Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Im Konflikt um die Renten,reform’
Streikankündigungen (ohne zeitliche Befristung) nehmen zu

10/10

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CGT-Generalsekretär Bernard Thibault will jedoch nicht von einem „Generalstreik“ hören. Seit gestern nun auch Schüler/innen/demonstrationen aus Protest gegen die Renten,reform’. Und in Südfrankreich flammt der Streik in den Häfen wieder mächtig auf. 

Seit dieser Woche zeichnet sich in Frankreich eine Zuspitzung des sozialen Konflikts um die drohende Renten„reform“ ab. Diese steht kurz vor ihrer Verabschiedung in beiden Kammern des französischen Parlaments - in erster Lesung stimmte die Nationalversammlung am 15. September ab, und die Abstimmung im Senat steht nun am Donnerstag, den 14. Oktober an. Da die in beiden Kammern angenommenen Fassungen des „Reform“gesetzes unterschiedlich ausfallen, muss danach noch einmal die Nationalversammlung (die im Streitfall das letzte Wort haben wird) darüber beraten. Aufgrund der Tatsachen, dass die Regierung das parlamentarische Eilverfahren – das für Notfallbeschlüsse vorgesehen ist – gewählt hat, gilt die Gesetzesvorlage danach dann als angenommen. Normalerweise wären drei Lesungen in beiden Kammern erforderlich, doch aufgrund der gewählten Prozedur entfällt diese Erfordernis.

Ab dem morgigen Dienstgag, 12. Oktober werden die Lohnabhängigen u.a. bei der französischen Eisenbahn, bei den Métro- und Buslinien im Raum Paris und in anderen städtischen Ballungszentren, in Raffinerien und in den Häfen zum zunächst zeitlich unbefristeten Streik gegen die „Reform“ aufgerufen sein.

Die großen Gewerkschaftsverbände, die sich untereinander nicht völlig einig sind, taktierten jedoch zunächst vorsichtig. CGT-Generalsekretär Bernard Thibault lehnte es etwa am vorigen Donnerstag (07. Oktober) explizit ab, sich für einen „Generalstreik“ auszusprechen. Ihn zu fordern, sei „nicht aktuell“, befand der Chef des stärksten gewerkschaftlichen Dachverbands in Frankreich: „Das ist ein Slogan, der für mich völlig abstrakt, unverständlich ist: Es entspricht nicht der Praxis, durch die man es erreichen kann, das Kräfteverhältnis aufzubessern.“ (Bernard Thibault am Donnerstag früh auf RTL) (1)

Es handelt sich also nicht im Wortsinne um einen Generalstreik, wenn ab Anfang/Mitte dieser Woche dennoch zahlreiche Sektoren in den sozialen Konflikt eintreten werden. Am Dienstag werden zunächst Lohnabhängige, voraussichtlich (wenn die Mobilisierung auf vergleichbarem Niveau wie in den letzten Wochen bleibt) rund zwei Millionen, an einem gewerkschaftlichen „Aktionstag“ mit Straßendemonstrationen teilnehmen. Dabei wird auch vielerorts die Arbeit niedergelegt werden, vor allem in Kernsektoren (öffentliche Dienste, Transportbetriebe, Druckunternehmen – bei den letzten „Aktionstagen“ am 07. und 23. September erschien am folgenden Tag keine einzige überregionale Zeitung – ; oder z.T. auch Großbetriebe u.a. im Automobilsektor, wo „harte Kerne“ innerhalb der Belegschaft in den Streik treten). Aus anderen Sektoren, etwa Banken und Versicherungen oder vielen kleinen und mittleren Betrieben, werden die Leute – wie gehabt – individuell zu den Demonstrationen kommen; Einzelne streiken, andere wiederum nehmen sich einen Tag frei oder einen Urlaubstag. Ab dem darauf folgenden Tag wird dann in mehreren Kernsektoren, etwa den öffentlichen Diensten und Betrieben mit hohen Beschäftigtenkonzentrationen, der Arbeitskampf fortgeführt werden – mit unbefristetem Streikaufruf, jedoch derzeit noch offenem Ausgang.

Um einen Generalstreik im wörtlichen Sinne handelt es sich dabei noch nicht. (Dies übrigens im Gegensatz zu dem schludrigen Sprachgebrauch, den viele deutsche Linke an den Tag legen, die bei einem Frankreichaufenthalt schon angesichts eines gewerkschaftlichen „Aktionstag“ mit ein paar Hunderttausend Streikenden - ausschließlich in den öffentlichen Diensten – sofort unbesehen einen „Generalstreik“ herbei fantasieren. Das ist purer Unsinn. Um einen „Generalstreik“ handelt es sich, wenn Lohnabhängige in allen oder annähernd allen Sektoren der Wirtschaft und der Staatsdienste zur Arbeitsniederlegung aufgerufen sind. Eine solche Situation existierte in Frankreich zuletzt im Mai 1968. Die letzten außerordentlich starken Streikwellen im Spätherbst 1995 und im Mai/Juni 2003 spielten sich überwiegend in den öffentlichen Diensten ab. Die erfolgreiche Bewegung gegen den CPE, einen Spezial-Arbeitsvertrag zur Ausheblung des Kündigungsschutzes, im März/April 2006 trugen einige Kernsektoren zuzüglich einer starken Jugend- und Studierendenbewegung.)

Einen „Generalstreik“ zu riskieren, fürchtet etwa die CGT-Spitze derzeit, weil sie ihn für überaus riskant hielte: Wer kämpft, kann tatsächlich (auch) verlieren. Zudem möchte die CGT-Führung die „gewerkschaftliche Einheit“ mit dem – weiter rechts stehenden – Apparat der CFDT, der seit 1999 geradezu zum Dogma ihrer Gewerkschaftspolitik geworden ist, nicht zum Platzen bringen. Doch aus Sicht der rechteren Gewerkschaftsverbände (CFDT – an der Spitze rechtssozialdemokratisch, CFTC – christlich, CFE/CGC – höhere Angestellte, UNSA – „eher unpolitisch“) geht bereits die augenblickliche Streikpolitik der CGT als des stärksten Dachverbands zu weit.

Die Spitze der „postkommunistischen“ CGT übt sich derzeit in einem Drahtseilakt: Einerseits fordert sie nicht ihre sämtlichen Sektoren aktiv dazu auf, ab dem 12. Oktober überall aktiv in den Streik zu treten. Andererseits lässt sie dort, wo Regional- oder Branchenverbände der CGT dies ihrerseits selbst wünschen, die Zügel locker und „deckt“ ihre Initiativen. So haben zahlreiche Sektoren der CGT jetzt (in den öffentlichen Diensten, wo anders als im privaten Wirtschaftssektor ein Streik vorher angekündigt werden muss) „Streikwarnungen“ für den Zeitraum vom 12. bis zum 30. Oktober angemeldet. Das bedeutet nicht, dass diesen ganzen Zeitraum über unbedingt gestreikt werden soll. Es bedeutet aber, dass jene, die in diesem Zeitraum streiken wollen/werden, dadurch von vornherein rechtlich abgesichert sind.

Zum Stand der Mobilisierung

Bei der französischen Bahngesellschaft SNCF rief die CGT, als stärkste Einzelgewerkschaft (rund 40 % der Stimmen), am vergangenen Mittwoch Mittag – kurz vor dem Zusammentreffen mit den anderen tariffähigen Branchengewerkschaften der Eisenbahner – zum unbefristeten Streik ab kommenden Dienstag auf. Daraufhin schloss sich ihr am frühen Nachmittag des Mittwoch das gemeinsamen Treffen von CGT, SUD-Rail (linksalternativ), UNSA (eher „moderat“) und FGAAC-CFDT an. Allerdings hatten bereits zuvor die drei Eisenbahnergewerkschaften, die im Vorjahr ihrer „Tariffähigkeit“ aufgrund zu geringer Wahlergebnisse verloren haben – CFTC (christlich), FO (schillernd) und CGC (höhere Angestellte) ihrerseits Streikankündigungen angemeldet: Bei ihnen geht es darum, wieder an Profil zu gewinnen.

Unter den Eisenbahner/inne/n könnte die Mobilisierung also massiv ausfallen. Allerdings gibt es bislang noch keinen – gelungenen – Test zur Streikfähigkeit in den Transportbetrieben, seitdem im Jahr 2008 das Gesetz zum << Service minimum >> (ungefähr: Notbetrieb) verabschiedet wurde, das die einzelnen Beschäftigten anders als früher dazu verpflichtet, sich individuell streik- oder arbeitswillig zu erklären. Zudem hat sich die Praxis zum Abzug der Streiktage vom Lohn – die früher einmal gestaffelt über Monate hinweg gestreckt wurde, was längst vorbei ist – in den letzten Jahren rigide verschärft. Im April 2010 wurde ein Streik der CGT-Eisenbahner gegen eine „Reform“ des Gütertransportsektors und gegen dessen miserablen Zustand, der allerdings schlecht vorbereitet und ohne gute Bündnispolitik durchgeführt wurde, zum Flop. Er dauerte circa 14 Tage, bröckelte jedoch zusehends ab und blieb ergebnislos. Am 23. September hatte SUD-Rail (SUD Schienenverkehr), jedoch mit unzureichenden Kräften und ungenügend Bündnispartner/inne/n, den Streik vom vorletzten gewerkschaftlichen „Aktionstag“ – der letzte fiel auf ein Wochenende, am 02. Oktober – unbefristet fortzuführen versucht. Dies stellte sich jedoch innerhalb von 24 Stunden als offenkundiger Misserfolg heraus. Jedoch dürfte sich eine solche Schlappe, angesichts der jetzigen Aufstellung der Gewerkschaften vor dem SNCF-Streik von nächster Woche, dergestalt wohl nicht wiederholen.

Auch im Privatsektor gibt es unbefristete Streikaufrufe der CGT, so bei der Metallindustrie in der Isère (Grenoble plus Umland) und, vor allem, in der Chemie- und Erdölindustrie. Allen voran die Petrochemie, mit einem Streikaufruf in den Raffinerien von TOTAL. Ebenso ruft die CGT-Energie und Bergbau bei den Energieversorgern ab dem 12. Oktober zum Streiken auf.

Bei der französischen Post und Telekom hingegen rufen derzeit SUD-PTT (als zweitstärkste Einzelgewerkschaft dort, hinter der CGT, linksalternativ) und FO (schillernd und bisweilen verbalradikal) zum unbefristeten Streik auf. Bislang jedoch nicht die dortige CGT.

Gleichzeitig vermengten sich seit Anfang vergangener Woche, schon mehrere Tage vor Beginn des Ausstands in den Transportbetrieben verschiedene soziale Bewegungen mit dem Protest gegen die Renten,reform“. Schon seit Ende September streiken die abhängig Beschäftigten in mehreren, v.a. südfranzösischen Häfen – wie Marseille und Fos-sur-Mer – gegen eine „Reform“ des Statuts der Hafenbeschäftigten (konkret: deren Überführung in eine private Subfirma der Hafenbetreiberfirmen). Aber sie nahmen auch die Ablehnung der Renten„reform“ und die Forderung, dass die Hafenarbeiter als körperliche Schwerarbeiter relativ früh in Rente gehen dürfen, mit in ihre Forderungsplattform ab.

In Marseille, wo der Streik nach 72 Stunden zunächst vorübergehend ausgesetzt worden war, flammt er seit Mittwoch Mittag wieder heftig auf. Beim Erdölhafen in Fos-sus-Mer drohen inzwischen der nahen Raffinerie Versorgungsengpässe. In Marseille drohte die CGT den Behörden mit dem „Risiko einer Treibstoffmangelknappheit“. Im Raum Marseille gibt es zudem starke Tendenzen zum Zusammenlaufen von Kämpfen in unterschiedlichen Sektoren und zu gemeinsamen Treffen mit streikenden Stadtbediensteten oder Beschäftigten der örtlichen Verkehrsbetriebe (RTM).

Am vergangenen Donnerstag und Freitag (07./08. Oktober) begannen auch Oberschüler/innen, gegen die „Rentenreform“ auf die Straße zu gehen und z.T. auch ihre Schulen vorübergehend zu besetzen. Zu Mobilisierungen von ihrer Seite kam es vor allem in südwestfranzösischen Städten (Toulouse, Rodez, Auch) sowie im weiteren Hinterland von Marseille: Aix-en-Provence, Carpentras... – Vgl. dazu auch http://www.lepost.fr/

Zuvor hatten schon am 27. Mai, 24. Juni, 07. und 23. September sowie 02. Oktober dieses Jahres bis zu gut zwei Millionen Menschen in Frankreich gegen die geplante „Reform“ der Renten demonstriert. Doch die Aktionsform Straßendemonstrationen, ohne handfeste Arbeitskonflikte und Streikbewegungen, erschöpfte sich – in Anbetracht der Unnachgiebigkeit des Regierungslagers – im Laufe der Wochen.

Anmerkungen

1) Vgl. auch AFP dazu : http://www.google.com

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.