trend spezial: Die Organisations- und Programmdebatte

Zwei Wege, zwei verschiedene NaO-Konzepte

von Tino P.

10-2012

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Es kristallisiert sich immer deutlicher heraus, es gibt in dem bis heute an der Diskussion teilnehmenden politischen Milieu zwei unterschiedliche Konzeptionen einer NaO.

Die einen denken in der Logik einer Konzeption eines breiten, klar antikapitalistischen Anziehungs-Pols und die anderen – ohne das klar und offen auszusprechen – in der Logik einer eher engen revolutionär-sozialistischen Organisation. Für die erstere Tendenz passt das Kürzel NaO, die zweite Tendenz redet zwar auch von einer NaO, denkt und handelt jedoch wie wenn es sich um die Gründung einer NrsO (Neue revolutionär-sozialistische Organisation) handeln würde. Aussprechen was ist, offen und direkt ansprechen, was man wirklich denkt halte ich für eine sehr wichtige revolutionäre Tugend. Es wäre schön, wenn mensch von Seiten der revolutionären Gruppierungen auch etwas davon spüren würde. Der ursprüngliche Kerngedanke einer NaO war etwas Grösseres, Breiteres, Undogmatisches und Unsektiererisches zu schaffen auf der Basis eines entschiedenen und glasklaren Antikapitalismus. Nun macht es jedoch den Anschein, dass daraus etwas ganz altbackenes wird, nämlich ein Kartell von einem halben Dutzend Gruppen, die in ihrem Innersten gar nicht an einem kühnen und in der Tat neuen Konzept des Politikmachens interessiert sind, sondern sich aus der Not ihrer Erfolglosigkeit heraus wie ertrinkende aneinanderklammern in der verzweifelten Hoffnung dabei nicht unterzugehen um dann weiter zu machen wie bisher. Denn etwas ändern an den alten jahrzehntelangen Gewohnheiten, wäre ja des Teufels, nein noch schlimmer es wäre RISKANT!

Hinter den beiden Tendenzen stehen unterschiedliche Prioritäten, Gewichtungen, eine unterschiedliche Aufbaustrategie und eine unterschiedliche Einschätzung der Krise der extremen Linken Deutschlands.

Konzeption breite NaO versus Konzeption enges Gruppenkartell

1. Neue objektive Situation: Die Konzeption einer breiten NaO gewichtet die objektive Lage viel stärker als diejenigen, die in Richtung Gruppierungskartell gehen. Die objektive Lage ist charakterisiert durch zwei neue Elemente: a) Deutschland ist die aufsteigende neue Ordnungsmacht in Europa und längerfristig möglicherweise sogar weltweit. b) Seit der neuen Etappe der Krise des Kapitalismus ab 2008/2009 wäre auch in Deutschland der Aufbau eines gesellschaftlich relevanten klar antikapitalistischen Pols, neben dem bereits existierenden konfus-schwammigen antikapitalistischen Pol, repräsentiert durch die PdL, objektiv möglich. Das erste ist eine Gefahr, das zweite eine Chance, die nicht verpasst werden sollte. Der aufsteigende deutsche “Weltmacht-Nationalismus” ist eine ungeheure Gefahr insbesondere für zukünftige vorrevolutionäre/revolutionäre Prozesse in Ländern Europas, in denen die Klassenkämpfe weiter fortgeschritten sind. Dieser Gefahr kann nur entgegengewirkt werden, wenn in D besagter gesellschaftlich relevanter klar antikapitalistischer Pol entsteht. Für die Schaffung eines gesellschaftlich relevanten revolutionär-sozialistischen Pols gibt es meiner Ansicht nach heute und in den nächsten paar Jahre keinen objektiven Boden, hauptsächlich aufgrund der Nachwirkungen des besonders tief greifenden historischen Versagens der extremen Linken Deutschlands der letzten 50 Jahre.

2. Akkumulation von Kräften: Ohne Truppen kann man zwar über Krieg reden, aber man kann nicht Krieg führen. Mensch ersetze das Wort Krieg durch Klassenkämpfe. Wir befinden uns in einer Phase der “primitiven ursprünglichen Akkumulation” von Kräften, ein gewisses Mass an quantitativer und qualitativer Akkumulation ist Voraussetzung für gesellschaftliche Relevanz, Voraussetzung für eine politische Intervention, die auch wahrgenommen wird. Diese Akkumulation im Rahmen eines NaO-Konzepts ist möglich, sie ist nicht möglich im Rahmen einer NrsO, weil die Vertiefung der kapitalistischen Krise ein breiteres Ansprech-Milieu für ersteres Konzept geschaffen hat, aber noch nicht für das Zweite und infolge des oben erwähnt historischen Versagens.

Wenig, sehr wenig deutet bei den NaO-Gruppierungen auf einen tieferen Läuterungsprozess hin. Die Tatsache, dass für ein simples Flugblatt zur Umfairverteilung fast ein Monat um jedes Wort und Komma herumgefeilscht werden musste, spricht dagegen. (wegen der fetischartigen Fixierung auf das programmatische). Wir haben jetzt zwar ein Flugblatt mit dem alle NaO-Gruppen leben können, das aber so fade und langweilig ist, dass wir damit kaum einen neuen Menschen von der Attraktivität eines NaO-Projekts überzeugen werden. Und dies sollte eigentlich das Hauptziel eines jeden Flyers, eines jeden theoretischen Erzeugnisses und jeder praktischen politischen Intervention sein.

3. Programm und Aufbaustrategie: Das schlimmste Dogma (= festhalten an Positionen, obwohl die Erfahrungen sie widerlegt oder zumindest relativiert haben) der revolutionär-sozialistischen Strömungen, vor allem derjenigen trotzkistisch-leninistischer Prägung, ist der Irrglaube, dass diejenigen Kräfte “Geschichte machen”, die das korrekte revolutionäre Programm repräsentieren. Diesem Irrglauben ist schon Trotzki aufgesessen als er in der grossen Industriealisierungsdebate zwischen 1922-1926 wie ein Besessener für das korrekte Programm kämpfte, anstatt z.B dafür zu sorgen, dass Stalin und Sinowjew nicht massenweise die Delegiertenwahlen zu den Parteikongressen fälschten, also anstatt auf der Demokratiefrage zu beharren. Am Ende hatte er zwar ein perfektes Programm auf dem Papier, aber den Machtkampf in der Partei hatte er verloren und damit auch die Umsetzung des korrekten Programms.

Die Verabsolutierung der Frage des so genannt korrekten Programms ist ein Charakteristikum der Konzeption einer NrsO. Sie ist sichtbar z.B. nicht nur in den sinnlosen, sondern auch noch abstossenden programmatischen Insider-Schlachten im NaO-Diskussionsblog oder in der Art der Erarbeitung der beiden bisherigen Flyers. Über den Erfolg oder Misserfolg eines NaO-Projekts entscheidet aber bei Weiten nicht nur die Perfektheit des Programms, sondern ebenso die Aufbaustrategie, das Niveau der internen Demokratie, die taktische Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, die Glaubwürdigkeit der Organisation (praktiziert sie auch das was sie predigt, ist sie auch so undogmatisch wie sie behauptet etc?) und Faktoren der Psychologie (Integrität, emotionale Ausgeglichenheit, charakterliche Reife, kritisches Denken, mutiges Denken respektiv die negativen Kehrseiten wie egomanisches Verhalten, Cliquenwesen etc.)

Zur Aufbaustrategie. Jakob von der RSB schreibt in einem Text auf dem Blog folgendes: “Tatsache ist, dass die Herausbildung einer Neuen antikapitalistischen Organisation in der unmittelbar vor uns liegender Phase, also der nächsten zwei bis vier Jahre, sich im Wesentlichen aus dem Spektrum der heute bestehenden linksradikalen Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen speisen wird….“ Diese Variante der engen Konzeption gerade von Jakob erstaunt sehr . Ein Block der heute existierenden Gruppierungen, wäre völlig unattraktiv für noch Unorganisierte, d.h. wir würden in den nächsten vier Jahren mit einer leicht vergrösserten Variante der famosen “27. Gruppierung” leben?
Eine NaO-Konzeption, die sich nicht von Anbeginn an ganz bewusst und mit voller Kraft die Organisierung von heute noch Unorganisierten zum obersten Ziel setzt, heisst konservativ weiterfahren wie bisher, heisst nicht über die Bücher gehen über die verheerenden Politik der Verabsolutierung des reinen Programms und des daraus sich ergebenden Dogmatismus und Sekten- und Zirkelverhaltens.

Die Konzeption einer breiten klar antikapitalistischen NaO geht davon aus, dass die Vertiefung der kapitalistischen Krise NEU ein potentielles Bedürfnis nach einem radikal antikapitalistischen Pol geschaffen hat. Ein Bedürfnis, das die verknöcherte, konfus antikapitalistische Wahlpartei PdL nicht befriedigen kann. Eine Chance, die JETZT genutzt werden sollte. Und wo befindet sich dieses Milieu mit diesem Bedürfnis? Überall dort, wo grössere und länger andauernde Kämpfe stattfinden und eben weil es sich um grössere und vor allem länger andauernde handelt, stellt sich natürlicherweise Fragen des Systems und in der Folge die Suche nach einer attraktiven antikapitalistischen Organisation.

In einem früheren Text erwähnte ich mal gewisse Analogien in der Entwicklung resp. Wiederentwicklung eines breiten und soliden antikapitalistischen Klassenbewusstseins heute und in der Zeit des Aufstiegs der 1. Internationale um 1865-70. Natürlich gibt es eine Menge zu berücksichtigende Unterschiede zwischen damals und heute, nichts desto trotz lohnt sich ein Blick auf die von Marx entwickelte Aufbaumethode der Internationale. Die gesamte Energie der Organisation wurde investiert in die Unterstützung EXEMPLARISCHER Streiks, in die Schulung der neu einströmenden individuellen und kollektiven Mitglieder und in die Entwicklung eines antikapitalistischen und sozialistischen MINIMALPROGRAMMS anhand von jährlich stattfindenden Kongressen. Diese Streiks dauerten damals wochenlang und weil es keine Streikkassen gab war nebst der politischen Unterstützung die materielle Solidarität lebenswichtig. Die Internationale organisierte diese Unterstützung rasch und effizient und gewann jedes Mal Tausende von neuen Mitgliedern, nach einem Streik in Lyon 3000, in Edingburg 2000, in Basel 1000. In fünf Jahren hatte sie in Grossbritanien, Frankreich, Belgien, der Schweiz, Spanien und Deutschland weit über 100’000 Mitglieder.
Eine zum Verwechseln ähnliche Aufbaustrategie wendete die brasilianische PT vor allem in den ersten 5 Jahren an. 100’000 Mitglieder nach fünf Jahren 200’000 im Jahre 1990 zehn Jahre nach ihrer Gründung. Ich höre schon die Rufe – ja und genau deshalb ist sie reformistisch und am Ende sogar neoliberal degeneriert! Falsch. Hätten die revolutionären Tendenzen, die 1989, am nationalen Parteikongress, wenn ich mich recht erinnere 48% der Delegierten hatten, statt sich über zweitrangige programmatische Fragen zu streiten, sich auf das Wesentliche konzentriert, dann hätten sie 1991 die Gelegenheit beim Schopf gepackt, hätten den organisatorischen Bruch mit dem Reformismus vollzogen und wären mit 50’000 Mitglieder, davon 20’000 AktivistInnen ausgezogen zur Gründung einer revolutionär-sozialistischen Partei.

4. Manifest und Politische Leitgedanken: In der Logik der oben beschriebenen Aufbaustrategie sollte nun einem Entwurf eines zündenden, höchsten fünfseitigen Manifest die volle Aufmerksamkeit gelten. Der Entwurf sollte am besten von einer geeigneten und repräsentativen Kommission erstellt werden. Eine nationale Konferenz im Fruehjahr 2013 würde sie mit den letzten Verbesserungen absegnen und deren gezielten Gebrauch diskutieren.
Dieselbe Konferenz beginnt auch eine Diskussion über die absolut notwendigen politischen Leitgedanken. (ich bin fur die offizielle Ersetzung des Begriffs Essentials durch politische Leitgedanken, weder insiderchinesisch der radikalen Linken noch modischer Anglizismus, sondern ganz normales an die Aussage gebundenes Deutsch!!) Die bisherigen 5 Leitgedanken, das dürfte allen klar sein reichen nicht aus. Die Konferenz legt fest wie viele und welche politischen Leitgedanken zur Gründung der NaO unverzichtbar sind. Kein ausufernden “Verfassungstext”, aber schätzungsweise 10 Leitgedanken als Minimalkonsens sind angebracht. Kommissionen formulieren relativ zügig die Leitgedanken in einer festzulegenden Frist aus.

Herbst 2013 Gründungskongress der NaO, Verabschiedung der politischen Leitgedanken. Alle die die Leitgedanken gut heissen, können individuell oder als Gruppe Mitglied der NaO werden. Diskussion und Beschlüsse zu den absolut notwendigen organisatorischen Strukturen und den für alle geltenden zwei, drei wichtigsten Arbeitsthemen. In allen anderen Arbeitsbereichen bleiben die regionalen NaO-Kollektive autonom.

Editorische Hinweise

Der Text erschien zuerst auf der Blog des NaO-Prozesses am 1.10.2012. Wo er auch diskutiert werden kann. Von dort spiegelten wir ihn.