In
den meisten Ländern des kapitalistischen Europa entwickelt die
reformistische — besonders sozialdemokratische — Strömung seit
langem „revolutionäre" Positionen im Bereich der Bodenpolitik,
indem sie das Prinzip des Privateigentums an städtischem Grund
und Boden selbst in Frage stellen.
Das ist der „Munizipalsozialismus" der II. Internationale und
der englischen Labour Party zu Beginn des Jahrhunderts. Das ist
die Praxis der großen, sozialdemokratisch geführten
Stadtverwaltungen in Schweden und in der Bundesrepublik. Das
ist in Frankreich das Thema der Munizipalisierung des
Städtischen Bodens, das in verschiedenen Formen von der S.F.I.O.
(Section Francaise del'Internationale Ouvriere) 1963(4),
der C.F.D.T. (Confederation Franchise Demo-cratique du Travail)
1965(5), der P.S.U. (Parti Socialiste
Unifie ) 1967(6)
vorgebracht und von der P.S. (Parti Socialiste) 1972 wieder
aufgegriffen wurde: „Für die Sozialisten muß der Faktor Boden
aus der Marktwirtschaft herausgenommen und jegliches Eigentum an
städtischem Boden rechtzeitig an die Allgemeinheit zurückgegeben
werden."(7) Die verschiedenen
Projekte der Munizipalisierung des Grund und Bodens, die der
französische Reformismus vorgelegt hat, und die effektiven
Erfahrungen der europäischen sozialdemokratischen Parteien
basieren auf einem gemeinsamen Prinzip: Die „Bodenspekulation"
kann beseitigt werden, wenn ihr Objekt, die bebaubaren
Grundstücke, dem Markt, dem „freien Spiel der Kräfte" entzogen
wird. Und dies soll im Rahmen des staatsmonopolistischen
Kapitalismus selbst geschehen, ohne daß es notwendig wäre, mit
der Herrschaft des Großkapitals über das nationale Leben und
insbesondere den Immobiliensektor Schluß zu machen. So schlägt
1972 die Sozialistische Partei ein Bodengesetz vor
(8), das ganz klar die Gedanken formuliert, die
derartigen Positionen in der Bodenfrage zugrundeliegen. Welches
sind die wichtigsten Bestimmungen?
Innerhalb des Urbanisierungsgebiets besitzt die öffentliche Hand
ein Vorkaufsrecht. Dieses sowie die Enteignung wird auf
der Basis des Werts ausgeübt, den das Grundstück ein Jahr vor
der Schaffung des Gebiets hatte. Diese Bodenkäufe werden durch
eine Grundsteuer finanziert, die jährlich von den
Grundeigentümern gezahlt wird und die sich nach dem
Verkehrswert ihrer bebauten oder unbebauten Grundstücke richtet.
So würde die öffentliche Hand nach und nach das gesamte
erforderliche Bauland erwerben. Diese Grundstücke können dann
nicht als Volleigentum an Private verkauft werden,
sondern nur für eine begrenzte Dauer vermietet oder überlassen
werden.
Welche Konsequenzen hätte dies unter den Bedingungen der
Herrschaft der Monopole? Im wesentlichen die, daß die
öffentliche Hand den für die Verwertung der privaten
Baukapitalien, insbesondere des Monopolkapitals, notwendigen
Baugrund zur Verfügung stellt. Die Gemeinde kauft den Grund und
Boden, beseitigt das Bodenhindernis für das Kapital zu einem
Preis, der nicht die gesamten lagebedingten Extraprofite
einschließt. Die Gemeinde nimmt Infrastrukturinvestitionen vor,
und bei den gegenwärtigen politischen Verhältnissen ist absolut
nicht sichergestellt, daß sie dem Kapital die Finanzierung der
Investitionen auferlegt. Schließlich verkauft die Gemeinde
nicht, sondern sie verpachtet. Zu welchem
Preis? Zu einem Pachtzins, der so hoch ist wie die Grundsteuer,
d. h. ein oder zwei Prozent der Grundstückskosten beträgt. So
eignet sich der Kapitalist, der das Gebäude baut oder nutzt, den
größten Teil der lagebedingten Extraprofite an, unter
Berücksichtigung ihrer Höhe während des Zeitpunkts des Baues und
vor allem danach, wenn sie in der ganzen Zeit der mehrere
Jahrzehnte währenden kapitalistischen Nutzung gestiegen sein
werden. Die Immobilienspekulation hat nämlich nicht das
Grundstück zum Objekt, sondern den Extraprofit: Sie
kann sich sehr wohl ohne Privateigentum an Boden entwickeln,
sobald dieser kapitalistisch genutzt wird.
Das
Immobilien-Großkapital erprobt — allerdings sehr vorsichtig —
bereits heute in Frankreich das System des Bauens auf
öffentlichem Boden auf Pachtbasis oder der Nutzungskonzession
für den Grund und Boden.
In
anderen europäischen kapitalistischen Ländern vollzieht sich die
Spekulation hauptsächlich über diesen Modus.
Das
Zentrum von Stockholm ist Eigentum der Stadtverwaltung. Die
Hötorget-Türme sind jedoch in ganz und gar kapitalistischer
Weise von den schwedischen Banken gebaut und genutzt worden: Die
lagebedingten Extraprofite haben sich derartig erhöht, daß sie
in keinem Verhältnis zu der an die Stadt gezahlten Bodenpacht
stehen. Seit einem Jahrhundert funktioniert in Großbritannien
das Erbpacht-System (long-lease), das bei städtischen Bauten
sowohl von den privaten Großgrundbesitzern als auch von den
lokalen Behörden praktiziert wird: Es ist ein bevorzugter Modus
der Entwertung des Grundeigentums zugunsten des Finanzkapitals
geworden, und die Spekulation blüht weiterhin auf dem Markt der
Pachtverträge. Ihr Objekt ist nicht das Eigentum an Grund und
Boden, sondern das an Extraprofit.
Zwar
würde die Realisierung der reformistischen Bodenpolitik in
Frankreich das Großkapital zu gewissen Anpassungen zwingen. Im
Gegenzug würde es aber zwei grundlegende Vorteile daraus ziehen,
besonders im Hinblick auf das Problem, das mit der Krise des
staatsmonopolistischen Kapitalismus gestellt ist. Erstens die
Vernichtung des Grundbesitzmonopols durch den Staatsapparat —
eine Voraussetzung für einen Aufschwung der Produktivkräfte, für
die Konzentration und den monopolistischen Zugriff in der
Bauindustrie, Bedingung auch für das Ende des Transfers eines
Teils des gesellschaftlichen Mehrprodukts auf die
nicht-monopolistischen Schichten. Zweitens die freie Aneignung
des Extraprofits ohne Immobilisierung von Geldkapital — eine
Voraussetzung für die massenhafte Freisetzung von
Monopolkapitalien, deren Mobilität in der Periode der Krise eine
Grundbedingung für Rentabilität wird.
Der
kleine und mittlere städtische Grundbesitz würde dagegen hart
getroffen, ohne daß er eine Gegenleistung erhielte. Insbesondere
die Grundsteuer würde für ihn eine versteckte Entwertung
bedeuten: Sie führt zum Zwangsverkauf von Liegenschaften, die
für die Eigentümer Gebrauchswerte oder Produktionsinstrumente
sind, und deren Verkehrswert aufgrund ihrer Lage hoch sind.
Zudem läßt sie die öffentliche Hand am Spekulationsprozeß
teilnehmen, den die Existenz des privaten Immobiliensektors
weiterhin aufrechterhält, und der sich auf die
munizipalisierten wie die nicht-munizipalisierten Grundstücke
erstreckt. So siedeln diese Vorschläge die Wurzel der
städtischen Krise nicht im Extraprofit und in der
monopolistischen Überakkumulation an, sondern in einem ihr
äußeren Hindernis: dem Grundbesitz. Die Spekulation, die
Verschwendung, die Irrationalität auf gesamtgesellschaftlicher
Ebene werden nicht direkt dem Großkapital und seinen
Widersprüchen zugeschrieben: Sie liegen allenfalls in seinen
„Mißbräuchen" begründet. Der Staat endlich kann diese
Hindernisse und diese Mißbräuche bekämpfen, ohne daß sein
Klassencharakter sich ändern müßte. Das ist die theoretische und
politische Grundlage dieses reformistischen Vorschlags: die
Munizipalisierung des Grund und Bodens.
Fußnoten
4) Gesetzesvorschlag Nr. 782 der sozialistischen Fraktion in der
Nationalversammlung am 17. Dezember 1963.
5) Diese Positionen sind insbesondere dargestellt in: Louis
Houdeville - Pour une civüisation de lliabitat, Paris, Ed.
Ouvrieres, 1969, S. 345-354.
6) Gesetzesvorschlag vom 16. Juni 1967, der die seit 1960
entwickelten Positionen wieder aufgreift.
7) Changer La Vie, Flammarion, 1972, S. 140.
8) Vorschlag eines Bodengesetzes der sozialistischen Fraktion
vom 28. Juni 1972, Darlegung der Gründe S. 2.
Editorische Hinweise
Der Text ist ein
Auszug aus: Bob Balkan und Pierre Choubersky:
Immobilienspekulation. Falsche und richtige Lösungen., in:
Marxismus Digest 26, Nr. 2/1976 Ffm, S. 67-70
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