Bernard Schmid berichtet aus Frankreich  

Marine Le Pen triumphiert
Rechtsextreme Ravier und Racheline werden Senatoren

10-2014

trend
onlinezeitung

Der FN zieht erstmals ins parlamentarische „Oberhaus“ ein. Dank der Stimmen zahlreicher, wohl konservativer Lokalpolitiker. Und die Pläne zur Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts sind nun endgültig tot.

Am frühen Abend des Sonntag, den 28. September 14 traf die Neuigkeit ein: Zum ersten Mal in seiner bislang 42jährigen Geschichte wird der französische Front National über Sitze im Senat, dem parlamentarischen „Oberhaus“ in Frankreich, verfügen. Die beiden seit März 2014 amtierenden rechtsextremen Bürgermeister Stéphane Ravier – Bezirksbürgermeister im „Siebten Sektor“ von Marseille, der die beiden Nordbezirke des 13. und des 14. städtischen Arrondissements umfasst – und David Rachline, Stadtoberhaupt in Fréjus, sind nunmehr auch zu Senatoren gewählt worden.


Damit fällt ein weiterer Sperrriegel für die institutionelle Präsenz der rechtsextremen Partei. Stéphane Ravier verkündete noch am Sonntag Abend gleich gro
ßspurig: „Wir haben alle Türen aufgestoßen! Nun gilt es nur noch eine einzige Tür zu öffnen: die des Elysée!“, also des französischen Präsidentenpalasts. Da hatte er ein bisschen zu laute Töne gespuckt, denn hinter eine ganze Reihe von Türen durften die französischen Neofaschisten bislang noch nicht gucken: Weder hatten sie bislang in einem Ministerium, noch in einem Staatssekretariat oder vergleichbaren Regierungsinstitutionen Platz genommen. Es gäbe für ihn also noch einige Zitadellen zu erklimmen.


Dennoch stellt die Überwindung der Au
ßenmauern des Pariser Senats eine neue Grenzüberschreitung dar. In der französischen Nationalversammlung, dem Ton angebenden parlamentarischen „Unterhaus“, sind bereits seit der letzten Wahl im Juni 2012 insgesamt drei rechtsextreme Abgeordnete vertreten. (Und zwar ein Mitglied des FN: Marion Maréchal-Le Pen; ein parteiloser, jedoch mit Unterstützung des FN gewählter Parlamentarier: der Anwalt Gilbert Collard; und ein Vertreter der ebenfalls rechtsextremen Kleinpartei Ligue du Sud: Jacques Bompard, Bürgermeister von Orange seit 1995, der 2005 den FN verließ.) Der Einzug in die Nationalversammlung wird einer Partei wie dem FN durch die Anwendung des Mehrheitswahlrechts erschwert: In jedem einzelnen Wahlkreis müssen die jeweiligen Bewerber/innen in der Stichwahl mindestens eine relative Mehrheit erzielen, also bei zwei Kandidaturen in der Stichwahl 50 % plus x, bei drei aufrecht erhaltenen Kandidaturen mindestens 33,3 % plus x.

Beim Senat liegen die Dinge anders: Dessen Mitglieder werden nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, jedoch „indirekt“, also nicht durch die Bevölkerung, sondern durch Wahlmänner und –frauen. Letztere werden offiziell als ,grands électeurs‘ („große Wähler“) bezeichnet und repräsentieren die so genannten „Gebietskörperschaften“ oder collectivités territoriales: Regionen, Départements, Kommunen usw. In der Praxis sind 95 % von ihnen Kommunalparlamentarier/innen. Die Aufgabe des Senats besteht darin, einerseits für eine Berücksichtigung der Interessen dieser „Gebietskörperschaften“ im Staat zu sorgen, und andererseits zusammen mit der Nationalversammlung im Gesetzgebungsverfahren mitzuwirken. Im Konfliktfall, also bei Uneinigkeit zwischen Nationalversammlung und Senat, hat – nach einigen Vermittlungsversuchen, Hin- und Retourkutschen - grundsätzlich die Erstgenannte das letzte Wort, und der Senat geht notfalls leer aus. Mit einer Ausnahme, und zwar bei verfassungsändernden Gesetzen. Übrigens, als Nebeneffekt der Wahl von diesem Sonntag ist eine durch die sozialdemokratische Regierung vorgeblich geplante Verfassungsänderung nun wohl definitiv beerdigt, nämlich die (2012 durch François Hollande versprochene) Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer/innen.

Die Umsetzung dieser Reform, welche vor Hollande bereits durch seinen „sozialistischen“ Amtsvorgänger François Mitterrand 1981 in Aussicht gestellt worden war, würde eine Verfassungsänderung benötigen. Dafür ist eine Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments, sowie insgesamt eine Drei-Fünftel-Mehrheit unter den Mitgliedern beider Kammern erforderlich. An der 60-Prozent-Marke klemmte es bislang bereits, denn es fehlten der sozialdemokratischen Regierung dafür an rund dreißig Parlamentarier/inne/n, von insgesamt knapp 1.000 in beiden Kammern. Diese fehlenden Stimmen hätte sie sich in der politischen „Mitte“ zu besorgen versucht, wo bürgerliche Abgeordnete (insbesondere jene der „Zentristen“) sitzen, deren Ansichten zu vielen gesellschaftspolitischen Fragen gemäßigter ausfallen als jene der stärksten Oppositionspartei UMP. François Hollande hatte eine solche Reform bzw. den Versuch dazu vor einigen Monaten für 2016, das letzte Jahr seiner Amtszeit, auf den Kalender gesetzt. Daraus wird nun nichts: Seit diesem Sonntag weist der Senat wieder eine konservative Mehrheit auf, die davon definitiv nichts wissen will. Der Bürgerblock unter Dominanz der UMP hat nun wieder 15 Sitze Vorsprung vor der vormaligen „linken“ Mehrheit.

In Wirklichkeit hat es allerdings überhaupt nur einmal in der Geschichte der 1958 gegründeten Fünften Republik eine „linke“ Senatsmehrheit gegeben, und zwar seit der Wahl vom 25. September 2011. Bis dahin hatten die Zusammensetzung des Senats und die Einteilung der Wahlkreise, die vor allem ländlichen Zonen ein strukturelles Übergewicht bei der Senatorenwahl verleiht, für eine strukturelle konservative Mehrheit gesorgt. Das Bröckeln des in der Krise befindlichen „politischen Modells Nicolas Sarkozy“, am Ende der Amtszeit des rechten Präsidenten 2011/12 – im Augenblick versucht Sarkozy nun intensiv sein Comeback, besonders seit seinem TV-Auftritt am 22. September 14 – hatte damals für eine Erosion der konservativen Mehrheit geführt. Erstmals konnten die „Links“parteien mit oder ohne Anführungsstriche im Senat den Ton angeben. Allerdings funktionierte dies nur ein knappes Jahr lang. Denn nach der Wahl François Hollandes zum Präsidenten, im Frühsommer 2012, zerfiel das Stimmbündnis aus Sozialdemokraten und „Linksfront“ (ungefähr vergleichbar mit der Partei DIE LINKE in Deutschland, eine Allianz aus französischer KP und Linkssozialist/inn/en); es hatte nur in der Opposition funktioniert. Angesichts der Gesetzesvorlagen, die von der Regierung unter Hollande kamen, stimmte die „Linksfront“ nun oftmals mit der bürgerlichen Opposition gegen die Texte, allerdings in aller Regel aus diametral entgegengesetzten Motiven. Die Sozialdemokratie war damit im „Oberhaus“ nicht länger durchsetzungsfähig. Dass die Mehrheitsverhältnisse im Senat bei der Wahl im September 2014 erneut umkippen würden, war im Übrigen vorauszusehen. Denn die Kommunalwahlen im März dieses Jahres hatten dafür gesorgt, dass die Sozialdemokratie zahllose Rathäuser und Mehrheiten in Kommunalparlamenten verlor. Dies änderte wiederum die Zusammensetzung des Wahlkörpers für die Senatswahl. Aus all diesen Gründen wurde also allgemein damit gerechnet, dass das Schwergewicht im Senat erneut zugunsten der politischen Rechten kippen würde. Damit sind allerdings auch die Pläne für eine Einführung des „Ausländerwahlrechts“ nunmehr definitiv tot und begraben. Denn selbst wenn er es ernsthaft betreiben wollte, wird François Hollande nicht im Traum daran denken können, nunmehr eine mehrheitliche Unterstützung im Senat dafür zu finden.

Der FN: über seine eigenen Kräfte hinaus erstarkt

Überraschend, jedenfalls relativ überraschend, ist hingegen das örtlich starke Abschneiden des Front National. Es war von vielen Beobachter/inne/n durchaus damit gerechnet worden, dass die rechtsextreme Partei vor allem in den Verwaltungsbezirken von Marseille (Bouches-du-Rhône), Avignon (Vaucluse) und Toulon (Var) Zuspruch unter den Wahlmännern und –frauen erhalten und eventuell Vertreter in den Senat entsenden könnte. Die Anziehungskraft des FN auf Wahlleute, die nicht selbst der Partei angehören, fiel jedoch höher aus, als vielfach erwartet worden war.

Hätte der FN nur auf seine eigenen Wahlleute bauen müssen, dann wäre es dennoch eng geworden für seine Wahlchancen. Denn zwar werden die Senatoren nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt. Doch steht jedem Bezirk nur eine begrenzte Anzahl von Sitzen zur Verfügung, dem Département Var beispielsweise vier und dem Département Bouches-du-Rhône insgesamt acht. Dies bedeutet, dass etwa im Bezirk Var einen Sitz nur erhält, wer mindestens ein Viertel der Wahlleute auf seine Seite ziehen kann – oder jedenfalls mindestens ein Fünftel, denn eine Reihe von Stimmen fallen im Verfahren „unter den Tisch“. Einen solchen Anteil zu erreichen, ist jedoch für den Front National eher schwierig. Zwar verfügt er über einige Kommunalparlamentarier (im Département Var regiert er drei Rathäuser: Le Luc, Cogolin und Fréjus), doch nicht genügend, um auf die erforderliche Anzahl von mehreren hundert Wahlleuten zu kommen. In Kommunen, welche die Partei nicht regiert, kommt sie in der Regel nur auf wenige Kommunalparlamentarier. Denn bei den Rathauswahlen streicht jene Liste, die in Führungsposition kommt, allein die Hälfte der Sitze ein, bevor der Rest auf alle Listen (einschließlich jener der Wahlgewinner/innen) verteilt wird. Und wer im ersten Wahlgang unter zehn Prozent der Stimmen erhält, geht vollkommen leer aus, falls es zu einer Stichwahl kommt. Im Übrigen stellte der FN zu den Kommunalwahlen im März 2014 nicht überall, nicht in allen Kommunen eigene Listen auf.

In konkreten Zahlen: Es existieren in Frankreich insgesamt rund 187.000 Wahlleute, die einer Wahlpflicht unterliegen und bei Stimmenthaltung eine Geldstrafe zahlen müssen. Unter ihnen stimmten aber am vergangenen Sonntag „nur“ 87.534 ab, denn der Senat wird jeweils nur (alle drei Jahre) teilerneuert: Es wird je ein Drittel oder die Hälfte der Senatoren für ein Mandat von neunjähriger Dauer gewählt. Dieses Mal standen 179 von insgesamt 348 Senatssitzen zur Neuwahl zur Verfügung. Allerdings fielen einige der solcherart erneuerten Mandate in Bezirke, in denen der FN überdurchschnittlich stark verankert ist, vor allem die drei genannten Départements in Südostfrankreich.

Das Département Var weist insgesamt ungefähr 1.800 Wahlleute auf. Unter ihnen gehören 215 dem FN an. Doch am Sonntag erhielt dessen 26jähriger Kandidat David Rachline, Bürgermeister in Fréjus an der Côte d’Azur, 401 Stimmen. Und im Département Bouches-du-Rhône (Marseille und Umland) gehören 210 Wahlleute dem FN an. Sein Kandidat, der 44jährige Stéphane Ravier, strich jedoch insgesamt 431 Stimmen ein.

Die übrigen Voten kommen wohl überwiegend von konservativen und rechtsbürgerlichen, sei es parteilosen oder parteigebundenen, Kommunalverordneten. Ihre Stimmen konnten die Rechtsextremen u.a. mit einer Agitation für „Lokalinteressen“ respektive den Appel an Lokalegoismen anlocken. Ravier führte beispielsweise eine Kampagne gegen die Zusammenlegung von Marseille und Aix-en-Provence zu einer gemeinsamen kommunalpolitischen Konstruktion, der „Metropole Marseille/Aix“. - Auch in Bezirken, die nicht zu den traditionellen Hochburgen der extremen Rechten zählen wie Var, konnten FN-Bewerber zahlreiche Stimmen von Wahlleuten außerhalb der eigenen Reihen auf sich ziehen. Im Département Ain (bei Lyon) verfügte die Partei über 3 Wahlleute, erzielte jedoch 68 Stimmen. Im Bezirk Aisne in der Picardie waren es 37 Wahlleute des Front National und 167 Stimmen.

Nachdem der Front National bislang bereits die jüngste Abgeordnete in der französischen Nationalversammlung in seinen Reihen zählte, die 24jährige Jurastudentin Marion Maréchal-Le Pen – die Enkelin von Jean-Marie Le Pen -, weist er nun auch den mit Abstand jüngsten Senator auf, in Gestalt von David Rachline. Traditionell gilt der Senat als Domäne mittelalter bis älterer Männer, und als eine Art Rentenanstalt für abgehalfterte und/oder in die Jahre gekommene Berufspolitiker. David Rachline kündigte am Sonntag Abend an, die Rolle seiner Partei werde darin bestehen, frischen Wind in die Moder ausströmende Institution des „Oberhauses“ zu bringen, „indem wir die kontroverse Debatte ermöglichen“, etwa „zu wirtschaftspolitischen Themen“.

Auch wenn er im Augenblick rechnerisch nur 0,57 der Senatsmitglieder stellt – zwei Senatoren von 348 -, könnte er doch periodisch einige Aufmerksamkeit dort erregen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.