Die geringe Relevanz von
personengebundenen Einkommenssteuern trägt maßgeblich zur
regressiven – die soziale Ungleichheit verstärkenden –
Wirkung der lateinamerikanischen
Steuersysteme bei. (Vergleiche auch hierzu die Fakten und Zahlen
im Quellentext.) Die Bedeutung von
Verbrauchs- und anderen Steuern wird in jenen Ländern
relativiert, deren Fiskaleinnahmen zu
einem beträchtlichen Teil aus dem Verkauf von wertvollen
Rohstoffen im Staatsbesitz stammen. So
hat sich der Anteil solcher Einkünfte seit den 1990er Jahren bis
2006-2008 in Chile von 27,9 auf 34,3 Prozent und in Kolumbien
von 7,7 auf 17,8 Prozent erhöht. Ein
Extremfall bildet Venezuela, wo über 60 Prozent der
Fiskaleinnahmen auf den Export von
Erdöl(produkten) entfallen. -
Was sich in
außenwirtschaftlichen Boomphasen als Segen für die Staatskasse
erweist, kann in ökonomischen
Krisenzeiten rasch zu einem ernsthaften Problem für die
öffentlichen Finanzen mutieren.
Die chilenische Steuerquote, die
2008 bei 18,5 Prozent lag, ist binnen Jahresfrist auf 14,6
Prozent abgesackt, wobei knapp 3 Prozentpunkte dieser
Differenz durch die rückläufigen Erlöse
beim Kupferexport verursacht wurden. In Bolivien fielen –
gemessen am BIP – binnen zweier Jahre
(2007-2009) die staatlichen Rohstoffeinnahmen von 11,3 auf 6,0
Prozent und in Venezuela von 14,6 auf 6,9
Prozent.
Während die Schwankungsbreite
der Steuereinnahmen in Lateinamerika bei durchschnittlich
12,3 Prozent liegt (in den Industriestaaten bei 4,5
Prozent), ist sie bei den Ländern, die Eigner
strategischer Rohstoffe sind, noch größer: bei Venezuela
sind es 24 Prozent, bei Ecuador rund 20
Prozent. Die Verfügungsgewalt über enormen Rohstoffreichtum
hat nicht nur in Lateinamerika die
politische Klasse dazu verführt, die Erschließung alternativer
Steuerquellen sträflich zu vernachlässigen.
Tatsächlich haben viele
Steuersätze einen fast fiktiven Wert, weil zahlreiche Ausnahme-
und Sonderregelungen sowie (legale)
Schlupflöcher existieren. So werden dem
Fiskus bei der Einkommenssteuer
mindestens 35 Prozent, vielfach deutlich über 40
(so beispielsweise in
Peru, Argentinien) und in Einzelfällen mehr als 60 Prozent
(wie in Ecuador, Guatemala)
vorenthalten. Die Hinterziehungsraten bei den indirekten
Steuern (wie der Mehrwertsteuer)
bewegen sich zwischen einem Viertel und einem Drittel der
tatsächlichen Einnahme dieser Abgabe.
-
Die enorme Dimension der
Steuerhinterziehung verweist auf eine
Unmenge nicht deklarierter kommerzielleer
Transaktionen, Umsätze und Gewinne, die somit nicht in die
volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingehen.
Auch bei der Entrichtung von
Sozialabgaben werden die Vorschriften missachtet, woraus
Minderzahlungen in Höhe von bis zu 50
Prozent der Pflichtbeiträge resultieren. -
Zahlreiche mittlere und große
Unternehmen aus dem formalen Segment der Wirtschaft
kommen ihrer Steuerpflicht überhaupt nicht oder nur zu
einem Bruchteil nach. -
Steuerhinterziehung ist zum
„Massensport“ der Ober- und Mittelschicht avanciert.
Die im Vergleich zur Erwerbsbevölkerung schmale
Steuerbasis ergibt sich hauptsächlich aus
dem enormen Gewicht informeller Wirtschaftsaktivitäten. Jeder
zweite Erwerbstätige geht einer
informellen Beschäftigung nach. Der informelle Sektor entrichtet
keine direkten Steuern und mindert durch
sein Waren- und Dienstleistungsangebot zudem die Umsätze der
offiziell registrierten Unternehmen und
damit die Höhe von deren Fiskalabgaben.
Die niedrige Steuerquote in
Lateinamerika schränkt das Umverteilungspotenzial stark ein.
Bezogen auf den jeweiligen Anteil am BIP wird in der
Region nur halb so viel für
Transferleistungen ausgegeben wie in der Europäischen Union (7,3
Prozent gegenüber 14,7 Prozent in der
EU).
Die mit staatlichen
Pensionssystemen verbundenen Privilegien, wie das niedrige
Pensionsalter oder die hohen Bezüge, die im Todesfall
ohne Abstriche an Ehegatten oder Kinder
bis an deren Lebensende gezahlt werden, suchen in den westlichen
Reichtums- und Wohlstandsgesellschaften
ihres gleichen. -
Im lateinamerikanischen
Durchschnitt entfallen auf die beiden obersten
Einkommensquintile rund 80 Prozent sämtlicher
Pensionszahlungen, während das unterste
Quintil weniger als 3 Prozent erhält.
Wem nutzen die staatlichen Subventionen?
In Mexiko hat man errechnet, dass
von jedem Peso, der zur Verbilligung von Kfz-Treibstoff
ausgegeben wird, 50 Cent an das oberste Einkommensquintil gehen,
während nur 3 Cent auf die untersten 20
Prozent der Einkommenspyramide entfallen.
Es erscheint geradezu aberwitzig,
wenn in Venezuela der Benzinkonsum der Oberschicht
mit vielen Milliarden US-Dollar subventioniert wird,
während der nationalen Erdölfirma PdVSA
unter Missachtung ihrer (re-)Investitionsbedürfnisse die
Übernahme der Kosten für zahlreiche
Sozialprogramme (misiones)
aufgebürdet wird. (Stand im Jahr 2010)
[Ein modifizierter Auszug, vgl.]
Quelle: GIGA Focus, Nr. 7 / 2010.
Institut für Lateinamerika-Studien. Steuern, Subventionen
und soziale Ungleichheit in Lateinamerika. Eine Analyse von
Karl-Dieter Hoffmann.
Anmerkung: Die Publikation kann kostenfrei im Netz gelesen und
heruntergeladen werden.
23.10.2014
Editorische
Hinweise
Wir erhielten
den Text vom Autor für diese Ausgabe.