentliche Versammlung über das Flüchtlingsheim in angespannter Versammlung. Die Teilnehmer/innen hatten sich allerdings gegen 23 Uhr ohne Zwischenfälle zerstreut. Die Polizei ermittelt, ob es sich um Brandstiftung handelt und ob ein Zusammenhang zu den laut gewordenen Gegnern der Aufnahmeeinrichtung besteht. Im Leserforum der konservativen Tageszeitung war am Dienstag unter anderem zu lesen : « Bravo! Die Franzosen wollen so etwas nicht. », womit offenkundig die Aufnahme und nicht der Brand gemeint war. Zu lesen war im dortigen Leserforum, wo einige den rassistischen ,Volkszorn’ offen feierten, ferner auch: « Bravo! Diese Information gefällt mir gut. », « Das scheint mir der logische Fortgang der Dinge » oder: « Gegen den Mehrheitswillen des Volkes zu handeln, endet immer schlecht. »(1)

Weitaus wahlreichere Widersacher/innen jedoch zählt das als jungle bezeichnete Flüchtlingscamp in der östlichen Umgebung der Stadt Calais am Ärmelkanal. Ursprünglich war das Lager informell errichtet worden, seit November 2015 wurde jedoch seine Nordhälfte nach und nach durch eine weiße und von regelmäßigen Rechtecken geprägte Containersiedlung ersetzt. Dieses wurde vom Staat errichtet, wird jedoch von vielen Flüchtlingen und ihren Unterstützer/inne/n abgelehnt. Unter anderem auch aufgrund der dort verwendeten Kontrolltechnologien, die eine weitgehend lückenlose Einlasskontrolle erlauben – eine biometische Erkennung der Handflächen an den Außentoren erlaubt die Unterscheidung zwischen erlaubten und unerlaubten Zutrittswünschen – und der Vergitterung um das Containerdorf herum.

Die Südhälfte des „Dschungels“ besteht hingegen aus durch die Bewohner/innen oder mit Hilfe von Unterstützer/inne/n errichteten Zelten sowie Holzhütten und -häusern. Das gesamte Camp soll derzeit zwischen 9.000 und 10.000 Menschen umfassen und ist damit gegenüber Anfang des Jahres – damals zählte es rund 6.000 Bewohner/innen – nochmals angewachsen. Calais, und die französische Ärmelkanalküste insgesamt, ist seit Jahren ein Anziehungspunkt für MigrantInnen, die von hier aus auf die britischen Inseln zu gelangen versuchen. Ihr Ziel bleibt England, sei es aufgrund familiärer Kontakte dort, sei es, weil der neoliberal durchregulierte Arbeitsmarkt dort „immerhin“ überhaupt Arbeitsmöglichkeiten für sie bereit zu halten scheint, wenngleich oft unter schlechten Bedingungen.

Seit den Vereinbarungen von Le Touquet, welche die damaligen Innenminister Frankreichs und Großbritanniens, Nicolas Sarkozy und Jack Straw, im Jahr 2003 eingingen, ist jedoch die Grenzkontrolle des Vereinigten Königreichs auf das Südufer des Ärmelkanals vorverlagert. Und Frankreich verpflichtet sich, die MigrantInnen von ihrem Lebenstraum abzuhalten, auf die britischen Inseln überzusetzen. Dadurch entsteht ein wachsender Rückstau am Südufer. Seit dem britischen „Brexit“-Referendum allerdings drohten nun mehrere französische Politiker von Ex-Wirtschaftsminister Emmanuel Macron bis zum bürgerlichen Ex-Premier Alain Juppé damit, Frankreich könne sich nicht länger an die Vereinbarungen gebunden fühlen und Großbritannien die zurückgehaltenen MigrantInnen „schicken“. Jüngst änderte auch Sarkozy selbst seine Position und regte eine Kündigung oder Änderung der Vereinbarungen an. Allerdings nicht aus Menschenfreundlichkeit gegenüber den Migrantinnen und Migranten, die Vieles daran setzen würden, eine Überfahrt zu versuchen, sondern damit Frankreich sie los wird. Sarkozy steht seit Ende August d.J. im Vorwahlkampf(2).

Durch den wachsenden Staudruck nimmt aber auch der Unmut mancher Anwohner/innen zu. Zugleich schieben Kreise örtlicher Geschäftsleute den wirtschaftlichen Abstieg der Region auf « den Imageverlust », den Calais sich mit der Präsenz des Migrantencamps einhandele. Auf ökonomischer und sozialer Ebene ist die Stadt allerdings nicht erst in der Krise, seitdem der Jungle entstand. Im Jahr 2001 kam es hier zu Massenentlassungen beim Lebensmittelkonzern Danone, gegen die sich damals eine breite Demonstration richtete, und auch die früher hier ansässige Textilindustrie wurde zum Großteil geschlossen. Aber das Camp wurde seitdem zum Aufmerksamkeitsmagneten.

Schon am letzten Wochenende im Januar demonstrierten deswegen rund 2.000 Händler/innen und Geschäftsleute, Unternehmer und andere Einwohner/innen gegen das Camp und « für die Reputation » ihrer Stadt. Am Vortag (23. Januar 16) hatte damals allerdings eine mindestens ebenso große Solidaritätsdemonstration für die Migrant/inn/en stattgefunde.

Protest: „Unser Hafen ist schön...“

Am Montag, den 05. September 16 nun wiederholte sich das Szenario, mit einigen Neuerungen. Eine Reihe von LKW-Fahrern beteiligten sich nun an dem Protest, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Migranten häufig auf den Zufahrtsstraßen zu den Häfen von Calais sowie benachbarter Städte auf Lastwagen aufzusteigen versuchen. Entweder versuchen sie sich an Raststätten unter die Planen zu schmuggeln – wie an anderen Stellen auf Fähren oder Frachtschiffe -, oder bisweilen halten Gruppen von Migranten auch LKWs auf der Fahrbahn zu diesem Zwecke auf. Die Fernfahrer fürchten aber nicht wegen der Migranten um ihr Leben, sondern sie befürchten, die bei Entdeckung eventueller « blinder Passagiere » fälligen Geldstrafen für « illegalen Personentransport » bezahlen zu müssen. Ihr verbreiteter Unmut richtet sich jedoch gegen die Migrantinnen und Migranten.

An jenem Montag blockierten und verlangsamten sie mittels einer so genannten „Schneckenoperation“ den Verkehr rund um Calais. Daran nahmen rund 80 LKWs statt, unterstützt durch Traktoren örtlicher Landwirte. In der Innenstadt fand gleichzeitig eine Menschenkette statt. Die Aktionen stand unter dem Motto : « Mein Hafen ist schön, meine Stadt ist schön. » Die amtierende konservative Bürgermeisterin Natacha Bouchart, die 2008 die französische KP im Rathaus ablöste, setzte sich an die Spitze der mehreren Hundert Teilnehmenden.

Auch die örtliche CGT im Hafen von Calais, die stärkste Gewerkschaft dort, rief zur Unterstützung dieses Protests auf. Ihre Erklärung dazu bleibt höchst ambivalent3. Neben einer Werbekampagne für den Hafen von Calais unter potenziellen Touristinnen, Touristen und sonstigen Besucher/inne/n auf der englischen Seite und einem Konjunkturprogramm für die wirtschaftlich gebeutelte Stadt wird auch die Schließung des Jungle gefordert. Alternativlos: Die örtliche CGT malt keine andere Option für die dort verweilenden Migrantinnen und Migranten aus. Allerdings fordert sie „die Einrichtung eines Hochkommissariats für Flüchtlinge außerhalb einer Wirtschaftszone wie dem Hafen und dem Eurotunnel (unter dem Ärmelkanal)“, was jedoch reichlich unkonkret bleibt und nicht nähert ausgemalt wird. Andererseits unterstreicht die örtliche CGT aber auch, sie habe „Verständnis für die Männer und Frauen“, die vor Krieg oder unerträglichen Lebensbedingungen fliehen, und sie bleibe „ihren Grundwerten treu“. Das ist im allergünstigsten Falle eine heikle Gratwanderung, und mit diesem Ausdruck bleiben wir noch höflich.

Auf daraufhin laut werdende Kritik reagierte der Dachverband der CGT in Gestalt ihres Generalsekretärs Philippe Martinez, indem Letzterer erklärt: „Die Motive der Einen und der Anderen“, also der verschiedenen Gegner des Flüchtlingscamps einerseits und der CGT andererseits, „sind nicht dieselben. Manche benutzen das Problem, um Hass zu schüren.“(4)

Ihrerseits reagierte die Branchengewerkschaft der CGT im Hafenbereich, einige Tag nach dem Aufruf der örtlichen CGT zu der Demonstration, und veröffentlichte am 06. September (also fünf Tage nach dem örtlichen Aufruf) eine Erklärung auf landesweiter Ebene. Diese ist erheblich deutlicher, was die Solidarität mit den Geflüchteten betrifft, aber auch in ihrer Anprangerung der extremen Rechten und rassistischer Kampagnen(5).

Die Erklärung weist auf die Verantwortung der westlichen Großmächte für wirtschaftliches Elend und für Kriege auf der Welt hin, welche wiederum wichtige Fluchtgründe darstellten. Das ist eine dankenswerte Darstellung, was die Gründe für die Flucht von Menschen betrifft, und ist im Kern richtig – wenngleich die Erklärung aus einem anderen Grund wiederum (punktuell) kritikwürdig erscheint: Im Hinblick auf Länder „im Mittleren Osten“ (darunter fällt Syrien) werden allein Frankreich, Großbritannien und die USA – gefolgt von einem verschämten „neben anderen“ – als Kriegsbrandstifter genannt. Die politische Ehrlichkeit und Richtigkeit hätte hier unbedingt geboten, daneben zumindest auch Russland als Hauptstütze des Regimes von Bascher Al-Assad, eines der übelsten Schlächter- und Folterregimes dieses Planeten, zu erwähnen. Um Klarheit an dieser Frage kann sich niemand auf der Linken herumdrücken: Der rechtsextreme Front National (FN) unterstützt schließlich in dieser Frage lautstark Wladimir Putin und Baschar Al-Assad.

Großraum Paris

Seitdem der Zielort Calais für viele Migrant/inn/en zunehmend abschrecken wirkt, nachdem die Wartezeiten für eine eventuelle Kanalüberquerung stark angestiegen sind, nimmt auch die Zahl der auf Wartestation befindlichen Migrantinnen und Migranten im Raum Paris erheblich zu. Seit Juni 2015 fanden dort insgesamt um die dreißig Räumungen von informellen Camps statt, die meist von Menschen bewohnt werden, die nicht ins französische Asylverfahren können – etwa wegen der Anwendung der Dublin-Regeln, nachdem ihre Fingerabdrücke in Griechenland, Italien oder Ungarn aufgenommen wurden – oder nicht wollen. Das französische Ayslsystem hat einen denkbar schlechten Ruf. In jüngster Zeit drängen Migrantinnen und Migranten auch deswegen in informelle Camps auf dem Pariser Stadtgebiet, weil nach den Erfahrungen der letzten Monate die Staatsmacht ihnen dann Angebote für eine Unterbringung zumindest auf Zeit machen muss, wenn diese Camps in den Augen der Öffentlichkeit gar zu sichtbar anschwellen.

Neues städtisches Migrantencamp in Paris

Während an demselben Montag früh (05. September 16) ein weiteres Mal eine solche Räumung im Pariser Norden stattfand(6), gab die hauptstädtische Bürgermeisterin Anne Hidalgo fast gleichzeitig die Pläne für das erstmals im Mai 16 von ihr erwähnte, künftig durch die Stadt einzurichtende Flüchtlingscamp bekannt7. Dieses soll rund 600 Plätze bieten und auf einem früheren Bahngelände im 18. Bezirk angesiedelt werden, später soll eine weitere Einrichtung im Süden des Stadtgebiets hinzukommen. Auf die Aneinanderreihung menschenfeindlich wirkender Container wie in der Nähe von Calais, wie ursprünglich angedacht, hat die Stadt nun verzichtet. Stattdessen sollen rund um eine aufblasbare PVC-Kugel, die als Empfang dienen soll, kleine Wohneinheiten für je fünfzig Geflüchtete eingerichtet werden. Je vier Personen sollen in einem Gemeinschaftszimmer schlafen. In den Kantinenbereichen sollen sie über freien Internetempfang verfügen.

In zwei Jahren wird das Camp im Norden des Stadtgebiets allerdings künftigen städtischen Baumaßnahmen weichen müssen.

ENDNOTEN
 

1 Vgl. dazu das Forum unter folgender Kurzmeldung: http://www.lefigaro.fr; die zitierten, offen rassistischen Einträge waren auch bis zum Redaktionsschluss dieses Artikels am 12. September 16 (also sechs Tage nach Erscheinen der Meldung und der Forumsbeiträge) nicht gelöscht worden.

4 Vgl. https://www.mediapart.fr; der Artikel problematisiert die Position(en) der CGT.

 

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir von Autor für diese Ausgabe.