Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Migrationspolitik in Calais und Paris

10/2016

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Das Migranten-Camp in Calais steht vor dem Abriss * Geschäftsleute und die örtliche CGT protestierten zu Anfang des Monats im nordostfranzösischen Calais, mit nicht ganz identischen Motiven doch aus verwandten Gründen, gegen das „Jungle“ genannte Migrantencamp; der Branchenverband der CGT ergreift etwas bessere Positionen

Artikel vom 26. September 16
 im Vorblick auf die Solidaritäts-Demonstration, die am 1. Oktober in Calais geplant ist. LETZTE MELDUNG: Besagte Demonstration war am Vormittag des 30. September d.J. verboten. Eine verwaltungsgerichtliche Eilklage gegen das Verbot lief

Wir müssen dieses Camp abreißen, vollständig, definitiv“, tönte Frankreichs Staatspräsident François Hollande an diesem Montag, den 26. September d.J. im nordfranzösischen Calais. // Vgl. http://www.francetvinfo.fr// Seine Worte bezogen sich auf das als „Jungle“ bezeichnete, größerenteils informelle Migranten-Camp in der Nähe dieser Hafenstadt am Ärmelkanal. Damit zeichnet sich eine neue Beschleunigung der Ereignisse rund um die Migrantensiedlung in Nordostfrankreich an. Aus diesem Anlass bieten wir einen Überblick über die neuesten Entwicklung in der französischen Migrationspolitik, rund um Calais und anderswo. Am Sonnabend/Samstag, den 1. Oktober 16 wird unterdessen eine erneute Solidaritätsdemonstration vor Ort stattfinden, zu welcher auch aus Paris Busse anreisen werden.

Angekündigte Zerstörung des „wilden“ Teils des Calais-Camps

Allem Anschein nach bereitet die französische Staatsmacht sich nunmehr ernsthaft darauf vor, das Camp in Calais auf Dauer zu zerstören. Angekündigt ist seine „Evakuierung“ und sein vollständiger Abbau „vor Jahresende 2016“(1). Gemeint ist damit der informelle, selbstorganisierte, nicht staatlich durchgeplante Teil des „Jungle“; hingegen wird das vom Staat errichtete Containerlager, mit geplanten 1.500 Insass/inn/en, voraussichtlich bestehen bleiben. Zusätzlich sollen weitere 500 Personen in eigenen Camps für Frauen und Jugendlichen verbleiben – laut den Plänen der Regierung(2).

Für die übrigen derzeitigen Bewohner/inne/n des Camps ist geplant, sie über das gesamte französische Staatsgebiet zu verteilen - auf 161 so genannte „Empfangs- und Orientierungszentren“ (CAO), die auch als centres de répit bezeichnet werden, wobei répit sowohl „Aufschub“ und „Atempause“ als auch „Entspannung“ bedeutet. Diese Zentren sollen eine Aufnahme für einen Zeitraum zwischen einem und drei Monaten bieten, um den Geflüchteten zu erlauben, sich – so jedenfalls die offizielle Sichtweise – von den Lebensbedingungen im überfüllten Camp in Calais zu erholen; vor allem aber dafür soll dieser Zeitraum dafür da sein, dass die Betreffenden sich das Vorhaben einer Überfahrt auf die britischen Inseln definitiv aus dem Kopf schlagen. Stattdessen sollen sie sich zwischen dem Stellen eines Asylantrags auf französischem Boden (dem die Überstellung in eine offizielle Asylbewerberunterkunft folgen kann, zumindest theoretisch, weil in solchen Flüchtlingsheimen in Frankreich notorischer Platzmangel herrscht) und einer „freiwilligen Ausreise“ entscheiden.

Bereits im Herbst 2015 hat die Verteilung von ersten Migrantinnen und Migranten aus Calais auf solche CAO begonnen. In einigen Fällen stellte sich das Angebot jedoch als Falle für die Geflüchteten heraus, weil etwa in Südwestfrankreich sudanesische Flüchtlinge, die zuvor – bei ihrer Einreise in die EU - Fingerabdrücke in Italien hinterlassen hatten, prompt ihre Abschiebung nach Italien verkündet wurde. Daraufhin stockte der Zulauf zu diesen Zentren, und viele Migranten begannen zu zögern. Zwischenzeitlich scheint jedoch bei den in Calais verbliebenen Geflüchteten ein Run auf die Busse eingesetzt zu haben, um in solche CAO verbracht zu werden(3). Allerdings handelt es sich vielen Betroffenen wahrscheinlich um eine Art Torschlusspanik; denn da gleichzeitig nun die Ankündigung eines vollständigen Abrisses des informellen Camps im Raum steht, dürften viele befürchten, nicht mehr lange in den „Genuss“ eines freiwillig anzunehmenden Angebots zu kommen. Es zeichnet sich ab, dass wahrscheinlich späterhin mit einer zwangsweisen Verbringung derer, die zögern oder aber nicht von der Idee einer England-Überfahrt ablassen möchten, in andere Landesteile Frankreichs gerechnet werden muss(4).

Ein Hindernis bilden könnte dabei allerdings die feindselige Haltung zumindest mancher Regionen, deren politische Vertreter nicht wünschen, dass ihnen Migrant/inn/en aus Calais (laut ihrer Diktion) „aufgezwungen“ werden. Das stärkste Kontingent von 1.800 Geflüchteten aus Calais soll die Region Rhône Alpes-Auvergne aufnehmen. Deren Regionalpräsident, der konservative Hardliner und Scharfmacher Laurent Wauqiez, startete jedoch landesweite Kampagne mittels einer Petition gegen die Aufnahme von Migranten aus Calais(5). In Reaktion auf Vorwürfe von seiner Seite sicherte Innenminister Bernard Cazeneuve zu, es werde (entgegen Wauquiez’ Behauptung) eine „Abstimmung“ mit örtlichen Politikern stattfinden; man ziehe „freiwillige“ Kommunen für die vorübergehende Ansiedlung von Migranten vor(6).

Unterdessen werden auch die Lebensbedingungen für die Geflüchteten vor Ort immer mehr erschwert. Neben den bereits bestehenden Sperranlagen und Zäunen rund um das Hafengebiet von Calais soll nunmehr bis zum Jahreswechsel 2016/17 zusätzlich eine vier Meter hohe und einen Kilometer lange Mauer errichtet werden, die mit Überwachungskameras und Scheinwerfern ausgestattet sein wird. Sie soll das Betreten der Zufahrtsstraße zum Hafengelände verhindern. Die Kosten in Höhe von 2,7 Millionen Euro werden von Großbritannien übernommen(7). Hingegen bezeichnete die konservative Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, das mit britischen Geldern finanzierte Vorhaben als „Schandmauer“(8.) (Ihr wäre es mutmaßlich lieber, überhaupt keinen „Schandfleck“ mehr in ihrer Stadt sehen zu müssen...) Ferner wurden seit Jahresbeginn 2016 (und bis September) insgesamt 1.346 Migranten von Calais aus von französischem Boden abgeschoben(9).

Großraum Paris

Seitdem der Zielort Calais für viele Migrant/inn/en zunehmend abschreckend wirkt, nachdem die Wartezeiten für eine eventuelle Kanalüberquerung stark angestiegen sind, nimmt auch die Zahl der auf Wartestation befindlichen Migrantinnen und Migranten im Raum Paris erheblich zu. Seit Juni 2015 fanden dort insgesamt um die dreißig Räumungen von informellen Camps statt, die meist von Menschen bewohnt werden, die nicht ins französische Asylverfahren können – etwa wegen der Anwendung der Dublin-Regeln, nachdem ihre Fingerabdrücke in Griechenland, Italien oder Ungarn aufgenommen wurden – oder nicht wollen. Das französische Ayslsystem hat einen denkbar schlechten Ruf. In jüngster Zeit drängen Migrantinnen und Migranten auch deswegen in informelle Camps auf dem Pariser Stadtgebiet, weil nach den Erfahrungen der letzten Monate die Staatsmacht ihnen dann Angebote für eine Unterbringung zumindest auf Zeit machen muss, wenn diese Camps in den Augen der Öffentlichkeit gar zu sichtbar anschwellen.

Neues städtisches Migrantencamp in Paris

Während an demselben Montag früh (05. September 16) ein weiteres Mal eine solche Räumung im Pariser Norden stattfand(10), gab die hauptstädtische Bürgermeisterin Anne Hidalgo fast gleichzeitig die Pläne für das erstmals im Mai 16 von ihr erwähnte, künftig durch die Stadt einzurichtende Flüchtlingscamp bekannt(11). Dieses soll rund 450 bis 600 Plätze bieten und auf einem früheren Bahngelände im 18. Bezirk angesiedelt werden, später soll eine weitere Einrichtung in Ivry südlich von Paris hinzukommen.

Auf die Aneinanderreihung menschenfeindlich wirkender Container wie in der Nähe von Calais, wie ursprünglich angedacht, hat die Stadt nun verzichtet. Stattdessen sollen rund um eine aufblasbare PVC-Kugel, die als Empfang dienen soll, kleine Wohneinheiten für je fünfzig Geflüchtete eingerichtet werden. Je vier Personen sollen in einem Gemeinschaftszimmer schlafen. In den Kantinenbereichen sollen sie über freien Internetempfang verfügen. Allerdings werden sich die Kapazitäten wohl schnell als unzureichend herausstellen, auch wenn den Betreffenden nur fünf bis zehn Tage Unterkunft gewährt werden soll.

In zwei Jahren wird das Camp einem im Bau befindlichen Hochschulprojekt, dem Campus Condorcet, weichen müssen. Dann wird es voraussichtlich den Standort wechseln, wie bei einer – Informationsveranstaltung im Rathaus des 18. Pariser Bezirks am Abend des 14. September d.J. – welche in angespannter Atmosphäre stattfand - angekündigt wurde.

Endnoten
 

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir von Autor für diese Ausgabe.