Eine zentrale
Kategorie der „kritischen Theorie" ist die Entfremdung.
Unter ihr wird jedoch nicht ein materialistisch
konstatierbares Verhältnis der Arbeiterklasse zum Prozeß
der kapitalistischen Produktion verstanden, also ein sozial
determiniertes Verhältnis. Vielmehr wird diese Entfremdung
mit der Vergegenständlichung der menschlichen Wesenskräfte
identifiziert. Die Erzeugung der Sachwelt durch die
Produzenten bringe ursprünglich diese Entfremdung hervor,
indem sie die Menschen zur Regelung ihrer
Bedürfnisstrukturen, zur Ausrichtung ihres
Leistungswillens entsprechend der sich entwickelnden
Sachwelt zwinge. Hieraus wird die Schlußfolgerung
abgeleitet, daß mit wachsendem Technisierungsgrad und
gesteigerter Produktivität vermehrte Sachzwänge auf die
Produzenten, die diese produktive Sachwelt hervorbringen,
ausgeübt werden. Es existiere jedoch nicht nur eine
natürliche Entfremdung, die durch den prometheischen
Charakter der menschlichen Arbeitsleistung hervorgebracht
wurde, sondern sie sei verbunden mit der vom
Herrschaftsinteresse der herrschenden Klasse ausgehenden
repressiven Reglementierung der Sachzwänge gegenüber den
Produzenten. Repressives Herrschaftsinteresse fördere eine
Ideologie der Anpassung der Produzenten an die von ihnen
erzeugte Sachwelt, die zur Manipulation des
Gattungsbewußtseins der Produzenten führe, also zur Folge
habe, daß die Wirkungen der Entfremdung von den
Produzenten nicht mehr übersehen werden könnten und zur
Anpassung an die bestehende sogenannte
Leistungsgesellschaft führen würden.
Der so
interpretierten Entfremdungssituation, wie sie der
Auffassung der „kritischen Theorie" entspricht, liegt nicht
die Erkenntnis der materialistisch bestimmten Dialektik der
Beziehungen von Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen zugrunde. Vielmehr wird die
dialektisch-materialistische Beziehung, die einer
marxistischen Konstatierung der Entfremdung der
Arbeiterklasse im Prozeß der kapitalistischen Produktion
und Reproduktion entspricht, durch eine hegelia-nisierende
idealistische Beziehung ersetzt.
Das Ablösen
der Dialektik von der materialistischen Grundlage in der
Betrachtung von Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen führt dazu, daß der
gesellschaftliche Charakter der Arbeit geleugnet wird und
statt der sozialen Bedingtheit des gesellschaftlichen
Produktionsprozesses nun eine idealistische Fiktion
erscheint, die die Wirkungen des Produktionsprozesses auf
anthropologisch bestimmte menschliche „Wesenskräfte"
reflektieren möchte. Das bestreben der Vertreter der
„kritischen Theorie", den Weg zur Aufhebung der Entfremdung
zu finden, basiert deshalb auf einer Gesellschafts- und
Geschichtsauffassung, die eine spekulativ-idealistische
Grundlage hat, weil sie die gesellschaftliche Emanzipation
nicht als revolutionäre Aufgabe für die Arbeiterklasse,
die< sozialistische Revolution durchzuführen, formuliert,
sondern sich in der Erwartung eines sich „emanzipierenden
Gattungsbewußtseins" äußert. Für Habermas beispielsweise
ergibt sich daraus sein Vorwurf gegenüber Marx, die
Spezifik der gesellschaftlichen Praxis nur als
instrumentales, nicht aber auch als kommunikatives Handeln
verstanden zu haben. Ein solcher Vorwurf trifft nicht Marx,
offenbart aber das Anliegen,
das Problem der Entfremdung und seiner Aufhebung
idealistisch an ein existentialistisch-anthropologisches
Menschenbild zu binden, das zur Grundlage der
Gesellschaftsbetrachtung erhoben wird.
Der Klassenkampf und seine
Zielsetzung in unserer Epoche werden durch die Sicht dieser
Konzeption zum Reflexionsprozeß. Emanzipation bedeutet
Entfaltung des „kritischen Gattungsbewußtseins" des
menschlichen Wesens. Darunter wird von den Vertretern der
Frankfurter Schule die Fähigkeit der Menschen zur
„kritischen Selbstreflexion" gegenüber konstatierten
Erscheinungen der Wirkung der Entfremdung durch die
produzierte Sachwelt verstanden. „Kritisches
Gattungsbewußtsein" wird damit auch in Gegensatz zur
Ideologie gebracht, die, wie wir im einzelnen noch zeigen
werden, als Ausdruck manipulierten Bewußtseins fungiert.
Dieses nicht
gesellschaftlich-praktische, sondern erkenntnistheoretisch
konstruierte Verhältnis des Menschen zu der von ihm
produzierten Sachwelt kann in seinen
Entfremdungsphänomenen natürlich nicht aus der
sozialökonomischen Sphäre der Gesellschaft bestimmt werden;
sondern entsprechend dem anthropologischen Ausgangspunkt
in der Bestimmung des Menschen ergibt sich, daß die
Entfremdung der menschlichen Wesenszüge nunmehr auch von
einer ihr entsprechenden Bezugssphäre abhängig gemacht
werden muß:-von der psychoanalytischen Theorie Sigmund
Freuds.
Bereits 1932 wird in dem Aufsatz von Max Horkheimer
„Geschichte und Psychologie" deutlich, welche eminente
Rolle die Psychoanalyse für die Gesellschaftsauffassung der
„kritischen Theorie" spielen soll. Horkheimer wendet sich
gegen die neukantianische Geschichtsphilosophie Rickerts,
gegen die Geschichtsphilosophie der Phänomenologie, die er
besonders bei Scheler, Heidegger und Dilthey angreift.(75)
Während er gegenüber subjektivem Geschichtspsychologis-mus
hier zunächst noch die „ökonomischen Kategorien" geltend
macht, fordert er dann selbst die Psychologisierung der
Gesellschaftskritik. „Auch erhält die Psychologie in der
Gegenwart noch eine besondere Bedeutung, dL freilich
flüchtig sein mag. Mit der Beschleunigung der ökonomischen
Entwicklung können nämlich die Änderungen der menschlichen
Reaktionsweisen, die unmittelbar durch die Wirtschaft
bedingt sind, d.h. die unmittelbar
aus dem wirtschaftlichen Leben sich ergebenden
Gewohnheiten, Moden, moralischen und ästhetischen
Vorstellungen so rasch wechseln, daß ihnen gar keine Zeit
mehr bleibt, sich zu verfestigen und richtige Eigenschaften
der Menschen zu werden. Dann gewinnen die relativ ewigen
Momente in der psychischen Struktur an Gewicht und
entsprechend auch die allgemeine Psychologie an
Erkenntniswert. . . Jetzt tendiert die Psychologie dazu,
die wichtigste Quelle zu werden, aus der über die
Seinsweise des Menschen etwas zu erfahren ist. Schon
deshalb wird die Psyche in kritischen Momenten mehr als
sonst zu einem ausschlaggebenden Moment, weil darüber, ob
und in welchem Sinn die zur abgelaufenen Geschichtsperiode
gehörende moralische Verfassung von den Mitgliedern der
verschiedenen gesellschaftlichen Klassen bewahrt oder
verändert wird, nicht ohne weiteres selbst wieder
ökonomische Faktoren entscheiden."(76)
Horkheimer geht hier
bereits von der Rolle der ökonomischen Entwicklung auf die
menschlichen Reaktionsweisen aus und will diese wiederum in
den relativ ewigen Momenten der psychologischen Struktur
des Menschen finden. Deshalb, so schlußfolgert er, werde
die Psychologie zur wesentlichen Quelle, um über die
„Seinsweise des Menschen" etwas zu erfahren. Die
„Erweiterung" des Marxismus besteht folglich darin, von der
Analyse des konkreten praktischen Menschen, vom Menschen
als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, weit
hinter Marx und Engels zurückzugehen und die Frage nach dem
ewigen menschlichen Wesen zu stellen. Die Forderung nach
psychologischer Analyse von Bewußtseinsprozessen meint
damit auch nicht eine praktische gesellschaftliche
Aufgabe, psychologische Faktoren gesellschaftlicher
Bewußtseinsbildung der Menschen in der Produktion und
Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens und im
Klassenkampf auf der Grundlage des gesellschaftlichen
Seins zu untersuchen, sondern zielt auf eine mystische
Konzeption hin. Die „kritische Theorie" will die
Gesellschaftskritik von psychologischen Phänomenen des
menschlichen Wesens abhängig machen, die ebenso wiederum
der Maßstab der Lösung gesellschaftlicher Aufgaben —
nämlich des Kampfes um den Sozialismus - sein'sollen.
Robert Steigerwald weist zu Recht darauf hin, daß die
Sozialismusutopien der „kritischen Theorie", wie sie bei H.
Marcuse formuliert sind, nicht nut utopische, sondern auch
reaktionäre, romantizistische, mythologische Züge tragen.(77)
Gerade die Bezugnahme auf Freuds metapsychologische Theorie
weist aus, daß die „kritische Theorie" den Ansatz zur
Gesellschaftskritik festlegt, indem sie zunächst
gesellschaftliche Fragen biologisiert, durch die
Konzentration auf die Freudsche Lehre von der
Triebstruktur des Menschen psychologisiert und anschließend
mit Bezugnahme auf das menschliche Wesen gesellschaftliche
Fragen individualisiert. Erst hier erfolgt ein Umschlag,
der nun aus der psycho-logisierenden Sicht auf die
gesellschaftlichen Zusammenhänge zurückwirkt. In der Folge
wird die gesellschaftliche Emanzipation als eine
sozio-psychologische Emanzipation ausgewiesen.(78)
Folgerichtig erklärt auch
Habermas, die (menschliche) Gattung sei als Subjekt zu
begreifen. Das Subjekt habe aber in der Geschichte die
Aufgabe, das Interesse der Gattung an Mündigkeit bzw.
Selbstreflexion zu befriedigen.
Habermas liegt mit Marcuse
und seiner Vorstellung von der antiautoritären Gesellschaft
gleich, wenn er logisch folgerichtig den Gegensatz von
sozialistischer und bürgerlicher Ideologie durch den
Widerspruch zwischen „emanzipatorischem Gattungsinteresse"
und „technokratischem Bewußtsein" ersetzt.
Die Einbeziehung der
Freudschen Psychoanalyse in die von
anthropologisch-philosophischen Positionen ausgehende
Gesellschaftstheorie der „kritischen Theorie" ist wiederum
Revision von Marx, indem die Erkenntnis vom Klassenkampf
als Triebkraft der Geschichte durch die psychoanalytische
Erforschung der Bedürfnisstruktur des Menschen ersetzt
wird. Daraus entsteht nun die enge Interessengemeinschaft
zwischen dem Frankfurter S.-Freud-Institut für
Psychoanalyse und Sozialpsychologie Alexander Mitscherlichs
und den Vertretern der „kritischen Theorie". Mitscherlichs
sozialpsychologische kulturphilosophischen Analysen haben
direkten Bezug zur „kritischen Theorie", wie sich das in
der — der Tendenz nach — einheitlichen Beurteilung
widerspiegelt, die Marcuse und MitscherKch über die
psychologischen Ursachen der Aggression der Menschen in
der kapitalistischen Gesellschaft abgeben.(79)
Habermas hebt hervor, daß
die Psychoanalyse als das einzige greifbare Beispiel einer
methodische Selbstreflexion in Anspruch nehmenden
Wissenschaft- bekannt sei.(80)
Die angestrebte
Kombination von Marx und Freud hat das Ziel, den
Klassenkampf als Triebkraft der Geschichte zu eliminieren
und die Ursachen der sozialen Antagonismen nicht in
ökonomischen, sondern in psychologischen Ursachen zu
suchen. Das antagonistische Verhältnis von Kapital und
Arbeiterklasse wird aufgelöst in den Gegensatz von
Zivilisation und Triebstruktur. Der Klassenkampf der
Arbeiterklasse und der mit ihr verbundenen Schichten soll
nun in seinen Quellen vornehmlich aus psychoanalytischen
Motivationen erklärt werden. Die konstatierte Entfremdung
sei gerade in der Repression von Triebregungen zu
untersuchen. Habermas erklärt, unter dem Zwang der äußeren
Natur müsse die Funktion der Selbsterhaltung durch die
kollektive Anstrengung der vergesellschafteten Individuen
gesichert werden, die aber mit dem überschießenden
Potential der inneren Kultur, den libidi-nösen und
aggressiven Bedürfnissen der Menschen kollidiere. Gerade
darin liegt der Grundkonflikt der bisherigen Geschichte.
Herrschaft sei Repression von Triebregungen, die unabhängig
von klassenspezifischer Verteilung der Güter und Leiden
innerhalb des Systems der Selbsterhaltung auferlegt wird.
Das wichtigste Instrument von Herrschaft bilde Ideologie,
als das wie immer auch „zensierte nach außen gestülpte
kollektive Unbewußte", „wo die ausgesperrten Symbole die
von Kommunikation abgespaltenen, aber ruhelos
umgetriebenen Motive auf Bahnen virtueller Befriedigung
lenken".(81)
Damit befindet sich die „kritische Theorie" auf den
Positionen der bürgerlichen Schulsoziologie und geht am
historischen Materialismus völlig vorbei. Marx deckt den
universellen Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und
gesellschaftlichem Bewußtsein auf, indem er das
gesellschaftliche Bewußtsein aus der gesetzmäßigen
Entwicklung des gesellschaftlichen Seins ableitet und den
ideologischen Klassenkampf als Resultat des gesetzmäßigen
Entwicklungsprozesses der gesellschaftlichen Produktion
beschreibt. Diese „Weiterentwicklung von Marx" macht
„natürliche Triebregungen des menschlichen Wesens" zur
Ursache der gesellschaftlichen Entwicklung und versperrt
gerade damit den Zugang zum Verständnis des
historischen Charakters der kapitalistischen
Gesellschaftsformation. Aus den Gesetzen der
gesellschaftlichen Entwicklung werden hier unversehens
Gesetze des menschlichen Individuums, wobei gleichzeitig
der Mensch als Naturwesen aufgefaßt wird, aus dem alle
konkreten historischen Entwicklungsprozesse direkt
abgeleitet werden sollen.
Bei Marcuse wird direkt
die konstatierte Entfremdung aus Motivationen der
Freudschen Metapsychologie erklärt. Die Argumentation
Marcuses richtet sich, dabei Freud folgend, direkt gegen
den Charakter der Arbeit, wie ihn Marx erklärt, als eine
gesellschaftsgestaltende, den Menschen formende Kraft. Im
Menschen wirke der Lebenstrieb (Eros) und der Todestrieb.
Ersterer erstrebe Vereinigung aller lebenden Substanz zu
immer größeren und dauerhafteren Einheiten, letzterer die
Rückkehr zum schmerzlosen Zustand vor der Geburt. Beide
Triebe stießen auf eine Umwelt, die für die unmittelbare
Befriedigung des Lebenstriebes zu arm und feindselig sei
und Triebmodifikationen durch Ablehnung und Hemmung
erfordere, in deren Ergebnis eine gehemmte, aufgeschobene,
ersetzte, aber nur dadurch relativ sichere und nützliche
Triebbefriedigung liege. Es entstehe eine Triebdynamik als
Kampf zwischen Eros, Todestrieb und Außenwelt. Diesen
Grundkomplexen der Triebdynamik entsprächen die drei
Grundprinzipien: Lustprinzip — Nirwanaprinzip —
Realitätsprinzip.
Nach Freud und Marcuse
wird das psychische Leben zu einer Mischung des Lebens- und
Todestriebes. Der Todestrieb würde jedoch in den Dienst des
Lebenstriebes gezwungen, aber seine Energie werde nunmehr
abgelenkt. Sie richte sich nicht mehr gegen den eigenen
Organismus, sondern entfalte sich als gesellschaftliche,
nützliche Aggression gegen die Natur, die gesellschaftlich
erlaubten Feinde, gestalte sich zum Gewissen, zur Moral,
zum Über-Ich, das zur gesellschaftlichen Beherrschung der
Triebe diene.
Daraus entsteht nun der
zentrale Kulturbegriff. Das ursprünglich den Organismus
beherrschende Lust-Prinzip, bestimmt nach dem Freudschen
Sexualitätsbegriff als Lustgewinn aus Körperzonen, kann
sich in unserer arm- und feindseligen Umwelt nicht
entfalten, unterliegt dem Triebverzicht. Die Sexualität
werde vom gesamten Organismus weg auf die genitalen, der
Fortpflanzung dienenden Körpcrparticn abgelenkt, damit der
übrige Organismus zur Arbeit frei werde.
Hier kann allerdings
bemerkt werden, daß Marcuse angesichts der von dtr
bürgerlichen Ideologie hervorgerufenen und gesteuerten
Sexualitätswelle in den kapitalistischen Ländern, die mit
der Begründung notwendiger Überwindung von Triebfrustration
verteidigt wird, registrieren muß, daß zu-chmende Sexualitätsbekundung
durchaus nicht zur Triebbefreiung
und Mündigkeit des Menschen führen muß, sondern
extrem manipulierenden Charakter
annimmt.
In der freudistischen
Sicht Marcuses ist die Arbeit nun von Uit abgetrennt, sie
ist durch Lebensnot Erzwungen, repressiv verwandelte
Triebenergie, sie ist entfremdet, Mühsal, Qual, ie Furcht
des Konflikts zwischen den nimmersatten Trieben und unserer
armseligen Umwelt, sie erzeugt als solche die Kultur.
Das ins Realitätsprinzip
verwandelte Lustprinzip ist Prinzip produktiver Entsagung
(„wir verloren das Paradies und müssen im Schweiße unseres
Angesichts unser Brot verdienen", dieser Mythos biblischen
Ursprungs liegt hier zugrunde).
Das Realitätsprinzip
entfaltet alle Triebmodifikationen, Verzichte, Ablenkungen,
die die Gesellschaft den Individuen auferlegen muß, um sie
in gesellschaftlich verwendbare Arbeitsinstrumente zu
verwandeln. In diesem Sinne wird das Realitätsprinzip zum
Prinzip des Fortschritts. Leistung wird entscheidend und
entwickelt so gegen die Individuen repressive Energie,
führt zur Entfremdung.
Der Kulturfortschritt wird
ausgehend von der Wirkungsweise des Realitätsprinzips als
automatisch angesehen. Die zur Produktivität gewordene
ursprüngliche Libido versage so den Individuen den vollen
Genuß der von ihnen erzeugten Güter.
Diese mythologische
Bestimmung des Arbeitsbegriffs in der „kritischen Theorie"
führt weit hinter die Marxsche Bestimmung des
gesellschaftlichen Charakters der Arbeit zurück, weil sie
bekanntlich das- Gesellschaftliche aufs Individuelle,
dieses aufs.Biologische reduziert und dann
sozialdarwinistisch die biologische Sphäre mit der Umwelt
konfrontiert, während Marx in der Auseinandersetzung mit
der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie vom
Biologischen zum Gesellschaftlichen aufsteigt und dabei
den kontemplativen Materialismus Feuerbachs durch den
dialektischen Materialismus überwindet.
Die Folge der hier
genannten Konzeption besteht dann darin, die sozialistische
Revolution von der Triebstruktur des Menschen abhängig zu
machen.
Dazu ist bei Marcuse aber
noch eine zweite Konstruktion notwendig, in der er neben
der konstruierten Entfremdung des Menschen einen
psychologisierenden Freiheitsbegriff setzt.
Triebunterdrückung entspringe nicht nut der
Naturnotwendigkeit, sondern ebenso oder sogar primär einem
Interesse nach Aufrechterhaltung despotischer Herrschaft.
Sie reglementiere den repressiven Triebverzicht und führe
zu wachsender Entfremdung. (Dieser Schritt, den Marcuse in
scheinbare Nähe des Marxismus zu machen sucht, wird
unbegründet formuliert und geht durchaus nicht logisch und
folgerichtig aus dem bisher Gesagten hervor.)
Marcuse kommt in seiner
psychoanalytischen Deutung zum Ziel, wenn er erklärt, die
heute bestehende revolutionäre Situation finde ihre
Ursachen darin, daß die im Zeichen des Leistungsprinzips
erwirtschafteten produktiven Mittel qualitativ und
quantitativ ausreichten, um heute unsere Bedürfnisse ohne
weiterhin erzwungene Opfer des Leistungsprinzips zu
befriedigen.(82)
Marcuse gerät zu seiner,
aus der „kritischen Theorie" abgeleiteten, einfachen
Negation des Kapitalismus. Da die heutige
technisch-produktive Möglichkeit die sich steigernde
herrschende Repression (Surplus-Repression) überflüssig
mache, müsse Widerstand einsetzen und der Kampf um die
totale Revolution geführt werden. Die Befreiung der
Triebstruktur sei heute möglich. Daran schließt Marcuse
Visionen über die „konkrete Sozialutopie", die anzustreben
sei, wobei sich diese Visionen deutlich gegen die
praktisch-produktive Tätigkeit der Menschen richten und er
ein mythologisches Ideal der Entfaltung der Triebstruktur
an die Stelle des Realitätsprinzips gesetzt wissen will,
das sich leitbildhaft an Gestalten wie Narziß und Orpheus
ausrichtet, was, wie Steigerwald richtig feststellt,
deutlich eine Parteinahme gegen Prometheus und Faust
bedeuten muß.(83)
Die Marcusesche und im
Wesen der Sache auch die gesamte Theorie der „kritischen
Theorie" reduziert also gesellschaftliche, materialistisch
bestimmbare Prozesse auf dem menschlichen Wesen eigene
Triebstrukturen, aus denen wiederum der gesellschaftliche
Gesamtprozeß, dabei immer formale Anleihen an die
Kategorien des Marxismus machend (Surplus-Repression,
Surplus-Profit), abgeleitet wird. Das Problem der
gesellschaftlichen Freiheit und der revolutionäre Kampf zu
seiner Verwirklichung wird hier deshalb in eine sinnliche,
abstrakte Phrase verkehrt, die ihre Entsprechung im
Menschenbild der „kritischen Theorie" findet.
Wenn Freiheit (für das
menschliche Wesen) in Gegensatz zum Produzieren gesetzt
wird, so ist sie sowohl im historischen wie auch im
logisch-theoretischen Sinne letzten Endes nicht möglich,
und die hier vorgelegte Vision vom Menschen tritt
automatisch aus dem lebendigen gesellschaftlichen
Zusammenhang des praktischen Lebens heraus.
Die „kritische Theorie"
sucht also die Überwindung der Repression durch Herrschaft
in der Möglichkeit der Individuen zur Selbstreflexion zu
finden.
Erich Fromm definiert
bereits 1931: Die sozialpsychologischen Erscheinungen sind
aufzufassen als Prozesse der aktiven und der passiven
Anpassung des Triebapparates an die sozialökonomische
Situation . . . Die Sozialpsychologie hat die gemeinsamen
- sozial relevanten — seelischen Haltungen und Ideologien -
und insbesondere deren unbewußte Wurzeln -aus der
Einwirkung der ökonomischen Bedingungen auf die libidinösen
Strebungen zu erklären.(84)
Für Fromm enthält das System physischer Bedürfnisse des
Menschen solche wie Glück, Liebe, Freiheit, wobei die
unterschiedlichen historischen Epochen nur vom Stand der
Realisierung und vom Charakter des Einflusses der
jeweiligen sozialen Struktur auf diese Bedürfnisse
aufzufassen sind. So erscheine der historische .Mensch nur
als eine Modifikation des Wesens des Menschen, seine
Normativität trage ahistorischen Charakter.(85)
Er schlußfolgert: Der
historische Materialismus bedürfe einer Psychologie, d. h.
einer Wissenschaft von den seelischen Eigenschaften des
Menschen. Erst die Psychoanalyse habe eine Psychologie
geliefert, die für den historischen Materialismus brauchbar
sei.(86)
In der Absicht, Marx und
Freud zu vermengen, diese neue Variante des Bestrebens,
Marx mit Kant, Marx mit Rousseau, Marx mit
Hegel zu kombinieren, wird ein neuer Typ des
kleinbürgerlichen Bewußtseins sichtbar. Es ist der Typ des
im staatsmonopolistischen Kapitalismus in die Opposition
gedrängten bürgerlichen Humanisten, der mit Hilfe formaler
Anleihen im historischen Materialismus bestrebt ist, ohne
Bindung an die Arbeiterklasse die Voraussetzungen des
Humanismus in das menschliche Wesen selbst zu legen.
Wenn J. P.
Sartre in einer Stellungnahme die psychoanalyti-sche
Interpretation des existentiellen Wesens des Menschen durch
andere existentielle Motivationen ersetzt wissen will, so
unterstreicht das gerade den Trend dieser Entwicklung, die
sich in der Charakteristik des Menschenbildes äußert.(87)
Endnoten
75) M.
Horkheimer, Geschichte und Psychologie, in: Zeitschrift für
Sozialforschung, 1. Jahrgang 1932, S. 126/127
76)Ebenda,
S. 143/144
77) R.
Steigerwald, Herbert Marcuses dritter Weg, a. a. O., S.
247/248
78) Darauf
verweist auch P. Baran in der kritischen Auseinandersetzung
mit Marcuse: Unterdrückung und Fortschritt, Essay,
Frankfurt/M. 1968, S. 75. Vgl. feiner: Steigerwald, R.:
Herbert Marcuses dritter Weg, a. a. O., S.250f
79) Vgl.
Aggression und Anpassung in der Industrieges3llschaft. Mit
Beiträgen von Herbert Marcuse, Anatol Rapoport, Klaus
Horn, Alexander Mitscherlich, Dieter Senghaas und Mihailo
Markovic, edition suhrkamp 282, Frankfurt/M. 1968. Hier
wird die ideologisch bestimmte Aggressivität von
Triebfrustrationen abhängig gemacht.
80) J.
Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1969, S.
9f.
81)
Ebenda, S. 342
82) H.
Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M.
1965,S. 93ff.
83) R.
Steigerwald, Herbert Marcuses dritter Weg, a. a. O., S. 246
84) E. Fromm, Über Methode und Aufgabe einer analytischen
Sozialpsychologie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1.
Jahrgang 1932, S. 54
85) Vgl.
V. I. Dobren'kov, Koncepcija „celoveka" u Fromma. Vest.
Mosk. Univ., Ser. filos, Moskva 23 (1968), 4., S. 81-90
86) E.
Fromm, Über Methode und Aufgabe einer analytischen
Sozialpsychologie, a. a. O., S. 46
87) Vgl.
konkret-Exclusiv: Jean Paul Sartre: Marx ist besser als
Freud, in: Konkret. Nr. 7. vom 26. 3.1970, S. 22-27, bes.
S. 24/25
Editorische
Hinweise
Rolf
Bauermann und Hans-Joachim-Rötscher, Dialektik der
Anpassung, Die Ausssöhnung der kritischen Theorie mit den
imperialistischen Herrschaftsverhältnissen. Berlin 1974,
S. 42-52
|