Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
Munizipalsozialismus
Die Illusionen des Reformismus

von Bob Balkan und Pierre Choubersky

10-2014

trend
onlinezeitung

In den meisten Ländern des kapitalistischen Europa entwickelt die refor­mistische — besonders sozialdemokratische — Strömung seit langem „revolutio­näre" Positionen im Bereich der Bodenpolitik, indem sie das Prinzip des Privat­eigentums an städtischem Grund und Boden selbst in Frage stellen.
Das ist der „Munizipalsozialismus" der II. Internationale und der englischen Labour Party zu Beginn des Jahrhunderts. Das ist die Praxis der großen, sozial­demokratisch geführten Stadtverwaltungen in Schweden und in der Bundes­republik. Das ist in Frankreich das Thema der Munizipalisierung des Städtischen Bodens, das in verschiedenen Formen von der S.F.I.O. (Section Francaise del'Internationale Ouvriere) 1963(4), der C.F.D.T. (Confederation Franchise Demo-cratique du Travail) 1965(5), der P.S.U. (Parti Socialiste Unifie ) 1967(6) vorge­bracht und von der P.S. (Parti Socialiste) 1972 wieder aufgegriffen wurde: „Für die Sozialisten muß der Faktor Boden aus der Marktwirtschaft herausgenommen und jegliches Eigentum an städtischem Boden rechtzeitig an die Allgemeinheit zurückgegeben werden."(7) Die verschiedenen Projekte der Munizipalisierung des Grund und Bodens, die der französische Reformismus vorgelegt hat, und die effektiven Erfahrungen der europäischen sozialdemokratischen Parteien basieren auf einem gemeinsamen Prinzip: Die „Bodenspekulation" kann beseitigt werden, wenn ihr Objekt, die bebaubaren Grundstücke, dem Markt, dem „freien Spiel der Kräfte" entzogen wird. Und dies soll im Rahmen des staatsmonopolistischen Kapitalismus selbst geschehen, ohne daß es notwendig wäre, mit der Herrschaft des Großkapitals über das nationale Leben und insbesondere den Immobilien­sektor Schluß zu machen. So schlägt 1972 die Sozialistische Partei ein Boden­gesetz vor (8), das ganz klar die Gedanken formuliert, die derartigen Positionen in der Bodenfrage zugrundeliegen. Welches sind die wichtigsten Bestimmungen?

Innerhalb des Urbanisierungsgebiets besitzt die öffentliche Hand ein Vor­kaufsrecht. Dieses sowie die Enteignung wird auf der Basis des Werts ausgeübt, den das Grundstück ein Jahr vor der Schaffung des Gebiets hatte. Diese Boden­käufe werden durch eine Grundsteuer finanziert, die jährlich von den Grund­eigentümern gezahlt wird und die sich nach dem Verkehrswert ihrer bebauten oder unbebauten Grundstücke richtet. So würde die öffentliche Hand nach und nach das gesamte erforderliche Bauland erwerben. Diese Grundstücke können dann nicht als Volleigentum an Private verkauft werden, sondern nur für eine begrenzte Dauer vermietet oder überlassen werden.

Welche Konsequenzen hätte dies unter den Bedingungen der Herrschaft der Monopole? Im wesentlichen die, daß die öffentliche Hand den für die Verwer­tung der privaten Baukapitalien, insbesondere des Monopolkapitals, notwendigen Baugrund zur Verfügung stellt. Die Gemeinde kauft den Grund und Boden, beseitigt das Bodenhindernis für das Kapital zu einem Preis, der nicht die gesam­ten lagebedingten Extraprofite einschließt. Die Gemeinde nimmt Infrastruktur­investitionen vor, und bei den gegenwärtigen politischen Verhältnissen ist absolut nicht sichergestellt, daß sie dem Kapital die Finanzierung der Investitio­nen auferlegt. Schließlich verkauft die Gemeinde nicht, sondern sie verpachtet. Zu welchem Preis? Zu einem Pachtzins, der so hoch ist wie die Grundsteuer, d. h. ein oder zwei Prozent der Grundstückskosten beträgt. So eignet sich der Kapitalist, der das Gebäude baut oder nutzt, den größten Teil der lagebedingten Extraprofite an, unter Berücksichtigung ihrer Höhe während des Zeitpunkts des Baues und vor allem danach, wenn sie in der ganzen Zeit der mehrere Jahrzehnte währenden kapitalistischen Nutzung gestiegen sein werden. Die Immobilien­spekulation hat nämlich nicht das Grundstück zum Objekt, sondern den Extra­profit: Sie kann sich sehr wohl ohne Privateigentum an Boden entwickeln, sobald dieser kapitalistisch genutzt wird.

Das Immobilien-Großkapital erprobt — allerdings sehr vorsichtig — bereits heute in Frankreich das System des Bauens auf öffentlichem Boden auf Pacht­basis oder der Nutzungskonzession für den Grund und Boden.

In anderen europäischen kapitalistischen Ländern vollzieht sich die Spekula­tion hauptsächlich über diesen Modus.

Das Zentrum von Stockholm ist Eigentum der Stadtverwaltung. Die Hötorget-Türme sind jedoch in ganz und gar kapitalistischer Weise von den schwedischen Banken gebaut und genutzt worden: Die lagebedingten Extra­profite haben sich derartig erhöht, daß sie in keinem Verhältnis zu der an die Stadt gezahlten Bodenpacht stehen. Seit einem Jahrhundert funktioniert in Großbritannien das Erbpacht-System (long-lease), das bei städtischen Bauten sowohl von den privaten Großgrundbesitzern als auch von den lokalen Behörden praktiziert wird: Es ist ein bevorzugter Modus der Entwertung des Grundeigen­tums zugunsten des Finanzkapitals geworden, und die Spekulation blüht weiter­hin auf dem Markt der Pachtverträge. Ihr Objekt ist nicht das Eigentum an Grund und Boden, sondern das an Extraprofit.

Zwar würde die Realisierung der reformistischen Bodenpolitik in Frankreich das Großkapital zu gewissen Anpassungen zwingen. Im Gegenzug würde es aber zwei grundlegende Vorteile daraus ziehen, besonders im Hinblick auf das Problem, das mit der Krise des staatsmonopolistischen Kapitalismus gestellt ist. Erstens die Vernichtung des Grundbesitzmonopols durch den Staatsapparat — eine Voraussetzung für einen Aufschwung der Produktivkräfte, für die Konzen­tration und den monopolistischen Zugriff in der Bauindustrie, Bedingung auch für das Ende des Transfers eines Teils des gesellschaftlichen Mehrprodukts auf die nicht-monopolistischen Schichten. Zweitens die freie Aneignung des Extra­profits ohne Immobilisierung von Geldkapital — eine Voraussetzung für die massenhafte Freisetzung von Monopolkapitalien, deren Mobilität in der Periode der Krise eine Grundbedingung für Rentabilität wird.

Der kleine und mittlere städtische Grundbesitz würde dagegen hart getroffen, ohne daß er eine Gegenleistung erhielte. Insbesondere die Grundsteuer würde für ihn eine versteckte Entwertung bedeuten: Sie führt zum Zwangsverkauf von Liegenschaften, die für die Eigentümer Gebrauchswerte oder Produktionsinstru­mente sind, und deren Verkehrswert aufgrund ihrer Lage hoch sind. Zudem läßt sie die öffentliche Hand am Spekulationsprozeß teilnehmen, den die Existenz des privaten Immobiliensektors weiterhin aufrechterhält, und der sich auf die munizipalisierten wie die nicht-munizipalisierten Grundstücke erstreckt. So siedeln diese Vorschläge die Wurzel der städtischen Krise nicht im Extraprofit und in der monopolistischen Überakkumulation an, sondern in einem ihr äußeren Hindernis: dem Grundbesitz. Die Spekulation, die Verschwendung, die Irrationalität auf gesamtgesellschaftlicher Ebene werden nicht direkt dem Großkapital und seinen Widersprüchen zugeschrieben: Sie liegen allenfalls in seinen „Mißbräuchen" begründet. Der Staat endlich kann diese Hindernisse und diese Mißbräuche bekämpfen, ohne daß sein Klassencharakter sich ändern müßte. Das ist die theoretische und politische Grundlage dieses reformistischen Vorschlags: die Munizipalisierung des Grund und Bodens.

 

Fußnoten

4) Gesetzesvorschlag Nr. 782 der sozialistischen Fraktion in der Nationalversammlung am 17. Dezember 1963.
5) Diese Positionen sind insbesondere dargestellt in: Louis Houdeville - Pour une civüisation de lliabitat, Paris, Ed. Ouvrieres, 1969, S. 345-354.
6) Gesetzesvorschlag vom 16. Juni 1967, der die seit 1960 entwickelten Positionen wieder aufgreift.
7) Changer La Vie, Flammarion, 1972, S. 140.
8) Vorschlag eines Bodengesetzes der sozialistischen Fraktion vom 28. Juni 1972, Dar­legung der Gründe S. 2.

Editorische Hinweise

Der Text ist ein Auszug aus: Bob Balkan und Pierre Choubersky: Immobilienspekulation. Falsche und richtige Lösungen., in: Marxismus Digest 26, Nr. 2/1976 Ffm, S. 67-70