Zu Karl Korsch
Marxismus und Philosophie(1)

von Hans-Jürgen Krahl

10-2013

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»Dass in der Frage nach dem Verhältnis zwischen Marxismus und Philosophie ein theoretisch und praktisch höchst wichtiges Problem enthalten sein könnte, ist eine Behauptung, die noch bis vor sehr kurzer Zeit sowohl unter den bürgerlichen wie unter den marxistischen Gelehrten nur wenig Verständnis gefunden hätte.«(2)

Erst die philosophische, genauer geschichtsphilosophische Problematik des Marxismus stellt die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis. Sie ist konstitutiv für die ökonomiekritische Theorie der Gesellschaft und die revolutionäre Praxis.

»Es wird sich dann zeigen, dass trotz des grossen Unterschiedes der beiderseitigen Motive beide Ursachenreihen an einer wichtigen Stelle doch auch zusammentreffen. Wir werden nämlich sehen, dass ganz ähnlich wie bei den bürgerlichen Gelehrten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem totalen Vergessen der Hegel-schen Philosophie auch jene »dialektische« Betrachtung des Verhältnisses von Philosophie und Wirklichkeit, Theorie und Praxis gänzlich verlorengegangen ist, die in der Hegeischen Epoche das lebendige Prinzip der gesamten Philosophie und Wissenschaft gebildet hatte, auf der anderen Seite auch bei den Marxisten in dergleichen Epoche die ursprüngliche Bedeutung dieses dialektischen Prinzips, das in den vierziger Jahren die beiden jugendlichen Hegelianer Marx und Engels bei ihrer Abwendung von Hegel mit vollem Bewusstsein »aus der deutschen idealistischen Philosophie« in die »materialistische« Auffassung des geschichtlich gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses hinübergerettet hatten, mehr und mehr in Vergessenheit geraten war«(3). (Zum vergessenen und verdrängten Verhältnisvon Marxismusund Philosophie).

Das Verhältnis von Materialismus und Philosophie, von Überbau und Unterbau, ist das von Gesellschaft und Kultur. Die bürgerlichen Kathederprofessoren der Philosophie, die etablierte, bourgeoise Schulphilosophie des späten 19. Jahrhunderts (und Korsch /4/ meint damit insbesondere die Neukantianer) behandelte die philosophische Problematik des Marxismus zumeist unter dem Titel: »Die Zersetzung der hegelschen Philosophie« (Kuno Fischer). Was die bürgerliche Kathederphilosophie nicht in den Griff bekam und aufgrund ihrer professionell verankerten Befangenheit in dem System der bürgerlichen Gesellschaft auch nicht erkennen konnte, war das Spezifische des Verhältnisses von Marxismus und Philosophie, nämlich das »prinzipiell« philosophiekritische Verhältnis. Die Vernachlässigung der philosophischen Seite der kritischen Theoriedurch den Sozialismus der II. Internationale erklärt sich aus dem Versuch, »nicht nur alle bisherige bürgerliche Idealphilosophie, sondern damit zugleich alle Philosophie überhaupt formell und inhaltlich endgültig zu überwinden und »aufzuheben««.(5) Als Kritik des Verhältnisses der II. Internationalen zur Philosophie ist das zumindest missverständlich formuliert: natürlich will der hi-storisch-dialektische Materialismus nicht nur den idealistischen Begriffsrealismus innerphilosophisch abstossen, sondern mit ihm alle Philosophie, denn alle Philosophie, auch die bisherigen Materialismen und Nominalismen, waren bislang praxisenthobene, rein theoretische, im Grunde idealistische Systeme. (Korsch muss also hierpräzisieren)

»So hat z.B. Franz Mehring seinen eigenen, orthodox marxistischen Standpunkt zur Frage der Philosophie mehr als einmal kurz und bündig dadurch charakterisiert, dass er sich zu jener »Absage an alle philosophischen Hirnwebereien« bekannte, die »für die Meister (Marx und Engels) die Voraussetzung ihrer unsterblichen Leistungen gewesen ist«.«(6)

Bürgerliche und marxistische Wissenschaft stimmte in der Beurteilung des Verhältnisses von Marxismus und Philosophie bei unterschiedlicher, i.e. gegensätzlicher Bewertung eines und desselben Sachverhaltes(7) überein, der Marxismus weise keine wesentlichen Bezügezur Philosophie auf. Korsch weist hingegen den wesentlichsten Bezug zu ihr auf. Nicht als abstrakte Hirnweberei tut er sie ab, sondern will sie als unverwirklichte Vernunft revolutionär realisieren. Die Artikulation des emanzipatorischen Vernunftinteresses bekommt die Gesellschaft als Totalität in den Griff.

Als dritte Gruppe(8) bezeichnet Korsch die philosophierenden Sozialisten, die ebenfalls den Marxismus als bar jedes diskutablen philosophischen Gehalts erachteten (Bernstein, Koigen, Kantianer, Machianer, Dietzgenianer) und ihm eine rein philosophische Richtung zu imputieren trachteten. Als der erste Weltkrieg sie mit aller Deutlichkeit den Fragender proletarischen Praxis aussetzte, haben sie demzufolge bürgerliche Positionen bezogen — denn dem Marxismus ist ein Bezug zur Philosophie nicht akzidentell, sondern wesentlich und immanent.

»Es lässt sich nun heuteziemlich leicht zeigen, dass diese rein negative Auffassung der Beziehungen zwischen Marxismus und Philosophie, die wir in scheinbarer Übereinstimmung bei den bürgerlichen Gelehrten ebenso wie bei den orthodoxen Marxisten festgestellt haben, auf beiden Seiten aus einer sehr oberflächlichen und unvollständigen Erfassung des geschichtlichen und logischen Sachverhalts hervorgegangen ist«.(9) (Negative Auffassung: Korsch meint hier m.E. das Urteil des fehlenden Verhältnisses von Marxismus und Philosophie, gerade der historisch-logische Sachverhalt bestimmt den Marxismus als Negation (eben nicht im pejorativen Sinne) der Philosophie).

Korsch untersucht nunmehr die historischen Bedingungen, welche bürgerliche Wissenschaft und marxistische Orthodoxie dieses Urteil fällen Messen, getrennt für beide Gruppen. Es werde sich aber zeigen, »dass trotz des grossen Unterschiedes der beiderseitgen Motive beide Ursachenreihen an einer wichtigen Stelle doch auch zusammentreffen. Wir werden nämlich sehen, dass ganz ähnlich wie bei den bürgerlichen Gelehrten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem totalen Vergessen der Hegeischen Philosophie auch jene »dialektische« Betrachtung des Verhältnisses von Philosophie und Wirklichkeit, Theorie und Praxis gänzlich verloren gegangen ist, die in der Hegeischen Epoche das lebendige Prinzip der gesamten Philosophie und Wissenschaft gebildet hatte«.(10) Die Gründe der bürgerlichen Philosophen und Historiker: Heute ist die Situation bei den bürgerlichen Philosophen umgekehrt: dass der Marxismusais Negation der Philosophiesich begreift und sich somit sein wesentlicher Bezug zu ihrals Kritik bestimmt, wird in der gängigen Beschränkung auf die Interpretation der »Frühschriften« gemeinhin ignoriert; Marx wird in die Philosophiegeschichte anthropologisch, existenzialontologisch und geistesgeschichtlich eingeordnet. Andererseits wird — so Dahrendorf etwa — das Marxsche Spätwerk als unvermittelter Bruch in den theoretischen Bemühungen Marxens ausgegeben. Von der reinen Philosophie setzt sich die positive Einzelwissenschaft der Ökonomiekritik ab. Vor allem aber der Rohentwurf widerlegt die These jenes Grabens zwischen den Frühschriften und dem Kapital. In der Tat sind die Frühschriften, selber noch philosophisch terminiert, damit beschäftigt, eine Kritik der Philosophie zu leisten, während der mittlere und späte Marx zur Kritik des Systems der politischen Ökonomie als einer positiven Einzelwissenschaft übergeht. Doch der Rohentwurf zeigt, dass diese Kritik nicht nur nicht zusammengeht, sondern geradezu ermöglicht wird durch eine neue — wie Alfred Schmidt bemerkt(11) — weitaus positivere Rezeption der Hegeischen Logik. Die zentrale Relevanz der Ökonomie für die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft als weitgehend bestimmt durch die Antagonismen der kapitalistischen Produktionsweise vermag Marx nur unter dem Aspekt der zumal wesenslogischen Reflexion von Erscheinung und Wesen einzusehen, eine für die historischen und sozialen Wissenschaften konstitutive Differenz, deren Reflexion überhaupt erst Kritik ist und die ihn die Tatsachen nach ihrem Gewicht für die Totalität einschätzen lässt. (Somit geht Marx gerade nicht positiv zur isolierten Einzelwissenschaft über.)

Die Hegelsche Logik liefert den Reflexionsmodus, welcher die Bedeutung der politischen Ökonomie für die bürgerliche Gesellschaft und deren kritischer Darstellung einsehen lässt (sie liefert das analytische Instrumentarium und den kategorialen Apparat, weil sie selber der abstrakte Abhub der kapitalistischen Antagonismen ist). So, wie die ökonomiekritische Theorie der Gesellschaft philosophisch impulsiert ist, ist die philosophiekritische Theorie der entfremdeten Subjekte ökonomisch durchsetzt. Die Frühschriften analysieren die subjektive Seite der gesellschaftlichen Objektivität, wesentlich eine Kritik der subjektiven Bewusstseinsphilosophie, die Spätschriften repetieren kritisch die objektiven Kategorien der Logik zur Kritik der politischen Ökonomie — ein Gang, der keine bloss logische Systematik, sondern von der Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft vorgezeichnet ist.

Der Primat des Objekts ist stärker geworden; die vorausgesetzte gesellschaftliche Praxis ist das objektive Subjekt, das sich seiner selbst nicht bewusste Tun der Menschen ein hypokeimenon. Marx nimmt hier die klassisch-aristotelische Bedeutung des Subjekts dialektisch auf: die Aktivität der umfassenden gesellschaftlichen Praxis, sowohl Produkt wie Produzent der Geschichte, hat gleichwohl einen passivischen Kern: das Subjekt, das in der philosophischen Theorie dem logos des in sich harmonischen Kosmos unterworfenen war und vor allem in der Neuzeit (kulminierend in der idealistischen unmittelbaren Identität von theoretischer und praktischer Vernunft, Konstitution und Produktion) zum Unterwerfer der Natur sich wandelte, zeigt sich nunmehr als beherrscht von seiner eigenen Eroberung und aktiven Herrschaft. Die Marxsche Redeweise vom gesellschaftlichen Subjekt (in der Einleitung zum Rohentwurf) kehrt nicht einfach zum naiven Begriff eines mythischen Mächten und strengen Autoritäten geistlicher wie profaner Art naturrechtlich unterworfenen Subjekts zurück, sondern zeigt, wie das allgemeine Subjekt, das transzendentale Subjekt, welches Marx als die arbeitende Gesellschaft zeigt, in seiner produktiven und konsumtiven Herrschaft über die Natur selber ein von seiner eigenen Produktion beherrschtes ist. Diese Einsicht in den schon bei Kants Begriff des transzendentalen Subjekts(12) latenten passivischen Objektcharakter des allgemeinen Subjekts ist konstitutiv für den Gegenstand des Historischen Materialismus: die Naturwüchsigkeit der nunmehr historisch gewordenen Gesellschaft (der Begriff des Subjekts bei Marx). Der dialektische Begriff des Subjekts als Index des naturgeschichtlichen Primats des Objekts zeigt deutlichst die Naturwüchsigkeit (fiktiv wie real) der Gesellschaftauf. Bei fortschreitender produktiver und konsumtiver Aneignung der natürlichen Objekte, die in diesem Prozess erst eigentlich zu Objekten sich konstituieren, objektiviert sich auf eine eigentümlich blinde Art das aneignende Subjekt mit.

Aus der Abwendung von der «dialektischen Auffassung der philosophischen Ideengeschichte« folgt für Korsch die Unfähigkeit der bürgerlichen Philosophen und Historiker, »das selbständige Wesen der marxistischen Philosophie und ihre Bedeutung innerhalb der Gesamtentwicklung der philosophischen Ideen des 19. Jahrhunderts adäquat zu erfassen und darzustellen«.(13) (Im Marxismus ist — gegen Korsch — keine positive Philosophie enthalten). Korsch scheint — insofern er von einer autonomen marxistischen Philosophie spricht — sehr von Engels' Transformation des dialektischen Materialismus in eine kosmologische Ontologie als positive Weltanschauung beeinflusst zu sein. Denn die kritische Theorie begreift sich als zunächst bestimmte Negation der Philosophie, also als das die Philosophie realisierende Resultat der Geschichte der Philosophie. (Die bestimmte Negation, die aus der Bewegung des Negats selbst folgt, ist immanente Kritik. Für Hegel ist die bestimmte Negation noch die Entgegensetzung von unwesentlichem und wesentlichem Dasein; die bestimmte Negation ist noch kein positives Resultat.)

Die vordergründige Erklärung dieses bürgerlichen Missverständnisses wäre seine Reduktion auf einen mehr oder weniger »bewussten Klasseninstinkt«, der nur ausnahmsweise vorliegt, zwar mitspielte, aber einen »in Wirklichkeit sehr komplizierten Sachverhalt«(14) simplifizieren würde. Korsch geht auf eine Textstelle aus dem 18. Brumaire ein, wo das Verhältnis von Überbau und Unterbau explizit als kompliziert bezeichnet wird: »So dürfen wir uns also, wenn wir die völlige Verständnislosigkeit der bürgerlichen Philosophie— Geschichtsschreiber für den philosophischen Gehalt des Marxismus im Sinne von Marx wirklich »materialistisch und daher wissenschaftlich« begreifen wollen, nicht damit begnügen, diese Tatsache direkt und ohne alle Vermittlungen aus ihrem »irdischen Kern« (dem Klassenbewusstsein und den dahinterstehenden, »letzten Endes« ökonomischen Interessen) zu erklären. Wir müssen vielmehr im einzelnen jene Vermittlungen aufzeigen, durch die verständlich wird, warum auch solche bürgerliche Philosophen und Historiker, die subjektiv mit der grössten »Voraussetzungslosigkeit« die »reine« Wahrheit zu erforschen suchen, das Wesen der im Marxismus enthaltenen Philosophie notwendig entweder ganz übersehen mussten oder doch nur sehr unvollständig und schief auffassen konnten. Und die wichtigste dieser Vermittlungen besteht in unserem Fall tatsächlich darin, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die gesamte bürgerliche Philosophie und insbesondere auch die bürgerliche Philosophiegeschichte aus ihrer realen geschichtlichgesellschaftlichen Lage heraus sich von der Hegeischen Philosophie und ihrer dialektischen Methode losgesagt hat und zu einer Methode der philosophischen und philosophiegeschichtlichen Forschung zurückgekehrt ist, mit der es für sie dann allerdings fast unmöglich wurde, mit solchen Erscheinungen wie dem wissenschaftlichen Sozialismus von Marx »philosophisch« irgendetwas anzufangen.«(15)

Der philosophische Gehalt geriet ideenhistorisch mit der Abkehr von der Hegeischen Philosophie in Vergessenheit. Dieser geistesgeschichtliche Bereich in der reflektierten Geschichte der Philosophie hat freilich historisch reale gesellschaftliche Gründe. Die rein ideengeschichtlichen »Erklärungsversuche der bürgerlichen Historiker« verhinderten ein angemessenes Verständnis des qualitativen Sprungs vom mächtigen Einfluss der Hegeischen Philosophie (in den dreissiger Jahren) zu völliger Wirkungslosig-keit in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. (Zu achten wäre auf »Erklärung« und »Verstehen« in der Schrift von Korsch; wieweit ist er vom hermeneutischen Reflexionsmodus der Geistesgeschichte (Dilthey) beeinflusst?)

Die rationale Diskussion um den absoluten Idealismus und die dialektische Methode nach Hegels Tod wurde abgetan unter dem Titel der Zersetzung derHegelschen Schule; danachein Bruch und ideengeschichtliche Anknüpfung an Kant (nach 1860). Die Dialektik ist keine Methodologie, aber auch keine blasse Methode, weil sie beansprucht, die Reflexionsstruktur ihres Gegenstandes zu sein; das präjudiziert den Gegenstand der dialektischen Methode als einen, der sich zu reflektieren imstande ist; d.h. der Gegenstand muss ein wie immer auch geartetes vernunftbegabtes Wesen sein. Der metaphysische Gegenstand des Idealismus ist der Geist, das als unendlich begriffene Subjekt selbst, insofern kann also aufgrund der vorgängig stabilisierten Identität von Denken und Sein — wie immer es auch sonst mit ihr bestellt sein mag — eine unmittelbare Identität von Methode und Sache behauptet werden; besser: die Methode ist absolut, weil das Subjekt-Objekt unendliches Subjekt ist. Das Objekt, die Sache der idealistischen Identitätsphilosophie, ist das unendliche Subjekt, die sich selbst reflektierende, sich in sich widerspiegelnde absolute Methode.

Der Gegenstand der materialistischen Dialektik ist die Gesellschaft der Menschen (ebenfalls reflektierter Gegenstand.)

1. Korsch hat zunächst die übereinstimmende Interpretation unter umgekehrten, divergenten und kontrahenten Wertvorzeichen referiert, welche das Verhältnis von Marxismus und Philosophie seitens der bürgerlichen Philosophen und Historiker sowie der orthodoxen Marxisten und philosophierenden »Sozialisten« erfahren hat: Als »negativen« Tatbestand registrierten sie, es habe der Marxismus von sich aus kein notwendiges und eigenständiges Verhältnis zur Philosophie: den ersten Grund genug, ihn abzutun, den zweiten Anlass zur Apologie, den letzten Ursache zu philosophischen Ergänzungsversuchen, Korrekturbemühungen.

Die Reflexion des Verhältnisses von Philosophie und Marxismus steht im Brennpunkt der Auseinandersetzung von Orthodoxie und Revisionismus, deren dogmatische und weltanschauliche Positionen sich im Versuch, die in der II. Internationalen verlorengegangene Dimension der kritischen Theorie auf geschichtlich inzwischen revolutionierter Ebene wiederzufinden,.. .zu widerlegen suchen.

Orthodoxie und Revisionismus erklären sich geradezu aus ihrer einen immanenten und wesentlichen Bezug der Marxschen Theorie zur voraufgegangenen Philosophie verneinenden Interpretation des Historischen Materialismus. (Unter diesem Gesichtspunkt ist das Vorwort zur zweiten Auflage zu betrachten: Revisionismus als die Korrektur des durch eine äusserliche und zufällige Philosophie ergänzungsbedürftigen Marxismus).

2. Den ideenhistorischen (sicherlich historisch real motivierten) Grund für diese Interpretation sieht Korsch im Verlust der dialektischen Reflexion von Philosophie und Wirklichkeit, Theorie und Praxis und damit der Ignorierung der Hegeischen Philosophie.

Nichts belegt besser die praktische Relevanz hochtheoretischer Überlegungen, als dass die historischen Bedingungen von Orthodoxie und Revisionismus noch in den scheinbar abstraktesten Verästelungen philosophischer Kontroversen aufgespürt werden können. Die geschichtliche Stellung der sozialistischen Theorie zum philosophischen Denken ist Ausdruck wie Stabilisator politischer Programme und Aktionen. Ein gern benutztes Studienratsargument gegen den Marxismus sophistiert abstrakt derart: Die marxistische Ideologie sei Index falsi sui, die Idee habe sich in der politischen Wirklichkeit in einem ungeahnten Maasse durchgesetzt und beherrsche die »halbe Welt«; dergestalt falsifiziere der Marxismus seinen Materialismus und rehabilitiere gegen seinen Willen die verleugnete Wahrheit von der idealistischen Macht des Geistes. Dieses Argument, ebenso ideologisch wie sophistisch, ignoriert willkürlich die revolutionären Kämpfe und schliesslich die ihr eigenes telos missachtenden Mittel der Gewaltanwendung, welche die Theorie zu realisieren trachteten.

Die praktische Relevanz des theoretischen Gedankens ist kein zufälliges »by-product« der Theorie, sondern Moment einer der materialistischen Dialektik innewohnenden antizipatorischen Kritik des Materialismus (alles andere Restauration des Idealismus); wäre sie das nicht, so würde die Theorie zur fatalistischen Prophetie unter optimistischen Vorzeichen degradiert und die Geschichte zum Mechanismus unabänderlicher Naturgesetze (Rationalisierung ist eine sehr bewusste, nämlich willkürliche und gewaltsame Begründung). Trotzki formuliert daher richtig: »Und dabei können wir uns erneut, und zwar auf einer höheren Stufe, davon überzeugen, dass es auf dem theoretischen Gebiet des Marxismus für das praktische Handeln nichts Gleichgültiges gibt. Die entlegensten, und wie es scheinen könnte, ganz 'abstrakten' Meinungsverschiedenheiten, wenn sie bis zu Ende durchgedacht werden, müssen sich früher oder später in der Praxis äussern und diese lässt keinen einzigen theoretischen Fehler ungestraft.«(16)

Die historischen Bedingungen für Orhodoxie und Revisionismus, dogmatische Erstarrung und systemintegrativen Widerruf der vormals kritischen Theorie Marxens zur positiven Weltanschauung finden sich auch in den scheinbar praxisentferntesten und »abstraktesten« Verästelungen philosophischer Kontroversen wieder. Korsch geht über(17) zur kritischen Darstellung der höchst komplizierten und vielfältig gesellschaftlich vermittelten, aber keineswegs ausschliesslich auf einen vordergründigen mehr oder weniger »bewussten Klasseninstinkt« reduzierbaren Gründe, welche zum Verlust des durch die dialektische Philosophie Hegels vertretenen Reflexionsmodus führten und dessen Einfluss wie plötzliche Einflusslosigkeit nicht erklären konnten, sondern ideenhistorisch abbrachen.

Die bürgerliche Philosophie beschränkt sich durch drei grosse Borniertheiten(18), deren zwei sie auf selber noch »ideengeschichtlicher« Stufe (Dilthey) zu durchbrechen vermag (im Prinzip ist dies geschehen, faktisch bestehen sie weiter), deren letzte unter der Voraussetzung ideengeschichtlicher Darstellung nicht beseitigt werden kann.

1. »Die 'hochphilosophische' Schranke«: Die philosophischen Ideologen übersahen, dass der Ideengehalt einer Philosophie (wie dies gerade bei der Hegeischen Philosophie in hohem Grade eingetreten ist) nicht nur in Philosophien, sondern ebensogut auch in positiven Wissenschaften und gesellschaftlicher Praxis fortleben kann.

2. »Die 'lokale' Schranke«: Die deutschen Philosophen übersahen, dass die totgesagte Hegeische Philosophie eben zu der Zeit in Teilen des Auslandes in System, Methode und materiellem Gehalt sehr lebendig rezipiert und diskutiert wurde.

Beide Schranken sind grundsätzlich von der geistesgeschichtlichen Darstellung überwunden.

3. Die unüberwindbare dritte Schranke der bürgerlichen Philosophie ist der »bürgerliche Klassenstandpunkt«, der das wesentlichste a priori ihrer gesamten philosophischen und philosophiegeschichtlichen Wissenschaft bildet.«

a) Die bürgerliche Gesellschaft fungiert wie bei Marx so auch bei Korsch für die bürgerliche Gesellschaft als objektives, blindes transzendentales Subjekt, das es zu diesem Zeitpunkt verhindert, den historischen Zusammenhang von Erkenntnis und Gesellschaft, ideengeschichtlichem Philosophieprozess und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft einzusehen. (Bestimmte Teile philosophischen Denkens bleiben der bürgerlichen Ideengeschichte transzendent, es gibt weisse Flecke; daher das Ende der Philosophie in den vierziger Jahren und der schein bar abrupte Neuanfang in den sechziger Jahren.)

b) Dies ist vor allem der Grund für die Fehlinterpretation des deutschen Idealismus (Kant bis Hegel) als rein ideengeschichtlichen Prozess, den doch Hegel selbst und seine philosophischen Zeitgenossen als vernünftigen Ausdruck ihrer geschichtlichen Epocheder revolutionären Bewegung begriffen haben (dazu Lukäcs, Der junge Hegel, letztes Kapitel) »Die Revolution — wie Hegel sagt — als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen.« Korsch skizziert nunmehr (19) Hegels philosophischen Begriff der Revolution »als einen wirklichen Bestandteil des realen gesellschaftlichen Gesamtvorgangs der wirklichen Revolution.«

Er zitiert Hegel: Die Geschichte der Philosophie (Werke XV, S.485f). Danach ergibt sich folgendes: die vom revolutionären Prinzip bestimmte »grosse Epoche der Weltgeschichte, deren innerstes Wesen in der Philosophie der Geschichte begriffen wird«, sei lediglich von den Deutschen und Franzosen aktiviert worden; dabei kontrastiert er Deutschlands idealistische und Frankreichs realistische Partizipation am revolutionären Prinzip jener Geschichtsepoche (eine Rollenverteilung, die wie Korsch S. 84 unten anmerkt, auch Marx in den Frühschriften übernommen hat).

Die Franzosen (il a la tete pres du bonnet) haben das abstrakte Prinzip des Absoluten, die praktische Freiheit (Rousseau) unent-faltet und abstrakt zu realisieren versucht. Die als Abstraktion realisierte Abstraktion ist die Destruktion der Wirklichkeit. Die Deutschen haben den theoretischen Begriff des Absoluten, die Freiheit, im Bewusstsein ausgebildet. »Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei lässt der deutsche Kopf aber eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner.«(20)

Aus diesen wenigen Zeilen kann man lesen: die Revolution ist gescheitert; die praktische Realisierung des revolutionären Prinzips blieb abstrakt, seine theoretische Konkretion realisierte sich nicht.

Anmerkungen:

1 Die Exzerpte und Notizen zu Korsch sind nicht genau datierbar, wahrscheinlich 1966 oder 1967 entstanden- (Anm. d. Hg.)
2) K. Korsch. Marxismus und Philosophie, Frankfurt 1966, S 73
3) a.a.O.,S.77f
4) vgl. a.a.O. s. 73f
5) a.a.O.,3.74
6)  a.a.O..S.74f
7) a.a.O.. S 76
8) a.a.O..S.76f
9) a.a.O..S.77
10) a.a.O.,S.77f
11) Vgl. A. Schmidt, Zum Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt 1962, S. 58, Fussnote43
12) Vgl, Th. W. Adorno. Negative Dialektik, Frankfurt 1966, S. 255ff
13) Korsch. a.a.O., S 78
14) a.a.O.
15) a.a.O., S. 79f.
16) L. Trotzki, Die permanente Revolution, Frankfurt 1969, S. 7
17) Korsch, a.a.O.. S. 78f.
18)  Vgl.a.a.O..S.81ff.
19) a a.D.. S. 84
20) Hegel, Geschichte der Philosophie, Werke XV, S. 501. Siehe auch Korsch, a.a.O. S. 85

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Ffm. 1971, 136-144. Das Buch ist wieder erhältlich im Verlag Neue Kritik.