Nietzsche als Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode
Leseauszug aus: Die Zerstörung der Vernunft

von Georg Lukács

10/2016

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Im allgemeinen läßt sich sagen, daß der Ausgang der Revolution von 1848 die Niedergangsperiode der bürgerlichen Ideologie bestimmt. Freilich gibt es - besonders in Literatur und Kunst - noch manche Nachfahren der Aufstiegsperiode, deren Schaffen keineswegs diesem Stadium zugerechnet werden darf. (Es genügt, wenn wir auf Dickens und Keller, auf Courbet und Daumier hinweisen.) Außerdem ist die Zeit zwischen 1848 und 1870 von bedeutenden Übergangsgestalten erfüllt, deren Schaffen zwar Züge der Dekadenz aufweist, die jedoch dem zentralen Gehalt ihrer Werke nach keineswegs dieser angehören (Flaubert, Baudelaire). Auf dem Gebiet der theoretischen Wissenschaften, insbesondere der Ökonomie und Philosophie, fängt der Niedergang freilich schon viel früher an; seit der Auflösung der Ricardoschule (zwanziger Jahre) hat die bürgerliche Ökonomie, seit der Auflösung des Hegelianismus (dreißiger, vierziger Jahre) die bürgerliche Philosophie nichts Originelles und Vorwärtsweisendes mehr hervorgebracht. Beide Gebiete werden völlig von der Apologetik des Kapitalismus beherrscht. Ähnlich ist die Lage in den historischen Wissenschaften. Daß die Naturwissenschaften auch in dieser Periode ungeheure Fortschritte machen - Darwins großes Werk erscheint zwischen 48 und 70 -, ändert an diesem Bild nichts. Fortschrittliche Entdeckungen gibt es hier bis in unsere Tage hin. Allein das hindert nicht, daß eine gewisse Entartung der allgemeinen Methodologie einsetzt, ein wachsendes Reaktionärwerden der bürgerlichen Adosophie der Naturwissenschaften, daß die Energie, mit der die Ergebnisse der Naturwissenschaften zur Propagierung reaktionärer Anschauungen verwendet werden, ständig zunimmt. (Wir sprechen hier nicht über die ideologische Entwicklung in Rußland. Hier entspricht 1905 dem westlichen 1848 - und zwölf Jahre später siegt bereits die sozialistische Revolution.)....

....Mit der Junischlacht und insbesondere mit der Pariser Kommune ändert sich die Richtung der reaktionären Polemik in einer radikalen Weise: einerseits gibt es keine progressive bürgerliche Philosophie mehr, die zu bekämpfen wäre; soweit ideologische Streitigkeiten dieser Art vorkommen - und auf der Oberfläche nehmen sie einen großen Platz ein -, handelt es sich vor allem um taktische Meinungsverschiedenheiten darüber, wie der Sozialismus am wirksamsten unschädlich gemacht werden könnte, um Schichtendifferenzen innerhalb der reaktionären Bourgeoisie. Andererseits ist der Hauptgegner bereits auch in theoretischer Form erschienen. Trotz aller Bemühungen der bürgerlichen Wissenschaft wird es immer weniger möglich, den Marxismus totzuschweigen; immer deutlicher empfinden die führenden Ideologen der Bourgeoisie, daß hier ihre entscheidende Verteidigungslinie liegt, auf welche sie ihre stärksten Kräfte zu konzentrieren haben. Der dadurch entstehende Defensivcharakter der bürgerlichen Philosophie wirkt sich allerdings nur langsam und widerspruchsvoll aus. Die Taktik des Totschweigens dominiert noch lange; zeitweise entstehen Versuche, das "Brauchbare" aus dem historischen Materialismus, entsprechend verzerrt, in die bürgerliche Ideologie einzubauen, doch erst nach dem ersten imperialistischen Weltkrieg, nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland, gewinnt diese Tendenz eine ganz ausgeprägte Gestalt. Aber schon von Anfang an äußert sich dieser Defensivcharakter darin, daß die bürgerliche Philosophie zu Fragestellungen, zu methodologischen Auseinandersetzungen getrieben wird, die nicht aus ihrem eigenen Bedürfnis entspringen, sondern ihr durch die Existenz des Gegners aufgezwungen werden. Die Antworten entsprechen selbstredend den jeweiligen Klasseninteressen der Bourgeoisie.

Bei Nietzsche befinden wir uns freilich erst im Anfangsstadium dieser Entwicklung. Einige wichtige Änderungen können wir aber schon auf dieser Stufe feststellen. Dies drückt sich vor allem darin aus, daß die älteren Irrationalisten, wie Schelling und Kierkegaard, im Kampfe gegen die idealistische Dialektik Hegels zuweilen in der Lage waren, auf deren wirkliche Fehler hinzuweisen. Obwohl sie aus einer solchen, stellenweise richtigen Kritik immer nach rückwärts weisende Folgerungen zogen, bleibt die philosophiegeschichtliche Bedeutung ihrer richtigen kritischen Bemerkungen doch bestehen. Ganz anders ist die Lage, sobald der zu bekämpfende Gegner der dialektische und historische Materialismus geworden ist. Hier ist die bürgerliche Philosophie nicht mehr in der Lage, eine wirkliche Kritik zu üben, ja nicht einmal das Objekt ihrer Polemik richtig zu verstehen; sie kann nur entweder gegen die Dialektik und den Materialismus überhaupt - zuerst offen, später immer versteckter - polemisieren oder aber versuchen, der wirklichen Dialektik - demagogisch - eine Pseudodialektik gegenüberzustellen.

Dazu kommt noch, daß mit dem Aufhören der großen prinzipiellen Richtungskämpfe innerhalb der Bourgeoisie auch die Sachkenntnis der bürgerlichen Philosophen aufhört. Schelling, Kierkegaard oder Trendelenburg kennen die Hegelsche Philosophie noch genau. Schopenhauer ist auch darin ein Vorläufer der bürgerlichen Dekadenz, daß er Hegel kritisiert, ohne ihn auch nur oberflächlich zu kennen. Dem Klassenfeind gegenüber scheint aber alles erlaubt zu sein, hier hört jede wissenschaftliche Moral auf. Selbst Forscher, die auf anderen Gebieten sich gewissenhaft, erst nach genauer Aneignung des Stoffes zu äußern wagen, erlauben sich hier die leichtfertigsten Behauptungen, die sie anderen, ähnlich unfundierten Meinungsäußerungen entnehmen, und denken gar nicht daran, selbst bei Feststellung von Tatsachen auf die wirklichen Quellen zurückzugreifen. Auch dies ist ein Grund, weshalb der ideologische Kampf gegen den Marxismus auf einem unvergleichlich tieferen Niveau steht als seinerzeit die reaktionär-irrationalistische Kritik der Hegelschen Dialektik.

Mit welchem Recht dürfen wir unter solchen Umständen von Nietzsche behaupten, daß sein ganzes Lebenswerk eine fortlaufende Polemik gegen den Marxismus, gegen den Sozialismus ist, wo doch klar ist, daß er nie auch nur eine Zeile von Marx und Engels gelesen hat? Wir glauben, daß wir das trotzdem behaupten können, und zwar deshalb, weil jede Philosophie in ihrem Inhalt und in ihrer Methode von den Klassenkämpfen ihrer Zeit bestimmt ist. Die Philosophen - wie auch die Gelehrten und Künstler und andere Ideologen - mögen diesen Umstand mehr oder weniger Verkennen, mögen sich dessen eventuell völlig unbewußt bleiben, diese Bestimmung ihrer Stellungnahme zu den sogenannten "letzten Fragen" wirkt sich dennoch aus. Was Engels über die Juristen sagt, gilt noch gesteigert für die Philosophie. "Die Widerspiegelung ökonomischer Verhältnisse als Rechtsprinzipien ... geht vor, ohne daß sie den Handelnden zum Bewußtsein kommt, der Jurist bildet sich ein, mit aprioristischen Sätzen zu operieren, während es doch nur ökonomische Reflexe sind ... " Darum knüpft jede Ideologie bewußt an "ein bestimmtes Gedankenmaterial" an,
"das ihr von ihren Vorgängern überliefert worden"(1) . Das hindert aber keineswegs, daß die Auswahl dieser Überlieferungen, die Stellung zu ihnen, die Methode ihrer Bearbeitung, die aus ihrer Kritik gezogenen Konsequenzen usw. letzten Endes doch von den ökonomischen Verhältnissen und von den auf diesem Boden entstehenden Klassenkämpfen bestimmt sind. Instinktiv wissen die Philosophen, was sie zu verteidigen haben, und wo der Feind steht. Instinktiv fühlen sie die "gefährlichen" Tendenzen ihrer Zeit und versuchen, diese philosophisch zu bekämpfen....

.... Nun ist es, wenn wir die Zeit der Wirksamkeit Nietzsches betrachten, klar ersichtlich, daß die Pariser Kommune, die Entwicklung der sozialistischen Massenparteien, besonders in Deutschland, sowie Art und Erfolg des bürgerlichen Kampfes gegen sie, einen sehr tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben. Auf die Einzelheiten und auf ihre Belege in Nietzsches Werk und Leben werden wir erst später ausführlich, eingehen. Hier sollte vorerst nur die allgemeine Möglichkeit dessen dargelegt werden, daß auch für ihn, wie für die anderen Philosophen dieser Zeit, der Sozialismus als Bewegung und Weltanschauung der Hauptfeind geworden war, und daß sich erst aus dieser Wendung in der gesellschaftlichen Front und ihren philosophischen Folgen die Möglichkeit ergibt, Nietzsches Weltanschauung in ihrem wirklichen Zusammenhang darzustellen.

Nietzsches besondere Position in dieser Entwicklung des modernen Irrationalismus ist teils durch die historische Lage zur Zeit seines Auftretens, teils durch seine ungewöhnlichen persönlichen Gaben bestimmt. Was das erste betrifft, so haben wir bereits die wichtigsten gesellschaftlichen Ereignisse dieser Periode kurz erwähnt. Dazu tritt als Gunst der Umstände für seine Entfaltung , daß Nietzsche am Vorabend der imperialistischen Periode seine Wirksamkeit abschließt. Das heißt, daß er zwar einerseits in der Bismarckschen Zeit alle Perspektiven der kommenden Kämpfe erlebt, daß er Zeitgenosse der Reichsgründung, der an sie geknüpften Hoffnungen und ihrer Enttäuschungen, des Sturzes von Bismarck, der Inauguration des offen aggressiven Imperialismus durch Wilhelm II. ist, aber zugleich auch Zeitgenosse der Pariser Kommune, der Entstehung der großen Massenpartei des Proletariats, des Sozialistengesetzes, des heroischen Kampfes der Arbeiter dagegen; daß er aber andererseits die imperialistische Periode selbst nicht mehr erlebt hat. So entsteht für ihn die günstige Gelegenheit: die Hauptprobleme des folgenden Zeitabschnittes - im Sinne der reaktionären Bourgeoisie - in mythischer Form aufzuwerfen und zu lösen. Diese mythische Form befördert nicht nur darum seine Wirkung, weil sie die immer stärker herrschende philosophische Ausdrucksweise der imperialistischen Periode wird, sondern auch, weil sie es Nietzsche ermöglicht, die kulturellen, ethischen usw. Probleme des Imperialismus so allgemein zu stellen, daß er bei allen Schwankungen der Lage und der ihr entsprechenden Taktik der reaktionären Bourgeoisie ständig ihr führender Philosoph bleiben kann. Er war es bereits vor dem ersten imperialistischen Weltkrieg und ist es auch nach dem zweiten geblieben.

Diese Dauerwirkung, deren objektive Möglichkeit wir eben skizziert haben, wäre aber nie zur Wirklichkeit geworden ohne die spezifischen Züge der nicht unbeträchtlichen Begabung Nietzsches. Er besitzt ein besonderes antizipierendes Feingefühl, eine besondere Problemempfindlichkeit dafür, was die parasitäre Intelligenz in der imperialistischen Periode braucht, was sie innerlich bewegt und beunruhigt, welche Art von Antwort sie am meisten befriedigen würde. Er kann deshalb sehr breite Gebiete der Kultur umkreisen, ihre brennenden Fragen mit geistvollen Aphorismen beleuchten, die unzufriedenen, ja mitunter rebellischen Instinkte dieser parasitären Intellektuellenschicht durch faszinierend-hyperrevolutionär scheinende Gesten befriedigen und gleichzeitig alle diese Fragen so beantworten oder wenigstens ihre Beantwortung so andeuten, daß aus allen Feinheiten und Nuancen der robust-reaktionäre Klasseninhalt der imperialistischen Bourgeoisie entsteigt.

Dieser Doppelcharakter entspricht dem gesellschaftlichen Sein und darum der Gefühle und Gedankenwelt dieser Schicht in dreifacher Weise. Erstens ist das Schwanken zwischen feinstem Nuancensinn, wählerischster Überempfindlichkeit und plötzlich hervorbrechender, oft hysterischer Brutalität das Wesenszeichen einer jeden Dekadenz. Im engsten Zusammenhang damit steht zweitens eine tiefe Unzufriedenheit mit der Kultur der Gegenwart, ein "Unbehagen an der Kultur", wie Freud es bezeichnet, eine Auflehnung dagegen, jedoch eine Auflehnung, bei der der "Rebell" unter keinen Umständen die eigenen parasitären Privilegien und deren soziale Basis angetastet sehen möchte, es also mit Begeisterung begrüßt, wenn der revolutionäre Charakter dieser Unzufriedenheit eine philosophische Sanktion erhält, zugleich jedoch dem gesellschaftlichen Inhalt nach in eine Abwehr gegen Demokratie und Sozialismus verwandelt wird. Endlich erreicht drittens gerade zur Zeit von Nietzsches Wirkung der Klassenniedergang, die Dekadenz einen solchen Grad, daß auch ihre subjektive Bewertung innerhalb der bürgerlichen Klasse eine wichtige Wandlung durchmacht: während lange Zeit nur die fortschrittlich-oppositionellen Kritiker die Symptome der Dekadenz aufdecken und geißeln, die große Mehrzahl der bürgerlichen Intelligenz aber an der Illusion, in der "besten aller Welten" zu leben, festhält und die eingebildete "Gesundheit" ihrer Ideologie, deren Progressivität verteidigt, wird jetzt die Einsicht in die Dekadenz, die Bewußtheit, dekadent zu sein, immer mehr zum Zentralpunkt der Selbsterkenntnis dieser Intelligenz. Diese Wandlung äußert sich vor allem in einem selbstgefälligen, sich selbst bespiegelnden, spielerischen Relativismus, Pessimismus, Nihilismus usw., der aber oft - bei ehrlichen Intellektuellen - in aufrichtige Verzweiflung, in eine daraus entspringende Rebellenstimmung (Messianismus usw.) umschlägt.

Nietzsche ist nun als Kulturpsychologe, als Ästhetiker und Moralist vielleicht der geistreichste und vielseitigste Exponent für diese Selbsterkenntnis der Dekadenz. Seine Bedeutung geht aber darüber hinaus: er unternimmt es, bei Anerkennung der Dekadenz als des Grundphänomens der bürgerlichen Entwicklung seiner Zeit, den Weg zu ihrer Selbstüberwindung aufzuzeigen. Denn bei den lebendigsten und gewecktesten Intellektuellen, die unter den Einfluß der dekadenten Weltanschauung geraten, entsteht zwangsläufig auch die Sehnsucht nach ihrer Überwindung. Diese Sehnsucht macht die Kämpfe der aufstrebenden neuen Klasse, des Proletariats, für den besten Teil dieser Intellektuellen äußerst anziehend: sie sehen hier, vor allem in Lebensführung und Moral, Anzeichen einer möglichen Gesundung der Gesellschaft und im Zusammenhang mit dieser - natürlich steht dies im Vordergrund - einer Gesundung ihrer selbst. Dabei hat der größte Teil dieser Intellektuellen keine Ahnung von der ökonomischen und sozialen Tragweite einer wirklichen sozialistischen Umwandlung, betrachtet diese rein ideologisch und hat deshalb keine klare Vorstellung darüber, inwiefern und wie tief ein Entschluß in dieser Richtung den radikalen Bruch mit der eigenen Klasse beinhaltet, wie ein so vollzogener Bruch auf das eigene Leben des betreffenden Intellektuellen sich auswirken würde. So verworren diese Bewegung auch sein mag, so erfaßt sie doch weite Kreise der fortgeschrittensten bürgerlichen Intelligenz und äußert sich naturgemäß besonders vehement in Krisenperioden. (Man denke an den Fall des Sozialistengesetzes, das Schicksal des Naturalismus, den ersten Weltkrieg und die expressionistische Bewegung in Deutschland, an Boulangerismus und Dreyfuskampagne in Frankreich usw.)

Der "soziale Auftrag", den Nietzsches Philosophie erfüllt, besteht darin, diesen Typus der bürgerlichen Intelligenz zu "retten", zu "erlösen", ihm einen Weg zu weisen, der jeden Bruch, ja jede ernsthafte Spannung mit der Bourgeoisie überflüssig macht; einen Weg, auf dem das angenehme moralische Gefühl, ein Rebell zu sein, weiter bestehen bleiben kann, sogar vertieft wird, indem der "oberflächlichen", "äußerlichen" sozialen Revolution eine "gründlichere", "kosmisch biologische" lockend gegenübergestellt wird. Und zwar eine "Revolution", die die Privilegien der Bourgeoisie vollständig bewahrt, die vor allem das Privilegisiertsein der bürgerlichen, der parasitären imperialistischen Intelligenz leidenschaftlich verteidigt; eine "Revolution", die sich gegen die Massen richtet, die der Furcht der ökonomisch und kulturell Privilegierten, diese ihre Vorrechte zu verlieren, einen pathetisch aggressiven, die egoistische Furcht verschleiernden Ausdruck verleiht. Dieser von Nietzsche gewiesene Weg verläßt nie die mit dem Gedanken- und Gefühlsleben dieser Schicht tief verwachsene Dekadenz, diese wird aber durch die neue Selbsterkenntnis in eine neue Beleuchtung gerückt; gerade in der Dekadenz stecken die echten zukunftsträchtigen Keime einer wirklichen, einer gründlichen Erneuerung der Menschheit. Dieser "soziale Auftrag" befindet sich mit der Begabung, mit den innersten Gedankentendenzen, mit dem Wissen Nietzsches sozusagen in einer harmonia prästabilita. Wie die gesellschaftlichen Kreise, auf die seine Wirksamkeit gerichtet ist, beschäftigen Nietzsche selbst vor allem die Probleme der Kultur und darunter in erster Linie Kunst und individuelle Ethik. Politik erscheint immer als abstrakter, mythisierter Horizont, und in der Ökonomie ist Nietzsches Unwissenheit ebenso groß wie die des Durchschnittsintellektuellen seiner Zeit. Mehring weist mit vollem Recht darauf hin, daß Nietzsches Argumente gegen den Sozialismus nie das Niveau der Leo, Treitschke usw. übersteigen(2) . Jedoch gerade diese Verknüpfung von brutal ordinärem Antisozialismus mit einer raffinierten, geistreichen, zuweilen sogar richtigen Kultur- und Kunstkritik (man denke an die Kritik Wagners, des Naturalismus usw.) macht seine Inhalte und Darstellungsweisen so verführerisch für die imperialistische Intelligenz. Wie stark diese Verführung ist, können wir im Verlauf der ganzen imperialistischen Periode sehen. Angefangen von Georg Brandes und Strindberg und der Generation von Gerhart Hauptmann, geht diese Wirkung bis zu Gide und Malraux. Und sie beschränkt sich keineswegs auf den rein reaktionären Teil der Intelligenz. Im Wesen ihrer Gesamttätigkeit entschieden fortschrittliche Schriftsteller wie Heinrich und Thomas Mann oder Bernard standen ebenfalls unter seinem Einfluß. Ja, er konnte sogar einige marxistische Intellektuelle stark beeindrucken. Selbst ein Mehring hat ihn - vorübergehend - so beurteilt: "Noch nützlicher ist der Nietzscheanismus für den Sozialismus in einer anderen Beziehung. Ohne Zweifel sind Nietzsches Schriften verführerisch für die paar jungen Leute von hervorragendem literarischem Talent, die etwa noch in den bürgerlichen Klassen aufwachsen mögen und zunächst in bürgerlichen Klassenvorurteilen befangen sind. Für sie ist Nietzsche aber nur ein Durchgangspunkt zum Sozialismus."(3)

Damit ist aber nur die Klassengrundlage und die Intensität, nicht aber die Dauer der Wirkung Nietzsches erklärt. Diese fußt auf seinen unzweifelhaften philosophischen Fähigkeiten. Während die ordinären Pamphletisten der Reaktion vom Rembrandtdeutschen bis zu den Koestler und Burnham unserer Tage nie weiterkommen, als die eben aktuellen taktischen Bedürfnisse der imperialistischen Bourgeoisie mit mehr oder weniger geschickter Demagogie zu befriedigen, vermag Nietzsche, wie wir später ausführlich sehen werden, einige der wichtigsten dauernden Züge des reaktionären Verhaltens zur Periode des Imperialismus, zum Zeitalter der Weltkriege und Revolutionen, in seinen Werken festzuhalten und zu formulieren. Um hier seinen Rang zu sehen, muß man ihn nur mit seinem Zeitgenossen Eduard von Hartmann vergleichen. Dieser faßte als Philosoph die ordinären, reaktionär-bürgerlichen Vorurteile der Zeit nach 1870 zusammen, die Vorurteile des "gesunden" (satten) Bourgeois. Darum hatte er anfangs viel größere Erfolge als Nietzsche, darum ist er aber auch in der imperialistischen Periode ganz in Vergessenheit geraten.

Allerdings vollzieht sich all dies bei Nietzsche, wie bereits gesagt, in einer mythisierenden Form. Erst diese hat die Erfassung und Bestimmung von Zeittendenzen für Nietzsche, der nichts von der Ökonomik des Kapitalismus verstand, der also ausschließlich die Symptome des Überbaus zu beobachten, zu beschreiben und auszudrücken fähig sein konnte, ermöglicht. Die Form des Mythos stammt aber auch daher, daß Nietzsche, der führende Philosoph der imperialistischen Reaktion, den Imperialismus selbst gar nicht erlebt hat. Er wirkte - ebenso wie Schopenhauer als Philosoph der bürgerlichen Reaktion nach 1848 - in einer Zeit, die nur erst Keime und Ansätze des Kommenden produzierte. Diese waren für einen Denker, der die wirklichen treibenden Kräfte nicht erkennen konnte, nur utopisch mythisch darstellbar. Nietzsches philosophische Bedeutung gründet sich darauf, daß er trotz alledem noch bestimmte dauernde Züge festgehalten hat. Freilich half dabei sowohl die Ausdrucksart des Mythos wie seine aphoristische Form, auf deren Charakteristik wir gleich zu sprechen kommen werden, insofern, als solche Mythen und Aphorismen, je nach den jeweiligen Augenblicksinteressen der Bourgeoisie und den Bestrebungen ihrer Ideologen, sehr verschieden, oft geradezu entgegengesetzt gruppiert und interpretiert werden konnten. Daß man aber immer wieder auf Nietzsche, auf einen jeweils "neuen" Nietzsche zurückgriff, zeigt, daß in diesem Wechsel doch eine Kontinuität bestand die Kontinuität der Grundprobleme des Imperialismus als ganzer Periode vom Standpunkt der bleibenden Interessen der reaktionären Bourgeoisie, gesehen und gedeutet im Geist der permanenten Bedürfnisse der parasitären bürgerlichen Intelligenz.


Fußnoten
1) Engels an Conrad Schmidt, 27.10.1890 Marx-Engels: Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 508 ff.
2) Mehring: Werke, Berlin 1929, Bd. VI, S. 191.
3) Mehring: Besprechung von Kurt Eisners "Psychopathia spiritualis", Neue Zeit, X. Jahrgang, Bd. II, S. 668 f.

Editorische Anmerkungen

Der Text ist ein Auszug aus dem 3. Kapitel aus: Georg Lukács Die Zerstörung der Vernunft, 3. Auflage, Berlin 1984, S. 244 - 252 / Nachdruck der 2. Auflage 1955, Original: Ference Janossy 1955

Den kompletten Text des dritten Kapitels gibt es unter:
http://www.mxks.de/files/bibliothek/Lukacs.DieZerstoerungDerVernunft.III.html