Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Enthusiastisch für Sonntagsarbeit
Kapitaloffensive, Gewerkschaften in der Defensive, soziale Demagogie der extremen Rechten

10-2013

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Wenn die progressiven sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften keinen Druck für Verbesserungen in der Situation der Lohnabhängigen entfalten, dann bleibt es noch lange nicht beim Status quo. Eine alte Lehre lautet: das Klassenverhältnis im Kapitalismus ist nicht einfach stabil. Es bleibt nicht einfach Alles beim Alten, wenn der Klassenkampf „von unten“ erlahmt oder stagniert. Andere Kräfte füllen dann das Vakuum im Kräftefeld.

Da wäre, als erste Möglichkeit, die von politischen Formationen und (vor allem) den bürgerlichen Medien flankierte und auf breiter Front vorgetragene Kapitaloffensive. Zum Zweiten, und als ergänzende Option, gäbe es da die Möglichkeit, dass rechte – eventuell faschistische – Sozialdemagogie (oder eine andere reaktionäre Ideologie, die auf nationalen, „rassistischen“ oder konfessionellen Solidaritäten basiert) die Lücke füllt.

Beide Phänomene treffen wir im Augenblick an.

Geil auf Sonntagsarbeit?

Augenblicklich ist das sozialpolitische Thema, das momentan am meisten Staub aufwirbelt – nach dem bisherigen unrühmlichen Misserfolg der Demonstrationen (vom 10. September d.J.(1) gegen die regressive „Rentenreform“, deren Grundzüge am 27. August 13 durch die Regierung präsentiert wurden – die Frage der Sonntagsarbeit.

Alle Zeitungen waren in den letzten Tagen voll davon: Trotz einer Strafandrohung – in Form eines Zwangsgeld in Höhe von 120.000 Euro pro Tag und pro Geschäft, infolge eines Gerichtsurteils aus der Pariser Vorstadt Bobigny – öffneten am Sonntag, den 29.09.13 insgesamt vierzehn Möbelgeschäfte im Raum Paris. Es handelt sich um Niederlassungen der beiden Marken Merlin-Leroy und Castorama, bei denen Möbel sowie Artikel für den Bastel- und Heimwerkerbedarf erworben werden können. Die beiden Handelsketten argumentieren damit, dass sie rund 20 Prozent zusätzlichen Umsatzes pro Woche am Sonntag erzielen. Ferner herrschten ungleiche und ungerechte Wettbewerbsbedingungen. Denn in ausgewiesenen touristischen Zonen, wie etwa auf den Champs-Elysées in Paris, dürfen Geschäfte ohne Weiteres auch sonntäglich öffnen, sofern bestimmte Gegenleistungen für die abhängig Beschäftigten (konkret: Lohnzuschläge) vorgesehen sind. Dies gilt jedoch nicht beispielsweise für Créteil – eine ausgesprochen hässliche Pariser Vorstadt mit eher geringer touristischer Attraktivität -, wo eines der 14 Geschäfte liegt.

Zuvor hatten rund 300 Lohnabhängige der beiden Ketten in Paris öffentlichkeitswirksam protestiert, und zwar für ihr Recht darauf, auch am Sonntag zu arbeiten. Die Möglichkeit dazu kommt sicherlich in Einzelfällen auch den Lohnabhängigen zugute, und zwar insofern, als diese die Lohnzuschläge bereits als festen Lohnbestandteil einkalkuliert haben - und oft auf ihn angewiesen sind. Beispielsweise zitiert die Tageszeitung ,Libération‘ in ihrer Ausgabe vom Montag, den 30. September 13 eine Beschäftigte, für die die Lohnzuschläge für Sonntagsarbeit 22 % ihres monatlichen Einkommens ausmachen – und einen weiteren Kollegen (wahrscheinlich Teilzeitbeschäftigter, da er angibt, dass die Zuschläge „die Hälfte“ seiner Einkünfte ausmachten), dem zufolge „seine Miete den Lohn übersteigt“, falls die Sonntagszuschläge ausblieben. Dies bedeutet aber vor allen Dingen eines, nämlich, dass die Löhne in dem Sektor unverschämt tief fliegen.

Eine andere Frage ist hingegen, ob man deswegen die Regel aufgeben soll, die Lohnabhängige bislang vor der Anordnung von Sonntagsarbeit schützt, auch wenn einige von ihnen durchaus dazu willens sein mögen. Auch eine Aufhebung des Verbots, bei Rotlicht zu fahren, käme einigen Verkehrsteilnehmer/inne/n (die es vielleicht aus guten Gründen eilig haben) sicherlich zupass. Aber es bleibt aufrecht erhalten, vielleicht nicht um gerade diese Verkehrsteilnehmer/innen – die gute Autofahrer/innen oder aufmerksame Radler/innen –, sondern um die Gesamtheit aller Verkehrsbeteiligten zu schützen. Begründete Ausnahmen sind dabei ja zulässig: Rettungswagen, Feuerwehr- und Polizeiautos müssen nicht an roten Ampeln halten - und dieselben Berufsgruppen, unter anderem, dürfen respektive müssen aus naheliegenden Gründen auch am Sonntag arbeiten.

Eine allgemeine Freigabe der Sonntagsarbeit hingegen würde drohen, schützende Dämme (potenziell) für die Gesamtheit der Lohnabhängigen einzureißen. Denn im Augenblick basiert die Sonntagsarbeit theoretisch auf Freiwilligkeit – derjenigen von Lohnabhängigen, die darauf angewiesen sind, scheinbar „mehr“ zu verdienen, indem sie auch am Sonntag zur Verfügung stehen. Dies funktioniert jedoch nur so lange, wie (erstens) nur eine Minderheit von Lohnabhängigen dafür in Frage kommt, und (zweitens) ihre Unternehmen – oder Geschäfte – sozusagen Sonderprofite daraus ziehen, dass sie auch am Sonntag verkaufsoffen sind, die anderen dagegen nicht. Doch die Gesamt-Nachfrage bei den Konsument/inn/en steigt dadurch natürlich nicht, oder nur höchst geringfügig: Niemand wird ein Möbel kaufen, das er oder sie nicht benötigt (oder wofür bei ihm/ihr kein Geld vorhanden ist), nur weil der Laden auch sonntäglich geöffnet hat…! Wenn aber, unter dem Druck der Konkurrenz, eine Vielzahl von konkurrierenden Läden ihrerseits nunmehr alle am selben Tag geöffnet sind, entfällt der Wettbewerbsvorteil unter den Inhabern. Ebenso, wie der individuelle Vorteil in der (faktischen) Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen entfällt, wenn die Sonntagsarbeit nicht mehr nur eine relativ kleine Minderheit betrifft, die aus ihrer „Freiwilligkeit“ einen Lohnvorteil ziehen kann. Perspektivisch wird die Freiwilligkeit schnell ein Ende nehmen, wenn ganze Läden sich dazu entschließen, nunmehr doch auch am Sonntag zu öffnen. Wenn der Leiter der Fischabteilung und die Chefin der Möbelabteilung im Supermarkt sich dazu bereit erklären („freiwillig“ oder nicht so sehr), auch am Sonntag zu kommen – wird die Kassiererin da wirklich durchsetzen können, dass sie dann aber nicht da ist?

Die Frage, wie sinnvoll eine Lockerung der Regelungen in Sachen Sonntagsarbeit wäre, durchzieht derzeit die Regierungsparteien: Die eher als wirtschaftsliberal und großbürgerlich geltende „Sozial“ministerin Marisol Tourain etwa spricht sich für die „notwendige Änderung“ angeblich allzu starrer Regelungen aus, während Arbeitsminister Michel Sapin am Montag, den 30. September 13 erklärte, der Beschäftigtenschutz spreche gegen ihre allgemeine Lockerung. Am selben Tag – 30.09.13 – setzte die Regierung daraufhin eine Kommission ein, die innerhalb von zwei Monaten Vorschläge für eine eventuelle Überarbeitung der geltenden Gesetzgebung ausarbeiten soll. Das Thema ist also nicht vom Tisch, sondern nur vertagt! Vielleicht kommt das dicke Ende ja noch…

Pressekampagne und Ausweitung der Kampfzone

Teile der bürgerlichen Presse und der sonstigen (audiovisuellen) Medien begleiten diese Kampagne mit einigem Trommelwirbel. Der Karikaturist der linksliberalen Pariser Abendzeitung Le Monde, „Plantu“, etwa reagierte in der Ausgabe vom Montag Abend (mit Erscheinungsdatum 01. Oktober 13) auf die aktuelle Debatte mit triefender Demagogie und einem Appell ans Ressentiments. In einer Karikatur zeichnet er zwei Figuren. Links sieht man unter der Überschrift „Islamorama“ einen bärtigen Taliban oder sonstigen Islamisten, der einem Mädchen entgegenschleudert: „Es ist verboten, in die Schule zu gehen!“ Und rechts sieht man einen Gewerkschafter mit der Aufschrift „CGT“, den man sich getrost unrasiert und stinkend vorstellen darf, der den (als arbeitswillig vorgestellten) abhängig Beschäftigten vorhält: „Es ist verboten, am Sonntag zu arbeiten!“ Dümmliches Zeug, das die These vom bösartigen und aggressiven „Gewerkschaftsfundamentalismus“ illustrieren soll… Auf ähnliche Weise zeigte in derselben Woche die – mitunter, aber eben nicht immer, in ihrem Humor treffsichere – satirische Puppensendung Les Guignols de l’info im TV-Privatsender Canal plus eine Szene, welche die These von der Freiheitsfeindlichkeit der gewerkschaftlichen Barrieren gegen die Sonntagsarbeit unterstreichen soll. In der Szene wird das Publikum belehrt, es sei „verboten, am Sonntag zu arbeiten, „verboten, fett zu essen“, „verboten zu rauchen“. Und auch sonst – so lautet die Quintessenz - dürfe man eigentlich gar nix mehr und sei ständigen Gängelungen ausgesetzt…

Unterdessen wird in der laufenden Woche bereits die nächste Stufe der Rakete gezündet: eine Kampagne gegen die „starren Beschränkungen“ bei der Nachtarbeit, präziser: der Lohnarbeit in den Abendstunden in Verkaufsjobs. Die Supermarktkette Monoprix wird derzeit dazu angehalten, ihre Läden um 21 Uhr zu schließen: Um diese Uhrzeit beginnt die gesetzliche Definition der Nachtarbeit zu greifen. Die Kette würde gerne länger geöffnet lassen (bis 22 Uhr), doch ein Abkommen mit den Gewerkschaften dazu scheitert derzeit am Widerstand der CGT. Diese bringt genügend Gewicht auf die Waagschale, um durch ihr Veto das Inkrafttreten eines (durch andere Organisationen unterzeichneten) solchen Abkommens zu verhindern – dies kann eine Gewerkschaft seit dem Gesetz vom 20. August 2008 zur Tariffähigkeit der Gewerkschaften, wenn sie allein mindestens 50 Prozent der Stimmen bei Betriebsvertretungswahlen wiegt. Nunmehr prasseln auf vielen Kanälen über die CGT die Vorwürfe herein, sie verhindere durch ihre Blockadepolitik die natürlich-ach-so-freiwillige Tätigkeit der Arbeitswilligen.

Extreme Rechte – Von der Sozialdemagogie zur Flankierung der Kapitaloffensive
 

Soziale Demagogie ist im Augenblick ein wichtiges Erfolgsrezept in den Wahlkämpfen der extremen Rechten. Deswegen ist es von erheblicher Bedeutung, die Argumentation einer Partei wie des Front National (FN) in sozialen Fragen genau zu verfolgen. Dies tun derzeit auch die wichtigsten Gewerkschaftsverbände in Frankreich, die begonnen haben, sich über den Einfluss der extremen Rechten – auch an ihrer eigenen Basis, bis hinein in ihre Mitgliedschaft – ernsthafte Sorgen zu machen. Vor diesem Hintergrund soll i.Ü. im Januar 2014 eine zweitägige gewerkschaftliche Großveranstaltung gegen die extreme Rechte stattfinden. Diese wird von CGT (stärkster Gewerkschaftsverband in Frankreich), FSU (Gewerkschaftsverband im Bildungswesen) und Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss vorwiegend aus linken Basisgewerkschaften wie SUD) organisiert werden. Am 23. September 13 fand ein gemeinsames Vorbereitungstreffen von CGT und FSU dafür statt.

Wie aber fällt nun die Reaktion der extremen Rechten auf die aktuelle arbeitspolitische Auseinandersetzung aus? Ihre Hauptpartei, also der Front National, reagiert über ihre Presse – vor allem den viel genutzten Internetservice Nations Presse Info (NPI) – auf sehr wenig nuancierte Weise auf die Fragestellung. Denn NPI unterstützt mit fliegenden Fahnen die Mobilisierung gerade dieser Lohnabhängigen, die der extremen Rechten mutmaßlich umso stärker zupass kommt, als sich auch eine Spitze gegen die „etablierten“ Gewerkschaften hineinbringen lässt. Allein am 27. September 13 berichtete NPI zwei mal hintereinander über die tolle Mobilisierung. Etwa begleitet von dem unzweideutigen ideologiegetränkten Kommentar: „Gegenüber dem gewerkschaftlichen und politischen Sektierertum, das Frankreich seit 40 Jahren ruiniert, wollen die Altparteien UMPS (Anm.: UMP und PS) jetzt die Schließung der Geschäfte am Sonntag!“

Allerdings stellt der Pariser Rathauskandidat des FN für die Kommunalwahlen vom März 2014, der Rechtsanwalt Wallerand de Saint-Just, in einer Presseaussendung vom 30. September 13 für seine Zustimmung zur Ausweitung der Sonntagsarbeit eigene Bedingungen auf. Diese dürfe, fordert er in seinem Kommuniqué, nicht allein den großen Supermarktketten zunutze kommen. Vielmehr müssten auch die kleinen und „mittleren“ Kapitalinhaber etwas davon haben: „Wenn Erlaubnisse zur Verkaufsöffnung am Sonntag erteilt werden, dann müssen sie den selbstständigen Einzelhändlern, den kleineren und mittleren surfaces (Anm.: Verkaufsflächen, Geschäften) zugute kommen.“ Den „großen“ wird allerdings ebenfalls ein Angebot unterbreitet: „Wenn sich eines Tages die großen Ketten loyal gegenüber den Produzenten, Zwischenhändlern und Produzenten verhalten, dann können ihnen Genehmigungen erteilt werden.“ Vom Widerstand im Namen der Beschäftigteninteressen der Lohnabhängigen ist hingegen mit keinem Sterbenswörtchen die Rede…

Anmerkung

1 Am 10. September d.J. gingen die neueste « Rentenreform », bereits die dritte respektive vierte (rechnet man jene der Sonder-Rentenkassen für die Transportbediensteten von Ende 0207 mit ein) seit 2003, in 180 französischen Orten und Städten Menschen auf die Straße. Dabei kamen frankreichweit laut Zahlen der Polizei „150.000“, laut Angaben der CGT „360.000“ Personen zusammen – die Wahrheit liegt in solchen Fällen oftmals ungefähr in der Mitte -, in der Hauptstadt Paris waren es lt. AFP und eigenen Beobachtungen des Verfassers dieser Zeilen circa 15.000. (Vgl. dazu
http://tempsreel.nouvelobs.com/ ) Ein Mobilisierungserfolg sieht anders aus – zum Vergleich: am ersten Demonstrationstag gegen die Renten„reform“ von 2003, am 13. Mai 03, waren es frankreichweit anderthalb Millionen Demonstrierende -, und es ist derzeit kein neuer frankreichweiter Protesttermin angesetzt. Jedenfalls, wenn man von der organisationsspezifischen Initiative eines einzelnen Gewerkschaftsverbands – Force Ouvrière (FO) – absieht, der am 15. Oktober 13 allein dagegen protestieren möchte (vgl.
http://www.lefigaro.fr/) Auf regionaler Ebene werden am 10. und am 15. Oktober 13 Protestkundgebungen stattfinden, die gemeinsam von mehreren Gewerkschaftsverbände getragen werden (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/). Die Parlamentsdebatte zur anstehenden regressiven Renten„reform“ wird voraussichtlich vom 07. bis 11. Oktober d.J. in der französischen Nationalversammlung und am 15. Oktober im Senat stattfinden.

Editorische Hinweise

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