Ökonomie und
Ideologie. Die Behauptung, die wie ein grundlegendes
Postulat des historischen Materialismus vorgebracht
wird, daß jede Bewegung in der Politik und der Ideologie
als ein unmittelbarer Ausdruck der Basis darzustellen
und zu erklären ist, muß theoretisch als primitiver
Infantilismus und praktisch mit dem authentischen
Zeugnis von Karl Marx bekämpft werden, der konkrete
historische und politische Werke verfaßt hat. Unter
diesem Gesichtspunkt sind besonders wichtig der ,,18.
Brumaire" und die Schriften über die „Eastern
Question"(1), aber auch andere („Revolution und
Konterrevolution in Deutschland", „Der Bürgerkrieg in
Frankreich" und kleinere). Eine Analyse dieser Werke
ermöglicht es, die marxistische historische Methodologie
genauer zu bestimmen, indem man die in allen Werken
verstreuten theoretischen Thesen zusammenstellt, erklärt
und interpretiert.Man kann dabei sehen, mit welch
großer Zurückhaltung Marx an seine konkreten
Untersuchungen herangeht; diese Zurückhaltung war in den
allgemeinen Werken nicht mehr angebracht. Für diese
Zurückhaltung sollen folgende Beispiele angeführt
werden:
1. Die Schwierigkeit, die Basis jeweils statisch (wie
eine fotografische Momentaufnahme) zu erfassen. Die
Politik ist in der Tat stets die Widerspiegelung der
Entwicklungstendenzen der Basis, diese Tendenzen müssen
aber nicht unbedingt zu ihrer vollen Entfaltung kommen.
Ejne Phase der Basis kann erst dann konkret studiert und
analysiert werden, wenn sie ihren gesamten
Entwicklungsprozeß durchlaufen hat, und nicht schon
während des Prozesses selbst. In diesem Fall darf man
nur eine Hypothese aufstellen, wobei man ausdrücklich
betonen muß, daß es sich um eine Hypothese handelt.
2. Daraus folgt, daß einer bestimmten politischen
Handlung durchaus ein Kalkulationsfehler von Führern der
herrschenden Klassen zugrunde gelegen haben kann, ein
Fehler, den die historische Entwicklung im Zuge der
parlamentarischen Regierungskrisen der herrschenden
Klassen korrigiert und überwindet: Der mechanische
historische Materialismus zieht die Möglichkeit des
Irrtums überhaupt nicht in Betracht, sondern
sieht jeden politischen Akt unmittelbar durch die Basis
bestimmt, das heißt als eine Widerspiegelung einer
realen und dauerhaften (erworbenen) Veränderung der
Basis. Das Prinzip des „Irrtums" ist komplex: Er kann
auf einem individuellen Impuls auf Grund falscher
Einschätzung beruhen oder auch Ausdruck eines Versuchs
bestimmter Gruppen und Grüppchen sein, die Vorherrschaft
innerhalb der herrschenden Gruppierung an sich zu
reißen; Versuche, die scheitern können.
3. Es wird nicht genügend berücksichtigt, daß viele
politische Handlungen durch eine innere Notwendigkeit
der Organisation verursacht werden, das heißt, sie sind
durch das Erfordernis bedingt, einer« Partei, einer
Gruppe, einer Gesellschaft einen geschlossenen Charakter
zu geben. Das zeigt sich zum Beispiel klar in der
Geschichte der katholischen Kirche. Wenn man für jeden
ideologischen Kampf innerhalb der Kirche die
unmittelbare und ursprüngliche Erklärung in der Basis
suchen wollte, würde man schön hereinfallen: Darüber
sind viele politisch-ökonomische Romane geschrieben
worden. Es ist jedoch offensichtlich, daß der größte
Teil dieser Auseinandersetzungen sektiererischen
Charakter trägt und in der Organisation seine Ursache
hat. Es wäre lächerlich, wollte man bei dem Streit
zwischen Rom und Byzanz über die Herkunft des Heiligen
Geistes in der Basis Osteuropas die Bestätigung dafür
suchen, daß der Heilige Geist nur vom Vater herrührt,
und in der Basis des Westens, daß er von Vater und Sohn
herrührt. Die beiden Kirchen, deren Existenz und Konr
flikt durch die Basis und die ganze Geschichte bedingt
sind, haben Fragen aufgeworfen, die für jede ein Prinzip
der Unterscheidung voneinander und des inneren
Zusammenhangs sind, aber es hätte durchaus der Fall sein
können, daß die eine der beiden Kirchen gerade die
Behauptung aufgestellt hätte, die nun die andere erhoben
hat; das Prinzip der Unterscheidung und des Konflikts
wäre das gleiche geblieben, und eben dieses Problem der
Unterscheidung und des Konflikts stellt das historische
Problem dar, nicht die zufällige Parteinahme jedes der
beiden Teile.
Anmerkung 1) Gemeint ist die von Karl
Marx in der „New York Daily Tribüne" 1853
veröffentlichte Korrespondenz „The Eastern Question"
(„Die orientalische Frage", MEGA, Bd. 12, Berlin 1972,
S. 254-259).
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen:
Antonio Gramsci, Zu Politik Geschichte und Kultur, FfM
1980; S.219f
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