Eine blutige Hand wäscht die andere
EU und Türkei gemeinsam gegen Refugees

von Svenja Spunck

10/2015

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Nachdem der 3-jährige Ailan Kurdi, das syrische Flüchtlingskind mit dem roten T-Shirt, im türkischen Bodrum an Land geschwemmt wurde, ging sein Foto um die Welt. In die Appelle an die EU, endlich eine menschliche Politik zu verfolgen, reihte sich auch ein Präsident ein, der selbst nicht als Paradebeispiel für Herzlichkeit gilt: Recep Tayyip Erdogan.

Persönlich rief er bei dem Vater des verstorbenen Ailan an und beteuerte, die Türkei würde Menschen wie ihn gerne als Gäste in ihrem Land aufnehmen. Dies ist nichts als eine dreiste Lüge, wenn man bedenkt, dass die Familie Kurdi aus Kobanê kommt, der Stadt aus dem kurdischen Teil Syriens, die von türkischer Seite von jeglicher Versorgung abgeschnitten ist und an den anderen Fronten gegen den „Islamischen Staat“ (IS) kämpft.

Doppelzüngigkeit

Dieser Einzelfall ist ein gutes Beispiel, um die Doppelzüngigkeit der türkischen Flüchtlingspolitik zu erklären. In der Tat befinden sich in der Türkei rund 2 Millionen syrische Flüchtlinge, wovon viele in großen Lagern in Grenznähe leben, aber auch in den großen Städten wie Istanbul und Ankara. Sie sind keine willkommenen Gäste, die das AKP-Regime aus reiner Nächstenliebe aufnimmt.

Zum einen ist die Türkei als direkter Nachbar Syriens technisch nicht in der Lage gewesen, die Grenze vollkommen abzuriegeln. So kamen nicht nur die Flüchtlinge hinein, sondern auch die Waffenlieferungen an islamistische Kräfte wie Al Nusra oder den IS hinaus. Mit dem großen Ziel der Türkei im Hinterkopf, sich als starke Regionalmacht im Nahen Osten zu etablieren, geht es darum, sich eine Allianz gegen Syriens Diktator Assad zu schaffen; dazu ist fast jeder Partner willkommen.
Auch die Aufnahme der vielen Flüchtlinge ist ein Mittel zu diesem Zweck. Als Dank für die „Rettung“ aus dem Bürgerkrieg erhofft sich Erdogan sowohl politische Unterstützung der SyrerInnen im eigenen Land wie auch in den Gebieten, die er gerne noch unter seine Kontrolle bringen möchte. Der unter der Hand mit den USA ausgemachte Plan, in einer „Pufferzone“ die politische Kontrolle an „gemäßigte“ Rebellengruppen und die türkische Armee zu übergeben und die Flüchtlinge dort anzusiedeln, ist nichts anderes als ein perfides Projekt, eigenen Einfluss auf die Neuordnung Syriens zu gewinnen.

Auch im eigenen Land muss die türkische Regierung einen Weg finden, nicht zu viel Unmut gerade in den nationalistischen Teilen der Bevölkerung zu erwecken, indem auf einmal obdachlose SyrerInnen das Stadtbild prägen. Diese soziale Spannung will vor allem die faschistische MHP nutzen, die ohne Wenn und Aber für eine Türkei der TürkInnen steht und vor der Gefahr des „Flüchtlingsüberdrusses“ warnt. Obwohl die HDP zwar sehr bemüht ist, als plurale Partei der Völker aufzutreten, gelingt es ihr nicht, die arabische Bevölkerung in der Türkei in ihre Strukturen zu integrieren, was sicherlich auch der medialen Hetze und der politischen Diffamierung geschuldet ist. Doch auch sie selbst hat keinen klaren Lösungsansatz, welche Schritte hinsichtlich der Flüchtlingsproblematik notwendig wären. Am Ende ist es also oft die Religion, die die arabische Bevölkerung in die Arme der AKP treibt.

Verhältnis zur EU

Lange Zeit war es ein Problem der Türkei, die Grenzen wirklich geschlossen zu halten, doch nun wird sie von der EU direkt darum gebeten. Ziel ist es, dass die Flüchtlinge, die schon in der Türkei sind, auch in der Türkei bleiben und davon abgehalten werden, durch die Türkei hindurch nach Europa zu „reisen“. Dafür soll die Türkei möglichst rasch auch zu einem „sicheren Herkunftsland“ erklärt werden. Das bedeutet, dass Asylanträgen von Menschen aus diesen Ländern prinzipiell nicht stattgegeben wird. Gleichzeitig gilt dieser Status auch als ein Zertifikat für eine angemessene Presse- und Meinungsfreiheit, Achtung der Menschenrechte und Schutz von politischen Oppositionellen. In den letzten Monaten wurden hingegen nicht nur zahlreiche HDP-Abgeordnete ihrer Ämter enthoben, kurdische Städte abgeriegelt und die EinwohnerInnen durch das türkische Militär ermordet, sondern auch eine landesweite Nachrichtensperre über eben jene Ereignisse verhängt.

Als Dank dafür, dass die Türkei künftig die syrischen Flüchtlinge vor den Toren Europas abhalten soll, könnte eventuell der Visumszwang für TürkInnen wegfallen, die in die EU einreisen wollen. Außerdem fordert die Türkei finanzielle Unterstützung in Höhe von 3 Milliarden Euro. Der EU-Ratspräsident Donald Tusk brachte es auf den Punkt: „Ihr helft uns, wir helfen euch – so einfach ist das.“

Während also fortschrittliche Menschen in der Türkei Angst haben vor einer extremen repressiven Zuspitzung der Lage durch das Regime, greift die EU diesem noch großzügig unter die Arme, um selbst davon zu profitieren. Die genaueren Details sollen dann beim Besuch von Angela Merkel in Ankara geklärt werden. Vielleicht kommt sie dann auch am Bahnhof vorbei, an dem Blumen liegen, die an das Massaker vom letzten Samstag erinnern, bei dem ein Attentäter 128 Menschen in den Tod riss. Seine Identität war der türkischen Regierung lange bekannt, seine eigenen Eltern hatten ihn angezeigt, aber die Behörden sahen keinen Handlungsbedarf.

Was also mehr als deutlich im Raum steht, ist ein Angebot an einen sich selbst als Diktator etablierenden Staatschef, ihm Geld zu bezahlen, um syrische Flüchtlinge in Camps zu lagern. Geld aus Deutschland für Konzentrationslager – könnte eine Tradition werden. Doch wer Erdogan den kleinen Finger reicht, sollte aufpassen, dass er nicht nach der ganzen Hand greift. In seiner Rede am 16. Oktober ließ er verlauten, die EU hätte recht spät die Wichtigkeit der geografischen Lage der Türkei in der syrischen Frage begriffen. Doch wenn man sich schon um ihre Hilfe bemühe, dann könne man auch gleich ein Angebot zur EU-Mitgliedschaft obendrauf legen. Die EU als Wertegemeinschaft hat sich in den letzten Monaten ja irgendwie auch der Türkei angepasst, nicht nur was die Einstufung von AntifaschistInnen als Terrororganisationen angeht. Um sich also die Flüchtlinge vom Hals zu halten oder, wie es offiziell heißt, „um keine Anreize zur Flucht zu schaffen“, drücken die EU-Staatschefs, allen voran Angela Merkel, den innenpolitischen Verhältnissen der Türkei gegenüber ein Auge zu. Der Besuch der Kanzlerin bei Erdogan so kurz vor den Neuwahlen und die Kritiklosigkeit gegenüber dessen Politik zeigt, dass der europäische Imperialismus zweifellos bereit ist, über Leichen zu gehen, um sich Profite und geostrategischen Einfluss zu sichern.

Doch man darf den Fokus nicht verlieren. Auch wenn Merkel nicht nach Ankara käme und die Türkei nicht offiziell um Hilfe bäte, so bleibt Erdogan trotzdem ein Möchtegern-Diktator, der die Opposition blutig unterdrückt und die EU ein neoliberaler, militaristischer und imperialistischer Staatenbund, der sich als Festung gegen all die Menschen abschottet, die in Wirklichkeit zu seinem Reichtum beigetragen haben. Die Frage, ob die Türkei der EU beitreten solle oder nicht, ist deshalb zweitrangig. Natürlich sind Visumserleichterungen prinzipiell begrüßenswert, aber was hilft es, wenn sie nur einigen wenigen ermöglicht werden, während die anderen in der Türkei bleiben müssen, ohne Recht auf Arbeit oder Schulbildung für die Kinder?

Hilfreich ist an dieser Stelle nur praktischer Internationalismus. Der Kampf für offene Grenzen muss sowohl in Europa als auch in der Türkei geführt werden. Reisefreiheit muss für jeden Menschen in jede Richtung gültig sein. RevolutionärInnen müssen für das Recht auf Organisations- und Pressefreiheit eintreten, Streichung aller Terrorlisten, Freiheit für politische Gefangene und die Wiedereinsetzung der von ihrem Amt enthobenen aber demokratisch gewählten HDP-PolitikerInnen. Sie müssen sich gegen Waffenlieferungen an die Türkei wenden und die Aufhebung des Verbots aller türkischen und kurdischen linken Organisationen, allen voran der PKK, fordern!

ditorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel von:

ARBEITERMACHT-INFOMAIL
Nummer 845
19. Oktober 2015

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