Kapitalistischer Stadtumbau & Stadtteilkämpfe

Pädagogisierung des Stadtteils
Über die Bedeutung von 'behutsamer Stadterneuerung' als präventive Sozialpolitik

von
Karl Homuth

10-2012

trend
onlinezeitung

... I came into contact witk the townplanning profession, where menofundoubtedgood-will have developed a set of techniques of undoubted po-litical impartiality for rais-understanding nearly every urban problem they encoun-teied.
John Rex (Race, Colonialim and the City)

I

In bestimmter Weise erinnern mich Stadtplaner an naive Lehrer. Ich meine die gutwilligen und fortschrittlichen Stadtplaner, und ich denke an jene reformeifrigen Pädagogen, die sich für die großen Demokratisierer der Gesellschaft halten. Beide schwingen sich zu Anwälten und Fürsprechern ihrer Klientel auf, ohne zu begreifen, daß sie ungebrochen im Dienste sozialer Selektion und Kontrolle stehen. Mehr noch: Indem sie mit aufrichtigem persönlichen Engagement einige historisch überholte Strukturen der Bevormundung, Benachteiligung und Disziplinierung verändern helfen, ermöglichen sie ein reibungsärmeres und effektiveres Funktionieren ihres gesellschaftlichen Teilbereichs.

Keine Angst - ich beabsichtige nicht, zum soundsovielten Male eine abstrakte Reformismusdiskussion anzuzetteln. Stattdessen möchte ich einen sehr modernen Typus von Stadtentwicklungspolitik für problembeladene innerstädtische Krisengebiete skizzieren, der in Berlin-Kreuzberg offenkundige Erfolge verbuchen kann: Mit der „behutsamen Stadterneuerung" gelang hier nicht nur die Befriedung und eine weitreichendere Integration einer militanten Protestbewegung; es scheinen sich darüber hinaus soziale Konfliktpotentiale präventiv abdämpfen und regulieren zu lassen.

Diese provozierende Aussage soll die Erfolge der „behutsamen Stadterneuerung" in keiner Weise schmälern. Zweifellos bricht „behutsame Stadterneuerung" mit den bislang üblichen Sanierungs- und Planungsverfahren: Die zentralbürokratische Betonplanung wich dezentralisierten Ansätzen.Stichworte wie Partizipation, Selbsthilfe, Genossenschaftsprojekte, alternative Wohnungsbauträger, soziokulturelle Experimente, Ausbau der sozialen Infrastruktur etc. verdeutlichen die Richtung des Umschwungs: Ansätze linker Kritik an der hergebrachten Stadtsanierung konnten zu handlungsleitenden Maßstäben der Kreuzber-ger Entwicklung avancieren. Ein Politikmodell gelangte zum Durchbruch, das die Dimension des Sozialen in den Vordergrund stellt.

Was sich hier vollzogen hat, ist weit mehr als ein sanierungspolitischer Bruch. Neben der Modifikation und Reform wohnungspolitischer Instrumente und Ziele wirkt die „behutsame Stadterneuerung" vor allem sozialpolitisch. Genauer: Sie formt bestimmte gesellschaftliche Widersprüche zu sozialpädagogisch handhabbaren Problemen um und weitet so die Einflußsphäre hoheitlichen Handelns auf bislang nicht erreichte und unkalkulierbare Bevölkerungsgruppen mit sogenannten abweichenden oder neuen Bedürfnissen, Kulturformen und Lebensperspektiven aus. Damit fungiert sie im Wechselspiel und als Ergänzung moderner CDU-Politik, die sie vor allem um weiche Methoden der Sozialintervention bereichert.

II

Meinen Eingangsvergleich von gutwilligen Stadtplanern und naiven Lehrern möchte ich nicht bloß als Polemik verstanden wissen. Es bestehen nämlich weiterreichende Parallelen, als sich auf den ersten Blick vermuten läßt: Bei beiden können wir beobachten, daß ihre Reformstrategien wesentlich auf eine Veränderung der Beziehungsstruktur zwischen professionellen Akteuren und den sogenannten Betroffenen gründen. Die Objekte von Planungs- und Erziehungsmaßnahmen wandeln sich zu beteiligten Subjekten; es entstehen informelle Kooperationsweisen, unkonventionelle Verkehrsformen und Vertrauensverhältnisse. Gleichwohl bilden diese Fortschritte eine Art intersubjektiven Vorhang, hinter dem die beauftragenden Institutionen durch ihre Akteure hindurch weiterhin wirken. Nur erscheint vormundschaftliche Versorgung jetzt als frei vereinbarte Übereinkunft; die institutionelle Komponente solcher sozialen Dienstleistungsbeziehungen verschwimmt selbst im Konfliktfall hinter den primär wahrgenommenen Störungen im zwischenmenschlichen Bereich.

Einer weiteren Gemeinsamkeit der gemeinten Planer und Pädagogen begegnen wir als Immunisierungshaltung gegenüber nicht-immanenter Kritik: Beide sind emotional, sozial und beruflich in die von ihnen initiierte Entwicklung eingebunden; auf dem Spiel steht ihre politische und soziale Identität. Daher bemessen sie ihre Praxis an den gerade überwundenen Verhältnissen, an bürokratischen Widerständen sowie dem komplexen Charakter der zu bewältigenden Aufgaben; so vermögen sie immerhin auf die relativen Erfolge ihrer Bemühungen hinweisen. Weiterhin reduzieren sie nicht zu verdrängende Schwierigkeiten auf fachspezifische Fragen und ziehen sich hinter die Dringlichkeit zurück, dem ständigen Überhang alltäglicher Anforderungen standzuhalten. Und schließlich fühlen sie sich durch das Fehlen praktizierbarer Alternativen mit konkreten Handlungsanweisungen in ihrem Tun bestärkt und bestätigt.

Allerdings wirkt eine Argumentation in der Tat unbequem, die der Modernisierung und Reproduktion gesellschaftlicher Machtstrukturen in politischen Ansprüchen, in fortschrittlicher Berufspraxis und in links-alternativen Interaktionsformen nachgeht. Bedeutet sie doch den Entwurf einer Perspektive, in der etwa die Arbeit der Akteure „behutsamer Stadterneuerung" nicht als Lösung, sondern als administrative Verschiebung und damit als Teil der sozialpolitischen Problemlagen in Kreuzberg erscheint.

III

Ich begreife „behutsame Stadterneuerung" als einen widersprüchlichen Prozeß; genauer: als Verkörperung des Widerspruchs institutioneller Reformpraxis. Dies eröffnet mir die Möglichkeit, zwei scheinbar gegensätzliche Positionen gleichzeitig einzunehmen. Zunächst erkenne ich die von der „behutsamen Stadterneuerung" hervorgebrachten sozialen Fortschritte ebenso an wie das parteiliche Engagement ihrer Akteure auf Seiten der „Betroffenen". Andererseits insistiere ich auf ihrer ad-ministrativ-politischen Funktion als Instrument der gesellschaftlichen Herrschaftssicherung. Beide Positionen zusammen beschreiben die Realität „behutsamer Stadterneuerung" als moderne Form des Widerspruchs, diessen Konsequenz „behutsame Stadterneuerung" ist.

Diese Auffassung reflektiert insbesondere den konflikthaften Prozeß der Etablierung „behutsamer Stadterneuerung". Sie entstand im politischen Schnittpunkt und als Vermittlung verschiedener gesellschaftlicher Entwicklungen: dem Bankrott wachstumsorientierter Wohnungspolitik, dem Legitimationsverfall der regierenden Sozialdemokratie, dem sich ausdehnenden Betroffenenwiderstand und dem Handlungsdrang von Angehörigen einer kritischen Expertenöffentlichkeit. „Behutsame Stadterneuerung" bewegt sich seitdem in ihren Aktionsspielräumen und ihrer organisatorischen Gestalt entlang eines historisch variablen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses.

Es läßt sich also unschwer nachvollziehen: „Behutsame Stadterneuerung" erweist sich als außerordentlich dynamisches Transformationsinstrument zwischen Bürokratie und „Betroffenen". Sie überträgt Forderungen, Interessen und Bedürfnisse einer heterogenen Vielzahl von „Betroffenengruppen" in verwaltungsadäquate Problemdefinitionen und Verfahrensabläufe, dabei flexibilisiert, sensibili-siert und reformiert sie gleichzeitig die herrschende Administration. Es vollzieht sich ein wechselseitiger Lernprozeß, den der institutionelle „Partner" maßgeblich determinieren, und daher seine Übermacht behaupten kann.

Nun lassen sich gesellschaftliche Widersprüche bekanntlich nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man sie ignoriert oder leugnet. Möglicherweise sehen die fortschrittlichen Planer (wie auch übrigens die erwähnten Pädagogen) keine andere Wahl, als innerhalb des Widerspruchs ihrer Institution zu agieren. Indem sie hauptsächlich die Stärkung wie auch immer (miß-)verstandener Interessen der „Betroffenen" versuchen, können sie unter günstigen politischen Kräfteverhältnissen sogar einige mittelfristige Verbesserungen der Lebensverhältnisse durchsetzen. Jedoch: sie bearbeiten lediglich eine Seite des Widerspruchs. Die andere Seite - die Seite der gesellschaftlichen Macht - wirkt so in ihren Bemühungen unreflektiert fort: Bestenfalls wird sie noch als notwendiger, wenn auch als politisch sperriger Handlungsrahmen benannt; in der Regel aber bleiben selbst dann zentrale soziale Konsequenzen dieser Praxis unbegriffen.

IV

Um die Thematisierung dieser Konsequenzen geht es mir. Präziser: Ich möchte einige Strukturen der Macht nachzeichnen, an deren Produktion die „behutsamen Stadterneuerung" maßgeblich mitwirkt und die ich Pädagogisie-rung des Stadtteils nenne.

Dabei möchte ich zwei Aspekte dieses Problems aus meinen Überlegungen ausgrenzen: die Untersuchung, wie sich pädagogische Verhältnisse zwischen professionellen Akteuren und sogenannten Betroffenen einrichten (dies habe ich an anderer Stelle getan). Und die Erörterung der Frage, in welchen sozio-kulturellen und organisatorischen Formen politische Widerstandspotentiale in Kreuzberg überleben; hierin schließe ich ein Abwägen ihrer politischen Perspektiven ein, weil diese notwendige Diskussion sich an dieser Stelle und stellvertretend nur um den Preis der Peinlichkeit führen läßt.

Kommen wir also zur Sache. Was meine ich mit Pädagogisierung des Stadtteils? Und wie fügt sich diese Interventionsform in ein sich abzeichnendes Konzept „moderner" CDU-Politik ein?

Jenseits möglicherweise berlinspezifischer Sonderbedingungen lassen sich Ideologie und Praxis „behutsamer Stadterneuerung" als Teil gewandelter administrativer Reproduktionsund Legitimationsstrategien begreifen: Ich vertrete die These, daß non-direktive Steuerungsmethoden im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Marktmechanismen und harten staatlichen Interventionen zunehmende Bedeutung für ein „zukunftsorientiertes" Projekt kapitalistischer Sozialpolitik erlangen. Ich denke dabei vor allem daran, daß unter den Bedingungen verknappter ökonomischer Ressourcen und wirtschaftlichen Strukturwandels materielle staatliche Kompensationsleistungen auf konkurrierende Sozialgruppen aufgeteilt bzw. durch ideelle Surrogate ersetzt werden müssen; daß sehr divergierende politische und sozioökonomische Interessenlagen neu zu organisieren und gesellschaftlich anzubinden sind; daß schließlich die Kommunikationsfähigkeit der politischen Verwaltung davon abhängt, ob sie verschiedene oppositionelle Diskurse wahrnehmen und zumindest partiell integrieren kann.

Kennzeichnend für non-direktive Steuerungsmethoden ist eine Verschiebung von sozialer Leistungsverwaltung zu einer Art „So-zialisationspolitik": es vollzieht sich eine Aufwertung des zwischenmenschlichen Bereichs (Kommunikation, Interaktion); dezentrale und informelle Arbeitsweisen gewinnen an Bedeutung; Einstellungen, Orientierungen und Bedürfnisse werden zum Gegenstand der Intervention. Es geht um den Einbau soziokul-turellen Sinnpotentials, oppositioneller Phantasie, ökologischen Verantwortungsbewußtseins und alternativer Innovationskraft in Prozesse kapitalistischer Gesellschaftserneuerung. Bei alledem läßt sich deutlich eine Ideologisierung des sozioplitischen Prozesses ausmachen: Akzeptanz und Legitimation sozialer, politischer und ökonomischer Innovationen beruhen weniger auf ihren materiellen Inhalten; sie werden entlang der subjektiven Rezeption bereits sozial vorgeprägter und politisch beein-flußter Deutungsmuster gesteuert. Es scheint also, daß das primär ökonomische Regulations-modell keynesianischer Prägung durch eine verstärkte Einflußnahme auf „Köpfe und Bäuche" abgelöst wird.

Dieser Kampf um „Köpfe und Bäuche" -also um Einstellungen, Bedürfnisse und Gefühle — setzt freilich nicht erst mit der soge-nannten Wende ein. Es existieren bereits erprobte wissenschaftliche Methoden und Techniken zur Steuerung von menschlichem Verhalten und Wohlbefinden, von Leistungsmotivation und Anpassungsbereitschaft; sie werden seit geraumer Zeit etwa in den Bereichen Arbeitspsychologie, Gemeinwesenarbeit, Psychiatrie, Bildungswesen und polizeilicher Prä-vention mit Erfolg angewendet. Es fällt auf, daß diese Sozialtechnologien einen kommunikativen Austauschprozeß organisieren: Sie hängen — jedenfalls in ihren fortschrittlichen Varianten — von der aktiven Mitarbeit der jeweiligen Klientel ab. Sie entnehmen den sozialen Prozessen daher nicht einfach bloß kontrollrelevantes Wissen, das sie autoritär in Handlungsanweisungen umsetzen. Vielmehr suchen sie soziale Vorgänge zu lenken, indem sie die „Betroffenen" für bestimmte Handlungswege und Verfahrensweisen aktivieren; sie planen und kontrollieren also einen Pro-zeß, in dem inhaltliche Alternativen bereits ausgefiltert bzw. in ihrer Stoßrichtung umgebogen sind. Wie in den Naturwissenschaften bestimmt auch hier die Versuchsanordnung maßgeblich das erzielte Resultat.

Ein so eingerichteter Prozeßrahmen gestattet natürlich die Aufnahme einer Vielfalt von Lebens-, Kultur- und Arbeitsweisen der „Betroffenen". Ihre aktive Partizipation erscheint um so wünschenswerter, als sie das Bild einer offenen und demokratischen Situation vermitteln. Es kommt also weniger auf das „Was" als auf das „Wie" an. Dies erkennt offenbar auch van Geisten in seiner Kritik meines Ansatzes (in diesem Heft), wenn er derzeit einen unterbrochenen Kommunikationsprozeß zwischen den Akteuren „behutsamer Stadterneuerung" und den Kreuzberger Aktivisten konstatiert und beklagt: Damit scheint dem Konsensmodell der „behutsamen Stadterneuerung" eine wesentliche Grundlage zu fehlen; die basisorientierte Integrationsmaschinerie droht leerzulaufen.

V

Es läßt sich also kaum übersehen, daß die „behutsame Stadterneuerung" im Bereich der Sanierungspolitik einen Paradigmenwechsel nachholt, den die fortgeschrittenen Sektoren der Sozialtechnologie bereits vollzogen haben. Es kann daher nicht wundern, daß sie offensichtliche, wenn auch nicht unbedingt bewußte Anleihen bei diesen Diszplinen macht. Wenn wir nicht dazu neigen, ihre Praxis global als gerade für Linke vorbhildhaft zu mystifizieren, können wir zumindest eindeutige Parallelen in einem Geflecht aufeinander bezogener Teilprozesse sondieren: und zwar in der Differenzierung administrativer Organisationsformen (Dezentralisierung, Entbürokratisierung), in der Anwendung neuer Interventionstechniken (Beziehungsarbeit) und in der Veränderung der Expertentätigkeit durch neue Qualifikationen (Entprofessionalisierung, Reprofessio-nalisierung). Dazu wenigstens einige kurze Anmerkungen.

Weil „behutsame Stadterneuerung" in Kreuzberg vor allem Mängelverwaltung betreibt — ja angesichts öffentlicher Sparpolitik bzw. besser: Umverteilungspolitik betreiben muß — erhalten ihre interaktiven Interventionen, ihre auf soziokulturelle Problemlagen, auf das Alltagsleben bezogenen Dienstleistungen einen besonderen Stellenwert: Es geht darum, politisch unter konkurrierenden Ansprüchen zu vermitteln, „abweichende" Lebensweisen und fremde Kulturformen tolerierend einzubauen, neue soziale Orientierungen und Indentitäten zu fördern und die Bewohner mit „ihrem" Stadtteil zu identifizieren. Ich wiederhole und betone: Beziehungsarbeit gewinnt ein Übergewicht gegenüber materiellen Leistungen und realen Verbesserungen der Lebensverhältnisse.

Es grenzt an Boniertheit, diese Argumentation zu verdrehen und mir vorzuwerfen, ich übersähe oder verkannte die drängenden sozialen Notlagen der Kreuzberger Bevölkerung,

die der dringenden Abhilfe bedürfen und die somit die Interventionen der „behutsamen Stadterneuerung" legitimierten. Ich sage etwas völlig verschiedenes: Helft, wo ihr könnt! Eure Möglichkeiten, steigende Mieten zu verhindern, den weiteren Verfall des Gebiets dauerhaft zu beenden, der Arbeitslosigkeit entscheidend entgegenzuwirken und die gesellschaftliche Diskriminierung der Ausländer aufzuheben, sind ohnehin äußerst begrenzt. Aber bitte bedenkt, daß die Strukturen, in denen sich eure Hilfe bewegt, einen sozialen Preis fordern: Sie weiten administrative Interventionsräume aus und chronifizieren soziale Abhängigkeiten. — Um ein beliebtes Bild aus der Sozialarbeit zu bemühen: Selbstverständlich muß man dem Frierenden Kohlengeld und einen warmen Wintermantel bewilligen; darauf zu hoffen, daß er sich ohne diese Unterstützung vielleicht radikalisieren und zur Wehr setzen würde, ist ebenso unmenschlich wie politisch abenteuerlich und naiv. Aber es ist doch wohl ein Skandal, wenn diese Hilfeleistung mit sozialer Entmündigung und administrativer Kontrolle verkoppelt wird.

Diesen Gedankengang möchte ich weiterentwickeln, um die Verwandtschaft „behutsamer Stadterneuerung" mit einigen modernen Sozialtechnologien zu verdeutlichen. Nehmen wir ein gleich provokantes wie beliebiges Beispiel heraus: polizeiliche Präventionsprogramme.

Niemand bestreitet, daß „behutsame Stadterneuerung" nicht bloß Stadtreperatur leisten und individualisiert soziale Defizite abmildern will; ihr Ansatz zielt vornehmlich auf die Entwicklung des Stadtteils und richtet sich an die Gruppen des sozialen Netzwerkes. Damit vollzieht sie den Übergang vom Reparaturschema zum Präventionsschema, vom pathologischen Fall zur pathogenen Situation. Sie geht sogar noch weiter: Sie trägt ihre Interventionen nicht von außen an den Stadtteil heran, sondern begründet die aus dem Sozialkörper selbst heraus. Sie ist bemüht, sie dem dort herrschenden Problembewußtsein und den akzeptierten Verkehrsformen anzugleichen. Dieses Vorgehen markiert eine Verschiebung der formellen zu einer reellen Subsumtion des Stadtteils unter administratives Kommando, eine — um es paradox zu formulieren -- weiche Zwangsbehandlung, die als „Aktivierung sozialer Selbstheilungskräfte" firmiert.

Bis in einzelne Formulierungen hinein finden sich Entsprechungen mit einigen Strategien zur Bekämpfung jugendlicher Bandenkriminalität, wie sie etwa in US-amerikanischen Metropolenslums durchgeführt werden. Ohne auf spezifische Differenzierungen, Probleme und Erfolgsquoten eingehen zu können, will ich hier doch einige charakteristische Merkmale benennen: Delinquentes Verhalten wird als Problem der jugendlichen Gang und ihres Gemeinwesens aufgefaßt. Es geht daher darum, die Bande durch sozialpädagogische Intervention (z.B. street work) auf anerkannte Normen und Aufgaben der Community zu verpflichten und sie gleichzeitig zur Jugendgruppe zu entstigmatisieren. Dies geschieht sowohl in Kooperation mit lokalen Sozialgruppen (z.B. Elternbeiräte) und Institutionen (z.B. Schulen und Bewährungshilfestellen) als auch unter Präsenz kontrollierender und repressiver Instanzen. Eine besondere Rolle fällt hier den sogenannten einheimischen Betreuern zu, die als oftmals selbst ehemalige Gangmitglieder leichter Vertrauensbrücken schlagen und als Vorbilder anerkannt werden. Da ihre Arbeit hauptsächlich anregt, ermutigt und berät, verlagert sich die Ursachenwahrnehmung von Kriminalität de facto und praktisch weg von Arbeitslosigkeit, Wohnsituation, gesellschaftlicher Diskriminierung etc. hin zu dezentral veränderbaren Faktoren. Es läuft darauf hinaus, welche Integrationsmöglichkeiten die Bewohner eines so bezeichneten Problemviertels selbst zuwege bringen können (Stadtteilkultur, Freizeit, Begegnung, Sport), d.h. welche Handlungskompetenz der Nachbarschaft über z.B. öffentlich geförderte Jugendhilfeträger zu entwickeln ist.

Wir finden hier Elemente wieder, wie sie auch bei Strategien der sozialen Krisenintervention, der Gemeinwesenarbeit, der Sozialpsychiatrie etc. anzutreffen sind: Es findet eine stetige Vermittlung menschlicher Lebenswelten mit gesellschaftlichen Institutionen statt. Nicht grundlegende Probleme und ihre gesellschaftlichen Ursachen werden angegangen, sondern ihre subjektive Wahrnehmung und kollektive Verarbeitung werden beein-flußt. Stigmatisierungen nach innen verlieren an Bedeutung, dafür wird nach außen das bearbeitende soziale System (z.B. der Stadtteil) als ganzes umso stärker als problemerzeugend abgestempelt; zumeist muß ein öffentliches Negativbild schon deshalb aufgerichtet werden, um überhaupt in den Genuß staatlicher Finanzmittel und Sonderförderungen gelangen zu können.

VI

Deutlich macht unser Beispiel auch, daß es sich bei den diskutierten Interventionsmodellen darum handelt, Probleme zu regionalisie-ren, zu dezentralisieren und an die „Betroffenen" zurückzuverweisen. Ohne daß die mit der Intervention beauftragte öffentliche bzw. privatrechtliche Instanz auf ihre sozialpädagogischen Einflußmöglichkeiten verzichten müß-te, kann sich die lokale Selbstregulation ausdehnen. Dies wird vor allem dann der Fall sein, wenn skandalöse Mißstände innerhalb des Stadtteils wenigstens als partiell beseitigt gelten und sich gleichzeitig die Aktivisten unter den „Betroffenen" auf ideelle Surrogate umorientiert haben: Das heißt, daß sie sich innerhalb der bestehenden Verhältnisse einzurichten beginnen und hier eine akzeptierte und ihrem Selbstbild entsprechende Identität finden.

Der Beginn eines solchen Prozesses wird heute in Kreuzberg sichtbar. Es scheint angeraten, die Vorstellung zu revidieren, in Kreuzberg entstehe ein bereits abgeschriebenes Getto, das vornehmlich sogenannte soziale Problemgruppen konzentriere. Zwar ist dieser Trend nach wie vor evident, jedoch lassen sich auch Gegenbewegungen ausmachen: Ich meine den Wegzug von türkischen Familien, die aufgrund von Ausländerpolitik, Wirtschaftskrise u.a. in die Türkei zurückkehren. Dieser Prozeß scheint quantitativ eine Rolle dabei zu spielen, daß die offiziellen Einwohnerzahlen Kreuzbergs seit mehreren Jahren erstmals wieder rückläufig sind. Ich denke ferner an eine zunehmende „gentrification" Kreuzbergs, die Ausbreitung einer Kultur-Schickeria-Szene. Es deutet sich an, daß hier ein wie immer „alternatives" Konzept von Kultur hegemoniale Funktionen ausfüllt.

Diese Tendenzen unterstützen eine von der CDU gewollte Entwicklung: den Übergang zu weniger etatistischen und mehr marktorientierten Formen „behutsamer Stadterneuerung". So steht zum Beispiel die Gründung eines neuen privaten Sanierungstreuhänders anstelle der Altbau-IBA ins Haus; ebenso höhere Mieten, mehr mittelständige Selbsthilfe und die Übernahme von Beratungsleistungen über alternative Finanzierungs- und Trägerfragen durch private „consult-Gesellschaften".

Wir stehen vor einer Situation, die sich augenscheinlich nicht nur durch eine gewisse politische Stabilität auszeichnet, sondern auch durch ein integratives und produktives Sozialklima geprägt wird: jedenfalls finden sich Teile der oppositionellen Szene bereit, in kleinen überschaubaren Bereichen Verantwortung zu übernehmen. Obwohl oder gerade weil nach dem Niedergang der Besetzerbewegung ein konsistentes soziales Beziehungsgeflecht und gemeinsame Orientierungen selbst in der linksalternativen Szene real nicht existieren, stehen künstliche symbolische Ordnungen mit hohem Identifikationsgehalt hoch im Kurs: Die Planerfiktion „Kiez", diese mystische Zurückgewinnung einer idealisierten „Kreuzberger Mischung", diese anachronistisch-harmonisieren-de Begriffsidylle hat hier eine durchaus bedeutsame Existenz angenommen: Trotz weiterhin ungelöster wohnungspolitischer und sozialer Probleme, auch trotz verringerter direkter Einflußmöglichkeiten auf das politische Geschehen und trotz — vielleicht aber gerade wegen - der begonnenen Ausdifferenzierung, Neuorientierung und Fragmentierung gruppenspezifischer wie privater Interessen, steigen Teile der Szene auf die Suggestion „unser Kiez" ein. Sie empfinden sich als soziokulturell prägend, als politisch repräsentiert; ihre ökologischen und sozialen Experimente gewinnen einige Anerkennung; ihre Arbeitskollektive können auf dem Markt bestehen; irgendwie können sie zu sich selbst finden (vielleicht auch ein wenig deshalb, weil sie sich vom Druck selbstauferlegter bzw. szene-öffentlich vorgehaltener, kämpferischer Ansprüche befreit fühlen).

Wenn dem so wäre - und vieles deutet darauf hin - hätte sich eine Neuzusammensetzung des oppositionellen Kreuzberger Spektrums vollzogen. Es hätte sich eine Konstellation herausgebildet, die den erreichten Status quo stützt oder zumindest toleriert. Damit wäre das CDU-Konzept vorläufig aufgegangen; und zwar wesentlich auch deshalb, weil großen Teilen der Szene erfolgreich vermittelt werden konnte, sie hätten — und sei es nur gefühlsmäßig — wieder etwas zu verlieren.

Vergessen wir dabei eines nicht: Es gibt auch Pädagogik ohne professionelle Pädagogen: wenn jeder sein eigener Pädagoge ist und Beziehungsansprüche aus seiner Therapiegruppe, dem Arbeitskollektiv, der Wohngruppe, dem Selbsthilteprojekt ihn/sie bei der Selbststeuerung kraftig unterstützen. Das sozio-kulturelle und politische Klima hierfür ist günstig.

VII

Nun höre ich bereits laute Einwände: Vielleicht sei ja die „behutsame Stadterneuerung" der CDU nicht ganz ungelegen gekommen; vielleicht hätten die Akteure „behutsamer Stadterneuerung" sogar gegen ihre eigenen Ansprüche zur politischen Befriedung Kreuzbergs beigetragen. Aber sie fungieren deshalb doch nicht als Teil eines Konzepts, und schon gar nicht der CDU.

Sehr wohl, und zwar weniger in kausaler als in finaler Hinsicht: Mir scheint, daß die Politik der CDU immer noch zu stark durch das Raster ihres Lummer-Images bewertet und deshalb ihre Flexibilität, ihre Integrationskraft und ihre Zukunftsorientierung beträchtlich unterschätzt wird: Wer hauptsächlich Repres-sion, roll-back und Wertkonservatismus erwartet, übersieht leicht, daß daneben durchaus auch „moderne" Politikformen existieren -etwa das ideologische Eindringen in den informellen Sektor; ein gewisser kultureller Liberalismus; die Modernisierung der Wirtschaftsstruktur durch Förderung neuer Medien, Technologien und Produkte (z.B. auch im Bereich von Umweltschutz und Ökologie), die Erprobung regionaler und den Alternativsektor einschließender Programme der Wirtschaftsförderung, schließlich die offensive Formulierung der sogenannten neuen sozialen Frage.

Es gibt also gute Gründe, das Zusammenspiel harter und weicher Interventionen, reaktionärer und fortschrittlicher Ideologien sowie rechter und linker Parteiflügel nicht für ein zufälliges Nebeneinander zu halten, sondern als zwar nicht reibungslose, aber doch gegenseitige Ergänzung im Rahmen eines allgemeineren Konzepts zu begreifen.

Was etwa die Lösung der „Hausbesetzer-frage" angeht, so läßt sich klar belegen, daß diese auch seit der CDU-Senatsübernahme als Komposition gerichtlicher, polizeilicher, pädagogischer und städtebaulich-wohnungspoliti-scher Teilstrategien angelegt war. Im Kontext einer weitreichenden ökonomischen Umorientierung der Stadt und der Produktion eines neuen Berlin-Images zielte das Gesamtkonzept auf unterschiedliche Ziele hin: sozialpolitische Stabilität herzustellen und dabei differenzierte Handlungsfähigkeit zu beweisen; die Hausbe-setzerbewegung zu zerschlagen, dabei aber verschiedene Gruppen zur aktiven Mitarbeit an Stadterneuerungsmaßnahmen zu motivieren; die links-alternative Szene nicht sozial zu isolieren, sondern zu spalten und besonders ihre kulturellen Potenzen und sozialen Experimente für Berlin als „Stadt der Zukunft" zu nutzen. Für die anvisierten sozialen Trägergruppen der Erneuerung Berlins sollte die Politik des Senats schließlich als konsequent aber liberal, als zielbewußt und zugleich weltoffen, als innovativ und zuverlässig, als vertrauenswürdig und experimentierfreudig dastehen.

Es läßt sich kaum übersehen, daß der „behutsamen Stadterneuerung" in einem solchen Konzept eine besondere Rolle zufällt: Vor allem in der Phase, als die angestrebten Strukturveränderungen Berlins sich auf dem Markt ( also auch in Konkurrenz zu anderen Regionen) durchsetzen müssen, gilt es, gesellschaftliche, politische und kulturelle „Umfeldbedingungen" nicht nur zu normalisieren, sondern ein positives innenpolitisches Klima zu erzeugen, das die Bereitschaft zu risikoreichen Innovationen und Gründungen fördert sowie anziehend auf junge Führungskräfte wirkt.

Die CDU hat in ihrer Wahlkampfwerbung diese Zusammenhänge hervorgehoben. Und es hat sich deutlich gezeigt: mit Erfolg.

Notabene:

Bekanntlich hat Fürst Potemkin der russischen Zarin nicht nur potemkinsche Dörfer vorgesetzt; er hat auch tatsächlich weite Gebiete besiedelt und zahlreiche Städte und Hafenanlagen gegründet. Was aber zumeist vergessen wird: Als enger Vertrauter der Herrscherin ge-noß er das Privileg, sie bei der Auswahl ihrer Liebhaber zu beraten. Wenn dies seine Beziehung zur Macht nicht eindeutig belegt...

Literaturhinweise

Um dem Leser/der Leserin die Pönitenz eines bösen Fußnotengeschwulstes (Weber) zu ersparen, habe ich im Text auf Anmerkungen verzichtet. Hier deshalb die notwendigsten Literaturhinweise:

ALHEIT, P.: Gemeinwesenarbeit. In: A. Wegmann (Hrsg.): Handbuch für die Soziologie der Weiterbildung. Darmstadt/Neuwied 1980

ARRAS, H.E.: Szenarien für Berlin. In: Stadtbauwelt 82. 1984

BOULET, J. u.a.: Gemeinwesenarbeit. Eine Grundlegung. Bielefeld 1980

CASTEL, F. u.a.: Psychiatrisierung des Alltags. Frankfurt/Main 1982

CLARKE, J. u.a.: Jugendkultur als Widerstand. Frankfurt/Main 1979

DIEDERICHSEN, D. u.a.: Stile und Moden der Subkultur. Reinbek 1983

ESSER. J./HIRSCH, J.: Der CDU-Staat: Ein politisches Regulierungsmodell für den „nachfordi-stischen" Kapitalismus. In: Prokla 56, 1984

FILIPP, S.-H. (Hrsg.): Kritische Lebensereignisse. Wien-München-Baltimore 1981

FINK, U.: Keine Angst vor Alternativen. Freiburg 1983

FUNK, A. u.a.: VerreChtlichung und Verdrängung. Opladen 1984

GREVEN, M.Th./SCHILLER, Th.: Selektive Interessenpolitik bei genereller Akzeptanz. In: Prokla 56, 1984

GREVERUS, I.-M.: Kultur und Alltagswelt. München 1978

HARTMANN, D.: Die Alternative. Leben als Sabotage. Tübingen 1981

HIRSCH, J.: Der Sicherheitsstaat. Das .Modell Deutschland', seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. Frankfurt/Main 1982

HOMUTH, K.: Statik Potemkinscher Dörfer. „Behutsame Stadterneuerung" und gesellschaftliche Macht in Berlin-Kreuzberg. Berlin 1984

HOMUTH, K.: Modell einer schönen alten Stadt? In: extra sozialarbeit 8/84

ISFF (Hrsg.): Diktatur der Freundlichkeit. Freiburg 1984

KEUPP, H./RERRICH, D. (Hrsg.): Psychologische Praxis - gemeindepsychologische Konsequenzen. München-Wien-Baltimore 1982

MATZNER, E.: Der Wohlfahrtsstaat von morgen. Frankfurt/Main-New York 1982

PETERS, F. (Hrsg.): Gemeinwesenarbeit im Kontext lokaler Sozialpolitik. Bielefeld 1983

SCHMIDBAUER, W.: Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe. Reinbek 1983

SCHÜLER-SPRINGORUM, H. (Hrsg.): Mehrfach auffällig. Untersuchungen zur Jugendkriminalität. München 1982

SIEBEL, W.: Krisenphänomene der Stadtentwicklung. In: ARCH+ 75/76, 1984

SPECHT, W.: Jugendliche Banden und Präven-tionsprogramme in den USA. In: Neue Praxis 2/84

WILLIS, P.: Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule. Frankfurt/Main 1979

WILLIS, P.: Guttural Production and Theories of Reproduction. In: Barton, L./Walker, S.: Race, dass and education. Beckenham 1983

WINKLER, M.: Alles unruhig im Lande? Krise des Wohlfahrtsstaates, soziale Bewegung und die Aufgabe der Sozialarbeit. In: Neue Praxis 2/84

ZIEHE, T./STUBENRAUCH, H.: Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Reinbek 1982

Editorische Hinweise

Der Aufsatz erschien in der Nr. 59 von "Ästhetik und Komunikation", Schwerpunktthema: Politik der Städte. Westberlin 1985, S. 78-85

OCR-Scan red. trend

Bereits im Jahre 2010 veröffentlichten wir zahlreiche  Artikel zum Stadtumbau im Kapitalismus