Kommentare zum Zeitgeschehen

Ist die Verteidigung des Niqab eine Aufgabe für Linke?

von
Anton Holberg

10-2013

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onlinezeitung

Der “Socialist Worker“, die Wochenzeitung der britischen Socialist Workers Party (SWP), deren fortgesetzte Unterstützung der wie inzwischen allgemein bekannt weitgehend in die Hand takfiristischer Jihadisten gefallenen syrischen „Revolution“ möglicherweise auch etwas mit ihrer Praxis zu tun hat, sich mit eher rechten muslimischen Migrantenorganisationen im „antiimperialistischen“ und „antirassistischen“ Kampf nicht nur zu verbünden, sondern es sogar zu akzeptieren, dass in gemeinsamen Veranstaltungen Männer und Frauen getrennt sitzen müssen, hat jüngst in einem Artikel das Recht muslimischer Frauen verteidigt, in Großbritannien in der Öffentlichkeit ihr Gesicht durch das Tragen des Niqab zu verbergen. Die SWP antwortete damit auf die kurz zuvor gemachte Ankündigung des britischen Gesundheitsministers Jeremy Hunt, das Tragen des Gesichtsschleiers für Beschäftigte im öffentlichen Gesundheitswesen („National Health Service“, NHS) hinfort zu untersagen. Der SW schreibt: „Die Tories haben dem Multikulturalismus den Krieg erklärt, und ihre jüngste Attacke richtet sich gegen die Minderheit der muslimischen Frauen, die einen Niqab oder Gesichtsschleier tragen“. Die Rechtfertigung des Gesundheitsministers, bei seiner Entscheidung handele es sich um eine „professionelle“ und nicht um eine „politische“ fand beim SW weder Glaube noch Verständnis.

In einigen Regionen der islamischen Welt gehört der Gesichtsschleier zur traditionellen Tracht muslimischer Frauen, so etwa in Form des zusätzlich zur Djellaba getragenen Litham bei Frauen in Marokko, vornehmlich städtischen, oder als Niqab am arabischen Golf und als Burqa in Pakistan und Afghanistan. In dieser Form entspricht diese Tracht gewissermaßen der Lederhose in Oberbayern. Eine besondere politische und religiöse Aussage, die über die Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinde ihres jeweiligen Landes hinausgeht, ist damit zunächst einmal nicht verbunden. Allgemein gehört zur Kleidung islamischer Frauen das Kopftuch und – wie einst auch bei christlichen Frauen beim Kirchgang eine generell zurückhaltende Kleidung, die möglichst wenig die Begierlichkeiten der Männer (und den Neid anderer Frauen) erregen soll. Die Verschleierung des Gesichts (übrigens eine Sitte, die die arabischen Muslime nach der Eroberung der südlichen Regionen (Syrien) des christlich-orthodoxen byzantinischen Reiches von den Frauen aus den „besseren Kreisen“ der Byzantiner übernommen haben) gehört in weitesten Teilen der islamischen Welt nicht dazu. Das bedeutet, dass, wenn heute muslimische Frauen außerhalb der Regionen, in denen das „Tradition“ ist, freiwillig einen Gesichtsschleier anlegen, es sich hier um ein Symbol einer Zugehörigkeit zu einer fundamentalistischen Richtung des Islam (z.B. Wahhabismus) handelt. In Deutschland und wie ich annehme nicht minder in GB findet man allerdings viel zahlreicher vornehmlich türkische junge Frauen, die enge Hosen und T-Shirts und hochhackige Schuhe tragen, relativ stark geschminkt sind und gleichzeitig das Kopftuch tragen. Ihnen geht es offensichtlich nicht darum, ihre Reize vor der Welt familienfremder Männer zu verbergen, sondern der Öffentlichkeit nur ihre Herkunft bzw. ihre Nichtzugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft deutlich zu machen. Nicht selten sind dem früher vergebliche Bemühungen zur völligen Integrierung in diese Mehrheitsgesellschaft vorausgegangen.

Die Linke, die notwendigerweise Erbe der europäischen Aufklärung ist und damit Verteidigerin der Trennung von Religion und Staat, muss natürlich das Recht eines jeden Menschen verteidigen, seine nationale, politische oder kulturelle (religiöse) Zugehörigkeit zu leben und sich offen dazu zu bekennen. Das jedoch hat notwendigerweise Grenzen. Die Propagierung von Ideologien, die die Unterdrückung all derer, die die eigene Ideologie nicht teilen, vorsieht, muss mit allen Mitteln, die sinnvoll erscheinen, bekämpft werden. Wenn das Tragen des Niqab oder der Burqa (wohlbemerkt nicht in Pakistan und am Arabischen Golf, sondern in Syrien, der Türkei, Marokko oder in Europa) als Mittel der Propaganda für derartige Ziele verstanden werden muss, sollte das entsprechend auch vom Gesetzgeber behandelt werden, und das sollte von der Linken unterstützt werden, obwohl der Gesetzgeber natürlich ein bürgerlicher ist und möglicherweise damit weitere Ziele verfolgt, die sich jenseits des berechtigten demokratischen Anliegens befinden. Hinzu kommt, und das ist womöglich noch relevanter, dass es hierzulande berechtigterweise ein Vermummungsverbot gibt (dass es hin und wieder legitimerweise nicht beachtet wird – z.B. von Demonstrationsteilnehmern -, ist dazu kein Widerspruch). Das greift automatisch auch im Fall des Niqab und der Burqa und des Litham. Ich denke, dass es den Menschen hierzulande (außer zum Karneval) nicht zuzumuten ist, mit anderen Menschen in einen funktionalen Kontakt zu treten, die ihre Gesicht und damit ihre Identität nicht preisgeben. Man möge sich einmal vorstellen, man sei Angestellter im Schalterraum einer Bank, und es kommt jemand mit verdecktem Gesicht in den Schalterraum... Wäre es nicht durchaus verständlich, wenn der/die Angestellte sofort auf den Notrufknopf drückte? Das vom SW, der dafür eine Niqab-tragende Pakistanerin zitiert, aufgeführte Gegen“argument“, jemand habe sie durchaus identifiziert, greift nicht, weil dieser „Jemand“ die Betreffende schon kannte.

Im Übrigen gibt es (rein theoretisch) natürlich auch die Möglichkeit, dass das genaue Gegenteil eintritt. Es gibt auf der Welt, z.B. in Papua Neuguinea oder in Amazonien, Völker, die so gut wie völlig unbekleidet (höchstens mit einem pflanzlichen Penisfutteral) durch die Gegend laufen. Selbstverständlich muss dieses Recht verteidigt werden, solange sie das in ihrer Heimat tun. Ich glaube, dass sich nicht einmal die SWP vorstellen könnte, eine Kampagne zur Verteidigung des Nacktsein auf der Oxford Street durchzuführen. Nun ist es weder für Papuas noch für Amazonas-Völker ein wichtiges Anliegen, die Welt von ihren ideologischen Vorstellungen zu überzeugen. Deshalb hat man meines Wissens noch niemals einen völlig unbekleideten Menschen aus diesen Regionen in Europa auf dem Boulevard spazieren gesehen. Diese Menschen verlangen nicht einmal, dass die Angehörigen anderer Kulturen, wenn sie in ihre Regionen kommen, ihre Nationaltracht anlegen, d.h. sich dort ausziehen. Das ist heutzutage leider das Privileg reaktionärer islamischer Gesellschaft wie der Islamischen Republik Iran, wo auch Nicht-Muslimas den Hejab (hier ein Kopftuch) tragen müssen oder eben auch das eines gewissen Teils der syrischen Rebellen. Es kann nicht Aufgabe von Linken sein, solche Kräfte unter dem Deckmantel des „Multikulturalismus“ direkt oder indirekt bei ihrem Kulturkampf zu unterstützen. Ganz allgemein muss festgehalten werden, dass der Multikulturalismus kein Freibrief für jede kulturelle Äußerung sein kann: die Atzteken etwa opferten bis zur spanischen Eroberung ihren Göttern Menschen, und vieles deutet darauf hin, dass sie die Opfer dann ökologisch sinnvoll verwerteten, nämlich verspeisten. Eine Grenze zu ziehen, ist sicher oft sehr schwierig. Ich denke, dass der Gesichtsschleier heute und außerhalb der Gesellschaften, in der er zur „Volkstracht“ gehört, jenseits des Akzeptablen liegt.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.