Sieger
sehen anders aus. Am Abend des Dienstags, den 16. September 14
stand es fest: Frankreichs Premierminister bleibt im Amt,
nachdem in der feierlichen Vertrauensabstimmung der
Nationalversammlung 269 Abgeordnete für und 244 gegen den
alt-neuen Regierungschef gestimmt hatten. Es war allgemein damit
gerechnet worden,
dass er sein Amt behält, denn bei solchen
Voten zählen nur die abgegeben Ja- und Nein-Stimmen,
Enthaltungen gehen nicht in die Berechnung mit ein. Das Kabinett
war Ende August umgebildet worden, was einen neuen Gang vor das
„Unterhaus“ des französischen Parlaments erforderlich machte.
Zum ersten Mal seit 1962 erhielt ein Premierminister dabei
jedoch nur eine relative und nicht eine absolute Mehrheit,
gemessen an der Gesamtzahl der Abgeordneten.
Ihrer Stimme enthalten haben sich
an jenem Dienstag 32 sozialdemokratische Abgeordnete, also
Mitglieder der mit Abstand stärksten Regierungspartei. Trotz
massiven Drucks ihrer Parteivorderen, die unter anderem damit
gedroht hatten, wer bei Abstimmung ausschere, müsse folgerichtig
auch die Fraktion verlassen, und werde bei kommenden Wahlen
nicht wieder aufgestellt.
Unglückszahl 13
Man muss keinem Aberglauben anhängen, um zu
dem Schluss zu kommen, dass die Zahl 13 für François Hollande
Unglück bedeutet. 13 Prozent, das ist der augenblickliche
Popularitätswert des französischen Staatspräsidenten François
Hollande: So viele Französinnen und Franzosen vertrauen noch auf
seine Politik.
Er wurde zuerst durch das rechtskonservative
Wochenmagazin Figaro-Magazine vom vergangenen
Wochenende des 06./07. September 14 publik, jedoch kurz darauf
durch sämtliche Umfrageinstitute bestätigt – überall befindet
sich Hollande im Sturzflug. Das Ergebnis ist also kein „Ausreißer“,
sondern spiegelt sich in sämtlichen Befragungen wieder. Bereits
seine Amtsvorgänger Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy erlebten
Tiefswerte an Popularität, Ersterer mit 16 Prozent und Letzterer
mit 20 Prozent, aber jeweils in ihrem letzten Amtsjahr. Doch
Hollande hat, blickt man auf den Wahlkalender, noch drei Jahre
vor sich. Auch wenn nicht nur der Chefredakteur des stark
rechtslastigen Figaro-Magazine, Carl Meeus, die
Auffassung vertritt: „Mit 13 Prozent Popularität kann man
nicht mehr wirklich regieren.“ Seine rekordverdächtige
Unbeliebtheit, fährt Meeus fährt, „zerstört jede
Handlungsfähigkeit des Präsidenten“.
Auch sein Premierminister Manuel Valls, der
im April 2014 mit einem „Macherimage“ und rund 60 Prozent
Unterstützung in der öffentlichen Meinung antrat, ist
mittlerweile in den meisten Umfragen bei nur noch dreißig
Prozent angekommen, in einer rangiert er sogar bei nur noch 22
Prozent. Es ist also ganz offenkundig eine Politik, die durch
die Wahlbevölkerung abgestraft wird, und nicht nur eine
Persönlichkeit. Darin liegt auch kein Wunder. Wer im Jahr 2012
mit einem halblinken Diskurs gewählt wird, um – so die
verbreitete Erwartung - zumindest eine etwas sozialere und etwas
stärker bürgerrechtsorientierte Politik als sein Amtsvorgänger
Nicolas Sarkozy zu verfolgen, um 2014 in den Bereichen
Wirtschafts- und Sozialpolitik noch rechts am zuvor regierenden
Bürgerblock vorbeizuziehen, kann mit wenig Unterstützung
rechnen.
Die Rechten in der Gesellschaft
wittern Betrug und behaupten, es handele sich nur um schöne
wirtschaftsliberale Worte, denen keine Tate folgten, was
allerdings in der Realität unzutreffend ist. Oder sie
attackieren die Regierung, statt bei ihrer mit der Rechten
kompatiblen Wirtschaftspolitik, auf dem Feld der „moralischen
Werte“, wie man im Vorjahr bei den Massenprotesten gegen die
Homosexuellenehe sehen konnte. Ein Teil der französischen
Rechten hängt noch immer der historischen Sichtweise an, dass
ein Sozialist an der Regierung grundsätzlich illegitim sei, da
dies im Grunde „widernatürlich“ sei und einer natur- oder
Gottgegebenen „moralischen Ordnung“ widerspreche. Und auf der
Linken zeigt man sich zugleich wenig begeistert darüber, dass
die „eigene“ Regierung jedenfalls auf vielen Feldern schlicht
die Politik der Gegenseite betreibe.
Ganz rechte Sozialdemokraten
auf Wirtschaftskurs
Seitdem
Hollandes Premierministers Valls zu Anfang der letzten
Augustwoche seine Regierung umbildete, ist ein strammer
sozialdemokratischer Rechtskurs angesagt. Die Kabinettsumbildung
diente dazu, den wegen Kritik am Regierungskurs aufgefallenen
Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg – ein halblinker
Sozialdemokrat mit etatistischen und protektionistischen
Untertönen – zu entfernen. Mit ihm gingen Schulminister Benoît
Hamon, ein früherer Wortführer des linken Parteiflügels, und
Kulturministerin Aurélie Filippetti. Die Satiresendung Les
Guignols de l’info beim TV-Sender Canal+ spottete
daraufhin wochenlang über ein umgebildetes Kabinett, das sie nur
noch mit dem Adjektiv „rechts“ (de droite)
belegte. In einer Episode der Polit-Puppensendung, die seit 1988
fast täglich ausgestrahlt wird, wendet sich Hollande mit der
bangen Frage an Premierminister Valls: „Wie konnten sich
nur linke Minister einschleichen (gemeint: ins bisherige
Regierungskabinett)?“ Antwort: „Nun, sie
hatten einen Trick drauf, sie hatten sich Krawatten umgehängt!“
Wirtschaftsliberaler ,Sunny Boy‘
Emmanuel Macron
Die frisch umgebildete Regierung entzündete
auch sogleich ein Feuerwerk von vor allem wirtschaftspolitischen
Ankündigungen. Der neue, erst 36jährige Wirtschaftsminister
Emmanuel Macron, ein früherer Geschäftsbanker und angeblich
Millionär, feierte seinen Einstand mit einem Angriff auf die
2000 durch die damalige sozialdemokratische Regierung
durchgeführte Arbeitszeitverkürzung. Die theoretisch geltende
35-Stunden-Woche sei viel zu starr und müsse aufgeweicht werden,
verkündete Marcon, und übernahm dadurch einen im vergangenen
Jahrzehnt durch Wirtschaftsliberale ständig wiederholten Topos.
Er wird dadurch nicht wahrer: Das Gesetz aus dem Jahr 2000 setzt
nur einen verpflichtenden Maßstab
für die reguläre Arbeitszeit im Jahreszyklus, lässt allerdings
sowohl „flexible“ und stark variierende Arbeitszeiten innerhalb
des Jahres, als auch über die Obergrenze hinausgehende
Überstunden zu.
Emmanuel Macron hat sich
allerdings selbst ziemlich in die Nesseln gesetzt, als er am 17.
September 14 die Arbeiterinnen des Schlachtereibetriebs Gad in
der Bretagne – deren Arbeitsplätze bedroht sind – in einem
Radiointerview als „Analphabetinnen“ titulierte. Die Äußerung
fiel im Kontext einer Interviewpassage, in welcher Minister
Macron eine Vereinfachung von Verwaltungsprozeduren forderte –
um den Führerschein zu verbilligen, damit die Arbeiterinnen ohne
Lesekenntnisse und ohne Führerschein (laut seine Darstellung)
auch in 80 oder 100 Kilometer Entfernung nach neuen
Beschäftigungsmöglichkeiten suchen könnte. Infolge seines
Ausspruchs und des beginnen Skandals darum musste Macron
schnellstmöglich zurückrudern. Er kündigte noch am selben Tag
an, er entschuldige sich, und am 18. September fügte er hinzu,
er werde alsbald die Arbeiterinnen von Gad besuchen.
Arbeitsminister François Rebsamen
seinerseits hat zwar in den letzten Monaten trotz wiederholter
Ankündigungen nicht die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen.
Aber kaum war er im Amt bestätigt, verkündete er Ende August
d.J., nun würden die angeblich zu Sozialbetrug neigenden
Erwerbslosen endlich Kontrollen entzogen: Wer keine
Anstrengungen zur Stellensuche nachweisen kann, dem oder der
droht der vorübergehende Entzug der Leistungen aus der
Arbeitslosenkasse. In Wirklichkeit war ein entsprechender
Kontrollmechanismus jedoch, in aller Diskretion und ohne
Aufhebens darum zu veranstalten, seit einem Jahr in vier
französischen Départements ausprobiert worden. Dafür wurden
spezielle Kontrollteams eingerichtet. Gut sechs Prozent der
kontrollierten Erwerbslosen verloren ihre Bezüge, in einem
ersten Anlauf je für 14 Tage. Es geht nun darum, eine
Verallgemeinerung des erprobten Verfahrens anzustreben.
Auch innerhalb der regierenden
Sozialdemokratie protestierten viele. Selbst Parteichef
Jean-Christophe Cambadélis, beileibe kein Linker, wandte sich
gegen das Vorhaben. Am längeren Hebel dürfte aber letztendlich
der amtierende Minister Rebsamen sitzen. Am Rande der
Sommeruniversität in La Rochelle hatte Rebsamen über seinen
Parteivorsitzenden gespottet, dieser „kenne die Welt der
Unternehmen nicht“ und habe „in seinem Leben noch
nie gearbeitet“ (zitiert nach der Wochenzeitung Le
Canard enchaîné). Gemeint war: außerhalb
der Politik. Ein Vorwurf, welcher allerdings auf Rebsamen, der
im Leben nie etwas Anderes war als Berufspolitiker, beginnend
mit dem Amt des Oberbürgermeisters von Dijon, noch stärker
zutrifft als auf Cambadélis. (Letzterer begann seine Karriere
dereinst als Studentenführer und Kader einer sektiererischen
Variante des französischen Trotzkismus, und steht heute auf dem
rechten Flügel der Sozialdemokratie. Am 17. September d.J. wurde
publik, dass sein Universitätsabschluss und Doktortitel
mutmaßlich gefälscht sind, ähnlich wie die eines gewissen von
und zu Guttenberg. Insofern ist der Zweig, auf welchem er sitzt,
wohl angesägt.)
Inzwischen eilten sowohl Premierminister
Valls als auch Wirtschaftsminister Emmanuel Macron zur
Unterstützung der Positionen Rebsamens herbei. Am Wochenende des
11./12. Oktober 14 ging Emmanuel Macron in die Offensive für
eine „weitergehende Reform der Arbeitslosenversicherung“,
da Letztere „zu teuer“ sei und die bisherigen
Reformen eben nicht weit genug gegangen seien.
Sozialer Kahlschlag?
Zu den weiteren ersten Maßnahmen
des neuen, teilweise neu-alten, Kabinetts gehörte auch die
Aufhebung des Mietspiegels, den die bis März 2014 amtierende
grüne Wohnungsministerin Cécile Duflot eingeführt hatte. Es
handelte sich um eine Mietpreisbindung, die für Obergrenzen bei
Neuvermietung sorgen und so die explodierenden Mietkosten
zumindest ein Stück weit eindämmen soll. Valls erklärte sie zum
Hindernis für den Wohnungsbau und setzt nun stattdessen auf
wirtschaftsliberale Rezepte wie massive Steuergeschenke für
Investoren, die Geld in den Bau stecken. Lediglich in der
Hauptstadt Paris soll der Mietspiegel „probeweise“ weiterhin
beibehalten werden. Martine Aubry – Bürgermeisterin von Lille,
der je nach Angaben zweit- oder dritt-teuersten Stadt in
Frankreich, sowie gescheiterte Anwärterin auf die Ämter von
Präsident und Premierminister, die Valls also ganz gerne einen
auswischt – protestierte öffentlichkeitswirksam. Und erreichte,
dass der Mietspiegel neben Paris auch in Lille weiterhin gilt.
Und perspektivisch in anderen Städten, deren BürgermeisterInnen
spezielle Anträge beim Premierminister darauf stellen und
dadurch eine Sonderverordnung erreichen. Überall anders wird er
abgeschafft. Ursprünglich hatte das Gesetz von Cécile Duflot
einen Mietspiegel in 28 bis 35 Ballungsräumen mit
„angespanntem Wohnungsmarkt“ einführen sollen.
Da die Regierung ferner noch weitere, bereits
vor der Kabinettsumbildung angekündigte „Reform“vorhaben in der
Hinderhand hält – eine gesetzliche Erleichterung von
Sonntagsarbeit, die Abschaffung der bislang alle fünf Jahre
stattfindenden Wahlen der Arbeitsgerichte durch sämtliche
Lohnabhängigen sowie Arbeitgeber, oder die mehrjährige
Aussetzung der Verpflichtung zur Einrichtung von Betriebsräten
in Unternehmen mit wachsender Mitarbeiterzahl -, könnte sie auch
in der eigenen Partei auf Hindernisse stoßen.
Nicht wenige ihrer Mitglieder ballen längst die Fäuste in der
Tasche über die Politik von Manuel Valls, der als Anwärter auf
die Präsidentschaftskandidatur der Sozialdemokratie bei der
Urabstimmung 2011 mit einer innerparteilichen Rechtsaußenposition
angetreten war und dabei nur 5,6 Prozent der Stimmen erreicht
hatte.
In La Rochelle weigerte sich der Ordnerdienst
der Partei, den Premierminister Valls zu schützen, und bei
seinem Auftritt wurde er bei der Nennung des Worts „Unternehmen“
ausgepfiffen. Kurz zuvor hatte Manuel Valls nämlich, als
Antrittsrede nach der Kabinettsumbildung, eine Ansprache bei der
Sommeruniversität des Arbeitgeberverbands MEDEF im Pariser
Umland gehalten. Dort proklamierte er seine „Liebe für die
Unternehmen“, und meinte dabei sicherlich nicht
vergesellschaftete Unternehmen unter demokratischer Kontrolle,
wie das Programm der Sozialistischen Partei sie dereinst in den
1970er Jahren noch vorsah. Die Vertreter des Kapitalverbands
hatten Valls stehende Ovationen gegeben. In seiner eigenen
Partei sehen diese Kumpanei jedoch nicht alle gerne, jedenfalls
nicht in dieser Ausmaß
und dieser Offenheit.
Als Reaktion auf die Pfiffe zeigte sich
allerdings der Chef der rechtssozialdemokratischen CFDT, eines
heute allgemein als regierungsnahe zu bezeichnenden
Gewerkschaftsdachverbands – des zweitstärksten hinter der
wesentlich progressiveren CGT -, Laurent Berger,
„entsetzt“. Wie seine Gewerkschaft dies seit
zwanzig Jahren gelernt habe, müssten auch die Sozialdemokraten
endlich das Privatkapital als freundlich zu behandelnden
Dialogpartner schätzen lernen. Was sie in der Praxis allerdings
ganz überwiegend auch tun. Allerdings hat selbst die CFDT, deren
Spitze in den letzten fünfzehn Jahren mitunter sogar die
Sozialistische Partei rechts überholt hatte, nun gegen die
geplanten verschärften Kontrollen für Erwerbslose protestiert.
Diese Ankündigung geht auch ihr zu weit.
Notverordnungsregime
Aufgrund der zumindest passiven Widerstände
auch in der eigenen Partei will die sozialdemokratisch geführte
Regierung nun zum Teil mit einer Art Notverordnungen regieren,
wie Premier Valls ankündigte. Es handelt sich bei diesen
ordonnances um Texte mit Gesetzeskraft, über die jedoch
nicht im Parlament debattiert und abgestimmt wird, sondern deren
Inhalt durch die Regierung im Alleingang und ohne Diskussion mit
den Abgeordneten festgelegt wird. Die Rolle des Parlaments
beschränkt sich bei dieser Prozedur darauf, durch ein
Bevollmächtigungsgesetz vorab dem Kabinett eine
Generalermächtigung zum Erlass solcher Verordnungen zu erteilen.
Unpopuläre Regierungen, die soziale Einschnitte planen, greifen
mitunter auf dieses besondere Gesetzgebungsverfahren zurück,
seitdem die Verfassung der Fünften Republik es zugelassen hat.
Es ist jedoch fundamental undemokratisch.
Als einzigen Trost versprach
Jean-Marie Le Guen, ein langjähriger rechtssozialdemokratischer
Politiker und derzeit Minister für parlamentarische
Angelegenheiten, die Pläne zur Ausweitung der Sonntagsarbeit
würden nicht per Notverordnung durchgedrückt. Ein schwacher
Trost, zumal er dieses
Vorgehen
bei vielen anderen Themen offen lässt.
Die CGT, als stärkster
Gewerkschaftsdachverband in Frankreich, ruft unterdessen zu
einem sozialen Protest- und Aktionstag am 16. Oktober dieses
Jahres auf.
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den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
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