Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
Politischer Alltag
Fakten und Thesen zur Berliner Wohnungsfrage

von Sebastian Gerhardt

10-2013

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DIE LINKE. Berlin widmete dem Thema Wohnen vor dem Landesparteitag am 23. November eine ganztägige Schwerpunktveranstaltung am Sa 19.10.2013. Sebastian Gerhardt wurde zu dieser Veranstaktung eingeladen und legte dort das nachstehende Papier zur Diskussion vor.

Der Berliner Wohnungsmarkt: Fakten

Die Zahl der Wohnungen in Berlin hat von 1991 bis 2011 von 1,72 Millionen auf knapp 1,9 Millionen zugenommen. Die durchschnittliche Größe einer Wohnung beträgt 72 qm. Rein rechnerisch kommen auf eine/n Einwohner/in etwa 40 qm: in Eigentümerwohungen 52 qm, in Mietwohnungen knapp 40 qm. Gut 85 % der Berliner Wohnungen (=1,63 Millionen) sind Mietwohnungen. Die Mieteinnahmen (NKM) liegen pro Jahr bei gut 6 Milliarden Euro.

Zu den Eigentumsverhältnissen der Mietwohnungen meldet die Investitionsbank Berlin (IBB): 72,5 % privat// 11,4 % genossenschaftlich// 16,3 % öffentlich. Etwa 40 % der Mietwohnungen gehören Unternehmen, die im BBU organisiert sind. Darunter waren auch die sechs städtischen Wohnungsgesellschaften, die 2011 folgende Bestände hatten: degewo: 61.300// GEWOBAG: 51.600// HOWOGE: 51.300// Stadt und Land: 39.600// Gesobau: 37.000// WBM: 28.200.

Die meisten Berliner Wohnungen stammen aus der Nachkriegszeit (1.091.000= 58 %). Aus dem Zeitraum 1918-1948 ganze 15 % (=287.000). Vor 1918 wurden 27 % der Berliner Wohnungen gebaut (=515.900 ).

Im Jahr 2010 betrug die durchschnittliche Nettokaltmiete (NKM) 5,23 Euro/qm, 2002 waren es noch 4,29, 2006 schon 4,80 Euro/qm. Von 2002 bis 2006 nahm die Einwohnerzahl Berlins praktisch nicht zu – dennoch fiel der Mietanstieg stärker aus, als zwischen 2006 und 2010.

Wie bundesweit liegen die Mietsteigerungen im Bestand nicht über der Preissteigerungsrate. Trotzdem stieg die Belastung der Haushalte durch die NKM von 20 auf 23 Prozent der Haushaltseinkommen (Bruttokaltmiete: 29 Prozent): Die geringe Zunahme der Haushaltseinkommen – der Rückgang der Realeinkommen für die Mehrheit – schlägt sich darin nieder. Noch ganz anders sieht es in Erwerbslosenhaushalten aus: “Diese Haushalte geben im Durchschnitt 31 % ihres Nettoeinkommens für die Nettokaltmiete aus. Dafür sind jedoch weniger die gestiegenen Mieten ursächlich, sondern die Änderungen im Sozialsystem mit Einführung der Hartz-IV-Gesetze 2005.”(IBB)

Viel stärker als die Bestands- stiegen die Angebotsmieten. Sie lagen bei 7,40 Euro/qm (2011), nach einer Steigerung um 14 Prozent in nur einem Jahr. Die soziale Anspannung auf dem Berliner Wohnungsmarkt zeigt sich im Rückgang der Wohnfläche pro Person von 2006 bis 2010: Familien ziehen nicht um, obwohl die Zahl der Familienmitglieder zunimmt.(IBB 2012) Dazu passt, daß die Fluktuation so niedrig ist wie noch nie: nach Angaben des BBU betrug sie 2012 nur 7 Prozent

Die Berliner Schuldenberatung trifft in ihrer Arbeit seit Jahren auf eine unveränderte Situation: etwa 30 Prozent der Klienten haben Mietschulden (durchschnittliche Höhe Ende 2012: 4.500 Euro). Der Befund des BBU ist anders: bei ihren Berliner Mitgliedsunternehmen schlugen Ende 2005 noch Mietschulden in Höhe von 142,4 Millionen Euro zu Buche, Ende 2011 waren es 63,3 Millionen Euro.

Die Prognosen des Senates gehen von einem Bevölkerungswachstum von 250.000 Menschen bis 2030 aus, und leiten daraus einen Neubaubedarf von 137.000 Wohnungen bis 2025 ab: 10.000 pro Jahr. (Selbst bei einem äußerst moderaten Verschleiß von nur 0,5 Prozent gehen pro Jahr 8.500 Wohnungen im Bestand verloren.) Angepeilte NKM: 11 Euro/qm. Nur 1.000 Wohnungen sollen im geförderten Bereich errichtet werden. Mit einer Senkung der Mietkostenbelastung in menschenfreundlichen Behausungen haben diese Pläne nichts zu tun.

Quellen: Aktuelle Daten finden sich beim Statistischen Landesamtes Berlin-Brandenburg, im Wohnungsmarktbericht der IBB und im Material zur Jahrespressekonferenz des BBU. Im IBB Wohnungsmarktbericht 2012 gibt es eine Auswertung des bundesweitenMikrozensus Wohnen aus dem Jahr 2010 für Berlin. Die offizielle Berichterstattung der Bundesregierung bildet der Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland, zuletzt vom Dezember 2012.

Konfliktfelder und Handlungsmöglichkeiten: Thesen

1. Politik und Medien haben die Wohnungsfrage wiederentdeckt. Alle Parlamentsparteien reden über Mietsteigerungen, laden sich Experten und zuweilen auch Vertreter von Betroffen ein. Sogar der totgeglaubte Slogan “sozialer Wohnungsbau” ist zurückgekehrt. Doch der Druck auf dem deutschen Wohnungsmarkt ist das Ergebnis einer politisch gewollten Entwicklung: Hartz IV. Dieses Programm sollte die Reallöhne senken. Damit wurden für Unternehmen Wohnungsbewirtschaftung wie Neubau für normale Nutzer weniger attraktiv: das Geld fehlte.

2. Zugleich wurde im Zuge des Umbaus der Staatsfinanzen die Wohnungsbauförderung gesenkt und die Privatisierung der öffentlichen Wohnungsbestände vorangetrieben. Das gilt besonders für Berlin, wo die Finanz- und Immobilienkrise mit der Pleite der Bankgesellschaft Berlin schon im Jahr 2001 ausgebrochen war. Zehn Jahre lang war keine Parlamentspartei bereit, die Wohnungsfrage aufzugreifen, für alle hatte die “Haushaltssanierung” Vorrang. Im Ergebnis habe wir steigende Mieten und stagnierende Haushaltseinkommen. Es ist nicht zu erwarten, daß die Charmeoffensive der Politik eine Umkehrung dieser Entwicklungen herbeiführen soll. Denn bei Wohnungspolitik geht es um Geld, um viel Geld.

3. Wohnen ist im Kapitalismus eine Ware und so teuer, daß die meisten Leute eine Wohnung höchstens per Kredit erwerben oder eben mieten können. Mieten heißt: Die Wohnung gehört jemand anders, der damit Geld verdienen will. Ohne Regulierung dieses Gegensatzes und ohne öffentliche Förderung in bestimmten Marktsegmenten war eine kapitalistische Lösung des Wohnungsproblems nie zu haben. Welchen Lebensstandard Staat und Wirtschaft der Mehrheit zugestehen, ist umstritten und hängt von den Kräfteverhältnissen ab.

4. Die soziale Lage Berlins ist bestimmt durch die Deindustrialisierung Ostdeutschlands und Westberlins in den neunziger Jahren sowie durch den Erfolg des deutschen Kapitals auf den Weltmärkten mit all den abfallenden Mitteln für den Hauptstadtbetrieb. Es gibt “Gewinner” dieser Entwicklung: Leute, die durchaus Grundstücke und Eigentumswohnungen kaufen oder hohe Mieten zahlen können. Doch die Zahl der Erwerbstätigen liegt erst wieder auf dem Stand von 1993 und mehr als 1/3 arbeitet in prekären Beschäftigungsverhältnissen.

5. Erst die Mietenstopp-Demo im September 2011 hat die Wohnungsfrage wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt. Ohne die lokale Selbstorganisation von Betroffenen und die langfristige Arbeit von Mieterorganisationen hätte sich gar nichts getan. Doch während der Druck steigt, macht man oben in Symbolismus (“Ferienwohnungen”) und hübsche Neubauplanungen für Gutverdiener (“Stadtentwicklungsplan Wohnen”). Ganz bewußt setzt die Politik auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse, mit denen Leute auf den Wohnungsmarkt kommen. Angesichts der Größe der Probleme sind die unabhängigen Initiativen teilweise in die Rolle eines Stichwortgebers gerutscht, dessen Anregungen von den “Machern” in Medien und Politik dann kräftig umgedeutet werden.

6. Für eine sozialpolitische Intervention müssen drei Bereiche verbunden werden: 1) Ein Stopp für Mieterhöhungen im Bestand, der zur Zeit der wirkliche soziale Puffer auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist. 2) Eine Umstellung der öffentlichen Wohnungswirtschaft, einschließlich eines angemessenen Ankauf- und Neubauprogramms. 3) Die Übernahme der “Kosten der Unterkunft” in der aktuellen Höhe. Alle Elemente hänge zusammen, denn ohne einen Stopp für Mieterhöhungen im Bestand kann kein Modell öffentlicher Wohnungswirtschaft den Aufwärtstrend im Markt stoppen. Ohne größere und nachhaltig sozial bewirtschaftete Wohnungsbestände haben Geringverdiener kaum Chancen auf angemessenen Wohnraum bei Änderung der Lebensumstände: Irgendwann will jede/r umziehen. Ohne Anpassung der KdU an die realen Verhältnisse folgen Mietschulden und Zwangsumzüge.

7. Doch eine solche Intervention setzt politischen Willen und den Zugriff auf die nötigen wirtschaftlichen Mittel voraus: Nicht 60, sondern mindestens 200 Millionen Euro pro Jahr. Zur Zeit zeigen alle Parlamentsparteien einen viel zu großen Respekt vor dem großen Geld als das sie so etwas auch nur fordern würden. Sicher: das Wohnungsproblem ist ein ganz privates Problem. Aber ein Problem nicht weniger, sondern vieler. Wenn es gelingt, diesem Problem eine politische Form zu geben, dann organisieren sich dabei neue gesellschaftliche Mehrheiten.

Editorische Hinweise

Wir spiegelten den Text von Website des Autors https://planwirtschaft.wordpress.com/