Lateinamerika, die Weltregion mit der größten sozialen Ungleichheit?
Aspekte zu Steuern, Subventionen und sozialer Ungleichheit

zusammengestellt von Reinhold Schramm

10-2014

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Selbst US-Außenministerin Hillary Clinton übte im Juni 2010 deutliche Kritik an der schlechten Steuermoral der lateinamerikanischen Oberschicht. In vielen Ländern vertieft die Fiskalpolitik die Kluft zwischen Arm und Reich.

• Die Steuerquote ist nur halb so hoch wie in den OECD-Staaten und liegt deutlich unter den Vergleichswerten anderer Entwicklungsländer.

• Die niedrigen Steuereinnahmen resultieren aus der schmalen Steuerbasis und dem beträchtlichen Ausmaß an Steuerhinterziehung.

• Die relativ geringen Fiskaleinkünfte beschränken den staatlichen Handlungsspielraum in der Ausgabenpolitik.

• Es entspricht der Logik des Systems, wenn die Unternehmer und Beschäftigten des informellen Sektors als (direkte) Steuerzahler ausfallen.

Es profitieren vor allem Angehörige der Oberschicht und Mittelschicht von den staatlichen Subventionsprogrammen, wodurch die soziale Ungleichheit weiter verstärkt wird.

Die geringe Relevanz von personengebundenen Einkommenssteuern trägt maßgeblich zur regressiven – die soziale Ungleichheit verstärkenden – Wirkung der lateinamerikanischen Steuersysteme bei. (Vergleiche auch hierzu die Fakten und Zahlen im Quellentext.) Die Bedeutung von Verbrauchs- und anderen Steuern wird in jenen Ländern relativiert, deren Fiskaleinnahmen zu einem beträchtlichen Teil aus dem Verkauf von wertvollen Rohstoffen im Staatsbesitz stammen. So hat sich der Anteil solcher Einkünfte seit den 1990er Jahren bis 2006-2008 in Chile von 27,9 auf 34,3 Prozent und in Kolumbien von 7,7 auf 17,8 Prozent erhöht. Ein Extremfall bildet Venezuela, wo über 60 Prozent der Fiskaleinnahmen auf den Export von Erdöl(produkten) entfallen. -

Was sich in außenwirtschaftlichen Boomphasen als Segen für die Staatskasse erweist, kann in ökonomischen Krisenzeiten rasch zu einem ernsthaften Problem für die öffentlichen Finanzen mutieren.

Die chilenische Steuerquote, die 2008 bei 18,5 Prozent lag, ist binnen Jahresfrist auf 14,6 Prozent abgesackt, wobei knapp 3 Prozentpunkte dieser Differenz durch die rückläufigen Erlöse beim Kupferexport verursacht wurden. In Bolivien fielen – gemessen am BIP – binnen zweier Jahre (2007-2009) die staatlichen Rohstoffeinnahmen von 11,3 auf 6,0 Prozent und in Venezuela von 14,6 auf 6,9 Prozent.

Während die Schwankungsbreite der Steuereinnahmen in Lateinamerika bei durchschnittlich 12,3 Prozent liegt (in den Industriestaaten bei 4,5 Prozent), ist sie bei den Ländern, die Eigner strategischer Rohstoffe sind, noch größer: bei Venezuela sind es 24 Prozent, bei Ecuador rund 20 Prozent. Die Verfügungsgewalt über enormen Rohstoffreichtum hat nicht nur in Lateinamerika die politische Klasse dazu verführt, die Erschließung alternativer Steuerquellen sträflich zu vernachlässigen.

Tatsächlich haben viele Steuersätze einen fast fiktiven Wert, weil zahlreiche Ausnahme- und Sonderregelungen sowie (legale) Schlupflöcher existieren. So werden dem Fiskus bei der Einkommenssteuer mindestens 35 Prozent, vielfach deutlich über 40 (so beispielsweise in Peru, Argentinien) und in Einzelfällen mehr als 60 Prozent (wie in Ecuador, Guatemala) vorenthalten. Die Hinterziehungsraten bei den indirekten Steuern (wie der Mehrwertsteuer) bewegen sich zwischen einem Viertel und einem Drittel der tatsächlichen Einnahme dieser Abgabe. -

Die enorme Dimension der Steuerhinterziehung verweist auf eine Unmenge nicht deklarierter kommerzielleer Transaktionen, Umsätze und Gewinne, die somit nicht in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingehen. Auch bei der Entrichtung von Sozialabgaben werden die Vorschriften missachtet, woraus Minderzahlungen in Höhe von bis zu 50 Prozent der Pflichtbeiträge resultieren. -

Zahlreiche mittlere und große Unternehmen aus dem formalen Segment der Wirtschaft kommen ihrer Steuerpflicht überhaupt nicht oder nur zu einem Bruchteil nach. -

Steuerhinterziehung ist zum „Massensport“ der Ober- und Mittelschicht avanciert. Die im Vergleich zur Erwerbsbevölkerung schmale Steuerbasis ergibt sich hauptsächlich aus dem enormen Gewicht informeller Wirtschaftsaktivitäten. Jeder zweite Erwerbstätige geht einer informellen Beschäftigung nach. Der informelle Sektor entrichtet keine direkten Steuern und mindert durch sein Waren- und Dienstleistungsangebot zudem die Umsätze der offiziell registrierten Unternehmen und damit die Höhe von deren Fiskalabgaben.

Die niedrige Steuerquote in Lateinamerika schränkt das Umverteilungspotenzial stark ein. Bezogen auf den jeweiligen Anteil am BIP wird in der Region nur halb so viel für Transferleistungen ausgegeben wie in der Europäischen Union (7,3 Prozent gegenüber 14,7 Prozent in der EU).

Die mit staatlichen Pensionssystemen verbundenen Privilegien, wie das niedrige Pensionsalter oder die hohen Bezüge, die im Todesfall ohne Abstriche an Ehegatten oder Kinder bis an deren Lebensende gezahlt werden, suchen in den westlichen Reichtums- und Wohlstandsgesellschaften ihres gleichen. -

Im lateinamerikanischen Durchschnitt entfallen auf die beiden obersten Einkommensquintile rund 80 Prozent sämtlicher Pensionszahlungen, während das unterste Quintil weniger als 3 Prozent erhält.

Wem nutzen die staatlichen Subventionen?

In Mexiko hat man errechnet, dass von jedem Peso, der zur Verbilligung von Kfz-Treibstoff ausgegeben wird, 50 Cent an das oberste Einkommensquintil gehen, während nur 3 Cent auf die untersten 20 Prozent der Einkommenspyramide entfallen.

Es erscheint geradezu aberwitzig, wenn in Venezuela der Benzinkonsum der Oberschicht mit vielen Milliarden US-Dollar subventioniert wird, während der nationalen Erdölfirma PdVSA unter Missachtung ihrer (re-)Investitionsbedürfnisse die Übernahme der Kosten für zahlreiche Sozialprogramme (misiones) aufgebürdet wird. (Stand im Jahr 2010)
[Ein modifizierter Auszug, vgl.]

Quelle: GIGA Focus, Nr. 7 / 2010. Institut für Lateinamerika-Studien. Steuern, Subventionen
und soziale Ungleichheit in Lateinamerika. Eine Analyse von Karl-Dieter Hoffmann.
Anmerkung: Die Publikation kann kostenfrei im Netz gelesen und heruntergeladen werden.
 

23.10.2014

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.