Auf den Index!
Meine Woche vor dem Tag der Deutschen

von
Antonín Dick

10/10

trend
onlinezeitung

Montag: Ich blättere in der Leseecke der Berliner Hugendubel-Filiale Berlin-Steglitz im Liederbuch »Unser fröhlicher Gesell«, 2009 in Bonn/Bad Godesberg vom Voggenreiter Verlag als erweiterte Ausgabe von 1964 herausgegeben. Das Buch ist rassistisch, weil es »Zehn kleine Negerlein« enthält. Es ist antisemitisch, weil der deutsch-jüdische Verfasser des weltbekannten Liedes »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, Heinrich Heine, eliminiert, und sein Original durch eine verballhornte Fassung aus der Nazizeit ersetzt wurde (von Gustav Schulten, 1897–1944). Es betreibt Kriegspropaganda mit »Kameraden, wir marschieren, wollen fremdes Land durchspüren«, einem Machwerk von Jürgen Riel (Aktivist, Autor und Liedermacher der Deutschen Freischar). Ich wende mich an die Buchhändlerin. Wir vereinbaren, beide beim Verlag anzurufen und die Gespräche am Mittwoch auszuwerten. Als ich die Vertriebsleiterin von Voggenreiter, Gaia Born, nachmittags am Telefon habe, ernte ich höhnisches Gelächter. Born gibt sich als Historikerin aus. Ein ernsthaftes Gespräch schmettert sie ab.
 
Dienstag: Ich recherchiere noch ein bißchen zu dieser Liedersammlung. Sie enthält »Herrgott, hilf unserem deutschen Land« vom NS-Luftwaffenoffizier Siegmund Storp, der an der Zerstörung Guernicas im Spanischen Bürgerkrieg beteiligt war; »Die blauen Dragoner« vom NS-Frontliedermacher Gustav Wilhelm Harmssen (1890–1970), das Kriegslied der militarisierten Wandervogelbewegung »Regiment sein Straßen zieht«, das unsägliche »Ich hatt’ einen Kameraden«
aus den reaktionären Freiheitskriegen von 1812–15 und ähnliche Verherrlichungen der »heilgen Heimat«. Da darf ein Beitrag des SA-Lyrikers, Reichsfachschaftsleiters für Lyrik bei der NS-Hauptschrifttumskammer und späteren NPD-Mitglieds Herbert Böhme (1907–1971) nicht fehlen. Schlußstein der Sammlung ist »Der Tod ist in der Welt«, eine stümperhaft verhüllte Todesverherrlichung des Offiziers Georg von der Vring (1889–1968) aus dem Jahre 1935. Vrings Romane »Junge Front« (1943) und »Kaukasische Flöte« (1944) wurden in Sowjetischer Besatzungszone und DDR gemäß Potsdamer Abkommen auf den Index militaristischer Literatur gesetzt.

Mittwoch: Bei Hugendubel teilt mir die Buchhändlerin mit, daß sie noch keinen Kontakt mit dem Verlag aufgenommen hat und vertröstet mich auf Donnerstag.

Donnerstag: Bis 13 Uhr warte ich auf den vereinbarten Rückruf der Buchhändlerin. Vergeblich. Warum erbat sie einen Bericht von meinem Telefonat mit dem Verlag und enthielt sich dann jeder Stellungnahme? Warum liegt das Buch weiter zum Verkauf aus? Wie auch immer. Ich rufe bei der Geschäftsführung von Hugendubel in München an. Fides Altmann, Assistentin des fünfköpfigen Gremiums, bittet um eine schriftliche Darstellung der Beanstandungen, und erhält diese noch am Abend.

Freitag: Ich warte auf die schriftliche Benachrichtigung der Assistentin, die mir zugesichert wurde. Das Liederbuch ist weiter im Sortiment. »Über 100.000 verkaufte Exemplare« steht auf dem ansonsten unverdächtig aussehenden
Deckel.
 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor zur Zweitveröffentlichung. Erstveröffentlicht wurde am 2.10.2010 bei http://www.jungewelt.de