Die ersten freien, pluralistischen
und unmanipulierten Wahlen seit den (unvollendeten)
Revolutionen in Nordafrika im Winter 2010/11 sind gelaufen,
auch wenn genaue Einzelergebnisse zur Stunde des
Redaktionsschlusses bei Labournet - am Dienstag um 12.00 Uhr
mittags - noch ausstehen. Am Sonntag wählte Tunesien. Nähere
Ergebnisse werden im Laufe des Nachmittags erwartet.
Selbstverständlich werden die Resultate auch erhebliche
Auswirkungen auf die am 28. November 2011 anstehenden Wahlen
in Ägypten zeitigen.
Stärkste Kraft wurde die moderat
islamistische Partei En-Nahdha („Die
Wiedergeburt“, „Die Renaissance“), mit - wie es zur Stunde
aussieht - rund 35 % der Stimmen. Ihr könnten bis zu 40 % der
Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung zufallen. Nähere
Einzelergebnisse gilt es jedoch auch hier noch abzuwarten.
Ihren Erfolg machen mindestens zwei
wichtige Faktoren aus, neben ihrer bisweilen gepflegten
Agitation gegen laizistische Kräfte als Förderer von
Homosexualität und Unmoral: Zum Ersten betrieb die Partei, wie
viele islamistische Kräfte in der arabischen Welt, eine Art
„Sozialarbeit“ in den armen Wohnbezirken, in denen der Staat
wesentliche Versorgungsfunktionen aufgegeben und ihnen dadurch
überlassen hat. Zunutzen kam der Partei dabei, dass sie über
erhebliche finanzielle Mittel verfügte, dank wohlhabender
Händler und mutmablich auch mit Unterstützung aus den
Golfstaaten. Zweitens genossen die „Nahdisten“, wie man die
Parteigänger von Rachid Ghannouchi auch nennt, einen erheblichen
„Märtyrerbonus“.
Viele politische Oppositionelle hatten
unter der Diktatur von General und Präsident Zine el-Abidine Ben
Al gelitten, die von 1987 bis im Januar dieses Jahres währte und
die ebenfalls autoritäre Regierung unter dem ersten Präsidenten
des Landes nach der Unabhängigkeit, Habib Bourgiba, abgelöst
hatte. Aber niemand hat einen derart hohen Preis bezahlt wie die
Anhänger der ab 1991 in der Untergrund gedrängten islamistischen
Partei: 30.000 politische Gefangene, unzählige Folteropfer, Tote
bei Hungerstreiks und in den Haftanstalten. - Dereinst, nach dem
Zweiten Weltkrieg und der Befreiung vom Nazifaschismus, wurde
die Französische kommunistische Partei (der PCF) unter anderem
mit ihrem Slogan „Die Partei der 75.000 Erschossenen“ zur
stärksten politischen Kraft in Frankreich. Auch wenn die Zahl,
jedenfalls sofern es um standrechtlich als Geisel oder
gerichtlich Verurteilte ging, erheblich übertrieben war.
Entsprechend könnte En-Nahdha sich heute als „Partei der 30.000
Eingeknasteten“ darstellen.
Perfiderweise hatte die Ben Ali-Diktatur
sich damals auf die „Errungenschaften Tunesiens bei den
Frauenrechten“ berufen, um Mittelschichten und Intellektuelle
dazu aufzufordern, über willkürliche Verhaftungen und
Folterungen gegenüber Anhänger von En-Nahdha - die 1989 erstmals
bei den, in jenem Jahr halbfreien, Wahlen erstmals gepunktet
hatte - zu schweigen. In der Anfangsphase war die Rechnung sogar
aufgegangen, da viele Tunesier über den rapiden Aufstieg des
dortigen Islamismus im Nachbarland Algerien verängstigt waren.
Im Laufe der Jahre war die Kritik jedoch gewachsen, und jene
Werte, auf die das Regime Ben Alis sich verbal berief, wurden
dadurch im Gegenzug in Teilen der Gesellschaft tendenziell
diskreditiert.
Dies hält ein bedeutender Teil der
Bevölkerung ihr heute zugute. Umgekehrt wurden manche
politischen Kräfte dafür abgestraft, dass sie damals unter der
Diktatur Ben Alis bereitwillig die Statisten in einem
vollständig abgekarteten politischen Spiel abgegeben hatten -
während andere in den Folterkellern saßen.
Dies gilt etwa für die „Progressive
demokratische Partei“ (den PDP), die mit rund 10 Prozent der
Stimmen (GENAUE ZAHLEN STEHEN NOCH AUS) eine
schwere Wahlniederlage einfuhr, wie die Partei am Montag
öffentlich eingestand. In geringerem Mabe gilt es aber auch für
die, unter der Diktatur Ben Alis zumindest „tolerierte“ und an
abgekarteten „Wahlen“ teilnehmende, Partei Ettajdid
- „Erneuerung“, eine wie andere arabische Ex-KPen nach 1989 vom
Marxismus zu einem faden bürgerlichen Liberalismus konvertierte
Formation. Letztere war die wichtigste Kraft im Pôle
démocratique et moderniste (ungefähr: „Demokratisches
und der Modernität verpflichtetes Zentrum“).
Im Laufe der vergangenen Monate hatten die
Umfragen den PDP einige Monate lang noch als eine der
möglicherweise stärksten politischen Kräfte im Lande, und
Parteichef Nadjib Chebi als aussichtsreichen
Präsidentschaftskandidaten gehandelt. Doch dann kam der
Einsturz. Man kann davon ausgehen, dass der Partei und ihrem
Chef in einer ersten Periode ihre langjährige Bekanntheit zugute
kam: Der PDP hatte unter der Diktatur Ben Alis mehrfach an
„Wahlen“ teilgenommen, deren Ergebnisse schon vor dem Wahltag
längst feststanden, und Nadjib Chébi hatte bei
Präsidentschaftswahlen den Sparringpartnern für Ben Ali
abgegeben. Im Endeffekt rächte sich dies aber nun, da die
Bevölkerung - die in der langjährig auf der politischen Bühne
präsenten Partei zunächst einen beruhigenden Sicherheitsfaktor
erblickte - nunmehr vor allem dezidierten Oppositionskräften der
Ben Ali-Ära den Vorzug gab. Hinzu kommt das reichlich aalglatte
Profil von Nadjib Chébi: Im Laufe seines politischen Lebens war
er unter anderem Maoist, arabischer Nationalist und Anhänger der
Baath-Partei, Liberaler mit Unterstützung aus den USA und
schlieblich prominenter „Demokrat“ gewesen. Inhaltlich
versprach die Partei die Beibehaltung des bisherigen Sozial- und
Wirtschaftssystems, wobei aber die Ökonomie effizienter
gestaltet werden und Investitionen anziehen sollte, und
Bürgerrechtsgarantien.
An die zweite Stelle rücken nun, ungefähr
gleichauf, der linksbürgerliche und linksnationalistische
„Kongress für die Republik“ (CPR) von Moncef Marzouki mit rund
20 Prozent (GENAUE ZAHLEN STEHEN NOCH AUS) und die
sozialdemokratische Partei Ettatakol - ehemals „Demokratisches
Forum für Arbeit und Freiheit“ - von Mustapha Ben Jaafar mit 15
Bis 20 Prozent (GENAUE ZAHLEN STEHEN NOCH AUS).
Beide Parteien waren unter Ben Ali zwar nicht so stark verfolgt
worden wie En-Nahdha, aber permanent in der Illegalität gehalten
worden. Das „Demokratische Forum für Arbeit und Freiheit“ hatte
nie seine Zulassung als Partei, die jahrelang wiederholt
beantragt worden. Der CPR hatte wiederholt versucht,
Versammlungen oder Kongresse im Land abzuhalten, die durch die
Polizei gewaltsam abgebrochen und aufgelöst wurden.
Eine der Achsen der politischen
Polarisierung in Tunesien, welche den Wahlausgang prägten, war
die Konfrontation zwischen den früheren Oppositionskräften unter
Ben Ali entsprechend ihrer damaligen Positionierung. Diese
Polarisierungslinie, so deutet sich an, könnte auch die künftige
Zusammenarbeit in der Verfassungsgebenden Versammlung prägen. So
schliebt der CPR von Mouncef Marzouki derzeit eine
Zusammenarbeit dort mit En-Nahdha nicht aus. Umgekehrt bot die
moderat islamistische Partei am Montag sowohl Ettatakol als auch
dem CPR, den beiden stärksten Kräften des Mitte-Links-Spektrums,
eine Zusammenarbeit an.
Solche Kooperationsperspektiven versteht
man nur, wenn man die politische Landschaft in der Endphase der
Diktatur Ben Alis berücksichtigt. Im Oktober 2005 hatte ein
Aufsehen erregender Hungerstreik stattgefunden, mit dem
Oppositionelle gegen den „Weltinformationsgipfel“ zur
Informationsgesellschaft in Tunis protestierten - ein Unding in
einem Land, das gleichzeitig das Internet so stark wie wenige
andere Staaten zensierte. Damals hatten Aktivisten aus der
Linken erstmals mit Leuten von En-Nahdha zusammengearbeitet, da
beide Seiten gegen Repression und Zensur protestierten. Auch der
PCOT („Kommunistische Partei der Arbeiter Tunesiens“), eine
früher einmal maoistische und pro-albanische Partei mit heute
relativ vagem linkem Profil - die aber noch immer Hammer und
Sichel als Wahrzeichen führt -, arbeitete damals mit. Daraus
erklärt sich, dass auch der PCOT bislang eine Zusammenarbeit mit
En-Nahdha in der Verfassunggebenden Versammlung nicht
ausschloss.
Diese Kräfte könnten jedenfalls dort an
einem Strang ziehen, wo es zukünftig um Fragen der Entschädigung
von Repressionsopfern, von Bestrafung der Verantwortlichen für
Repression und Misshandlungen, um die eventuelle Enteignung von
Mafiosi aus dem Umfeld Ben Alis geht. Auf der anderen Seite
könnten bei diesen Fragen jene Parteien stehen, die unter der
alten Diktatur eine moderate, „legalistische“ Strategie verfolgt
hatten. Dem PDP sind zudem in den letzten Monate viele frühere
Mitglieder der - im März 2011 gerichtlich verbotenen -
ehemaligen Staatspartei RCD beigetreten. Laut Angaben der Partei
vorwiegend die „nicht diskreditierten“. Aber auch drei von
früheren RCD-Baronen und Ministern geführte Listen erhielten
zusammen über 15 Prozent (GENAUE ZAHLEN STEHEN NOCH AUS).
Das ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Denn eine
Staatspartei, die eine bis zwei Million Mitglieder hatte - nicht
aufgrund von Ideologie, sondern weil die Zugehörigkeit vielen
Familien Baugrundstücke, Arbeitsplätze oder Genehmigungen zur
Eröffnung eines Geschäfts verschaffte -, verschwindet nicht
innerhalb einiger Monate spurlos. Die Nachfolgeorganisationen
des RCD könnten in naher Zukunft irgendwann wieder fusionieren,
wenn die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen geklärt sind.
Quer zu dieser Achse steht im politischen
Koordinationssystem Tunesiens eine andere Polarisierungslinie,
die in der Endphase des Wahlkampfs an Bedeutung gewann. Es ist
jene zwischen „Laizisten“, also Anhängern der Trennung zwischen
Staat und Religion, und Islamisten sowie anderen Verfechtern
einer Art Staatsreligion. En-Nahdha verfolgt eine moderate
Strategie, die sich weitaus eher an die türkischen
Regierungspartei AKP denn an die Khomenei-Fraktion oder die
Radikalislamisten im Algerien der neunziger Jahre erinnert. Dass
sie sich in ein bürgerlich-liberales System einfügen und
grundlegende Freiheiten garantieren möchte, kann man ihr
durchaus abnehmen: Während die islamistische Konterrevolution im
Iran nach 1979 den Repressionsapparat des vorherigen
Schah-Regimes fast bruchlos übernahm - aus dem berüchtigten
Sicherheitsdienst SAVAK wurde lediglich durch Austausch eines
Buchstabens die SAVAMA -, ist dies für Tunesien mehr als
unwahrscheinlich. Denn überall in den Repressionsapparaten
sitzen Personen, mit denen dieser oder jene „Nadhist“ Rechnungen
offen haben dürfte. Scharia-Gerichte und öffentliche
Exekutionen, wie im Iran, sind in Tunesien so wenig zu erwarten
wie aktuell in Istanbul oder Ankara.
Dennoch gibt es auch bei En-Nahdha
unterschiedliche Strömungen, von denen einige als erkennbar
autoritär zu charakterisieren sind. Einen Vor- und Nachteil
zugleich bildet dabei für En-Nahdha die Konkurrenz mit den
Aktivisten der salafistischen Strömung - einer besonders
extremen Variante des politischen Islam -, die sich in den
letzten Monaten immer wieder lautstark bemerkbar machte. Ihnen
gegenüber können die „Nahdisten“ sich allemal als gemäbigt
profilieren. Es waren etwa die Salafisten, die am 9. Oktober die
Sendeanstalt des Privatfernsehsenders „Nessma TV“ angriffen,
weil diese den Zeichentrickfilm „Persepolis“ ausgestrahlt hatte:
Ein Frevel in ihren Augen, denn in dem Film wird an einer Stelle
Gott als menschliche Figur mit einem weiben Bart gezeigt.
En-Nahdha distanzierte sich, wie bei vormaligen Attacken gegen
Künstler oder eine Theatermacherin - in ihrer Presse war aber
zugleich zu lesen, dass den Angegriffen ihre „Provokationen“
vorzuwerfen seien. Gegenüber der breiten Öffentlichkeit versucht
En-Nahdha, „beruhigend“ zu wirken, was ihr durch den Vergleich
mit den Salafisten erleichtert wird. Aber gleichzeitig muss sie
auch ihr Terrain gegenüber dem Konkurrenten auf ihrer Rechten
behaupten.
Am Montag Abend und Dienstag früh
versicherte En-Nahdha, „die Rechte von Frauen und Minderheiten“
würden künftig durch die Partei respektiert. Nicht alle
Tunesierinnen und Tunesier vertrauen darauf. Bei den künftigen
Debatten in der Verfassunggebenden Versammlung wird sich
erweisen, welche Spielräume die Partei für „Ungläubige“,
konfessionelle Minderheiten, die Rechte von Frauen und
Individuen zu lassen bereit ist. An symbolischen Vorstöben
seitens von En-Nahdha ist vor allem zu erwarten, dass die Partei
ein Alkoholverbot in manchen Touristenzonen erwarten könnte.
Nordine, Zeitungshändler in Paris, der die Hälfte des Jahres in
Paris lebt und für Marzoukis RCD stimmte, sieht keinen Anlass
zur Beunruhigung: „Tunesien wird niemals wie der Iran werden.
Das ist unmöglich. Bei uns hatten die Frauen das Recht auf
Abtreibung vor den Französinnen“ - 1957 gegenüber 1975 - „und
das Wahlrecht vor den Schweizerinnen. Niemals wird die
Gesellschaft zulassen, dass diese Rechte angetastet werden.“
Eine dritte Polarisierungslinie, entlang
der „sozialen Frage“ und der extrem ungleichen Verteilung von
Armut und Reichtümern, spielte während der Unruhen im
vergangenen Winter ebenso eine wichtige Rolle wie bei den
Streiks, die sich das ganze Frühjahr und den Frühsommer hindurch
zogen. Allerdings wurde der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit
dabei weitgehend durch „demokratische Aspekte“ überlagert. So
wurde bei Streiks etwa die Absetzung von Ben Ali-nahen und
korrupten Direktoren gefordert, allerdings nicht unter dem
Gesichtspunkt einer möglichen Selbstverwaltung durch die
Lohnabhängigen, sondern in der Regel begleitet von der Forderung
nach einem „sauberen“ Leitungspersonal. Im Wahlkampf spielten
die sozialen Konfliktfragen jedoch keine Rolle. So kommentiert
denn auch Mohamed, Arabischlehrer im französischen Staatsdienst:
„Bei der Revolution ging es weder um Religion noch um
Laizismus, beides spielte damals (im Winter 2010/11) keine
Rolle. Damals ging es um ,Brot, Arbeit, Würde’. Aber alle
wichtigen Kräfte, die jetzt eine Rolle spielen, habe diese
Anliegen verraten.“
Deswegen auch die extremen Schwierigkeiten
für die Linke. In Zukunft darf das neue Establishment nicht
darauf hoffen, dass es an dieser Front auf Dauer ruhig bleibt.
Denn zumindest eines hat sich seit der Ben Ali-Ära geändert: Die
Angst der Bevölkerung vor dem Staat ist nicht mehr dieselbe.
Auch wenn nunmehr eine neue Restauration
anstehen könnte, so werden die Etablierten doch erstmals mit dem
Druck der Strabe zu rechnen haben.
Editorische Hinweise
Den Text erhielten wir vom Autor.