„Wie hältst du es mit Israel?“
Die Deutschen, die Linken und ein besonderer Staat. Eine Replik auf Robert Kurz.

von Reinhart Pablo Esch

10/10

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1. Der Ausgangspunkt für diesen Text

„Wie hältst du es mit Israel?“ Das ist eine in der letzten Zeit erneut häufig gestellte, zumeist rhetorische Frage; man könnte auch sagen: die Gretchenfrage schlechthin. Keineswegs nur, aber doch vor allem in Deutschland wird – so oder so und mit ansteigender Tendenz – ein geradezu überproportionaler Eifer an den Tag gelegt, wenn es um ihre Beantwortung geht, wie sich das auch wieder bei Gelegenheit des israelischen Militärschlags gegen den Gazastreifen (Dezember 2008 / Januar 2009) und in der Folge gezeigt hat.

Auch an der wert-abspaltungskritischen Gruppe „Exit!“ im allgemeinen und an deren Autor Robert Kurz im besonderen ist die jüngste Zuspitzung des „Kampfs der Meinungen“ um Israel, gerade auch im Hinblick auf die Interpretation bzw. ideologische Verarbeitung der Gaza-Attacke, nicht spurlos vorübergegangen. In einem Zeitungsartikel für die brasilianische „Folha de São Paulo“ mit der Überschrift „Der Krieg gegen die Juden“ (10. Januar 2009; im weiteren „KgJ“) hatte Kurz Israel zur Vernichtung der Hamas aufgefordert, da andernfalls weltweit sämtliche Bestrebungen in Richtung auf eine „Verbesserung der sozialen Verhältnisse“ scheitern müßten; eine Argumentation, die er auch in einen kurzen Begründungszusammenhang stellte.

Im Oktober des gleichen Jahres schrieb er in der Zeitschrift „EXIT!“ Nr. 6 eine Polemik – im Editorial der Ausgabe als „ideologiekritische Analyse“ bezeichnet – mit dem Titel „Die Kindermörder von Gaza“ (fortan „KmG“); darin ging es in erster Linie darum, weiten, nicht näher benannten Teilen der Linken – praktisch ohne jegliches Anführen konkreter (und namentlicher) Beispiele und in einer problematischen „To whom it may concern“-Haltung – eine ideologische Position vorzuwerfen, die sich hinter dem Ruf nach Frieden und der Einforderung des Rechts auf Israelkritik verstecke sowie offen oder insgeheim mit der Hamas im Gazastreifen sympathisiere; damit pendle sie zwischen offener antisemitischer Ideologie und „unbewußtem Judenhaß“ – ein Begriff, den Kurz bei dem Erziehungswissenschaftler und Publizisten Micha Brumlik entlehnte. Im weiteren werde ich mich mit diesen beiden Texten kritisch auseinandersetzen; schließlich möchte ich auf einige allgemeinere Fragestellungen zumindest ansatzweise und überwiegend thesenhaft eingehen, die meines Erachtens auch in diesem Zusammenhang wichtig sind und somit zumindest indirekt ebenfalls einiges mit dem partiellen Kurswechsel von Kurz in den beiden genannten Texten zu tun haben dürften.

Früher, das heißt, bevor sich die alte „krisis“, eine wertkritische Gruppe mit damals nicht unwesentlichem Einfluß, 2004 gespalten hatte (woraufhin sich die „Exit!“-Gruppe gründete), waren sowohl das Problem von Israel und den Palästinensern als auch Antisemitismus und Antizionismus eher am Rande thematisiert worden; auch spielte damals – zumindest vor dem 11. September 2001 – eine ideologiekritische Perspektive eher eine sekundäre Rolle. Hier handelte es sich in der Tat tendenziell um einen blinden Fleck der Theorie. Das ist in den letzten Jahren anders geworden, gerade auch wenn es um die Beschäftigung mit dem antisemitischen Syndrom sowie mit der Realität in Israel und den von diesem Staat besetzten bzw. kontrollierten Gebieten geht.

Das Resultat ist aber in jüngster Zeit überraschenderweise das Umschlagen in eine sich fast schon verselbständigende, eigentlich nur noch mit der Krisentheorie vermittelte Ideologiekritik; in diesem Zuge geht es nun um Kritik nicht länger an den „Antideutschen“ (bzw. sehr verhalten und nur noch ganz am Rande), sondern, in einem weitgehenden Einschwenken auf eine weiche „antideutsche“ Linie, an sich als links begreifenden Positionen. In der Tat sind allerdings die noch verbleibenden antiimperialistischen und antizionistischen Strömungen und zum Teil auch der sie inzwischen umgebende Dunstkreis aus den Reihen der Antiglobalisierung zuletzt immer näher an explizit antisemitische Denk- und Argumentationsmuster herangerückt, bei denen die immer schon prekäre und eher zweifelhafte „antizionistische Unschuld“ zuweilen mehr als fragwürdig geworden ist und der Übergang von Antizionismus zu Antisemitismus sich in verstärktem Maße – und keineswegs zum ersten Mal – mindestens als fließender darstellt. Mittlerweile ist es hier in einer Reihe von Fällen schon eher angebracht, von einer „verfolgenden Unschuld“ zu sprechen.

Vieles entspricht hier aber auch der Haltung, die eine Menge mit sekundärem Antisemitismus zu tun hat, in Deutschland (und Österreich) ihren Platz hat und, ganz harmlos daherkommend, sinngemäß mit dem Spruch beginnt: „Nun muß es aber mal genug sein, ich kann es nicht mehr hören“; Martin Walser hat das in einzigartiger Perfidie vor mehr als zehn Jahren mit seinem Wort von der „Moralkeule Auschwitz“ auf den Punkt gebracht. Auf einem anderen Blatt steht dann wieder der gewissermaßen komplementäre, zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen geäußerte Antisemitismusverdacht, allerdings einzig und allein auf Israel fokussiert; die bis heute einflußreiche Generalrichtung in Form einer Hyperinflationierung des Antisemitismusvorwurfs hatte schon früh Joachim Bruhn vom „ISF“ vorgegeben, neben der Zeitschrift „Bahamas“ die Institution „antideutscher Vordenker“: „Jede Kritik am Staat Israel ist antisemitisch“. Noch Fragen? Das ist der Maßstab, an dem Robert Kurz sich mittlerweile messen läßt, der sich neuerdings, im Gegensatz zu der Zeit bis vor einigen Jahren, mächtig nach der Decke streckt.

Ein besonders markantes Beispiel dafür, daß er schon erschreckend nah an die demagogische Grundhaltung der „Antideutschen“ herangerückt ist, stellt in seiner „Kindermörder“-Polemik die Passage dar, wo er – ausnahmsweise einmal einen Namen nennend – Naomi Klein, „die Ikone der globalisierungskritischen Bewegung“ (Kurz), mit ihrem Aufruf zitiert, israelische Waren weltweit zu boykottieren, um das dann in diffamatorischer Weise als „unverblümte“ Neuformulierung der Nazi-Parole „Kauft nicht beim Juden“ zu denunzieren (KmG 208f). Man mag solch eine Boykottaktion kritisieren und auch argumentieren, die entsprechende Kampagne gegen das damalige Südafrika der rassistischen Apartheid, einen alten Verbündeten Israels, tauge als Parallele für solch eine Boykottaktion nicht angesichts der besonderen Lage des Judenstaats; das wäre Teil einer interessanten Debatte. Absolut unzulässig ist es aber, solch einen Aufruf mit den Boykottaufrufen der Nazis gegen die jüdischen Deutschen umstandslos, sozusagen „unverblümt“ in eins zu setzen. Und der Gipfel der Unverfrorenheit ist es, wenn die Jüdin Klein als eine Person hingestellt wird, deren Vorbild für den Umgang mit Israel die Nazis und ihre antisemitische Politik seien. Ich möchte Kurz aber im Zweifelsfalle konzedieren, daß er nichts von dem jüdischen Hintergrund der solchermaßen unter der Gürtellinie attackierten Person wußte.

Die eben kurz benannten und noch genauer darzulegenden „antideutsch“ beeinflußten Argumentations- bzw. Ideologieelemente bei Kurz stehen in einem auffälligen Kontrast zu seinen wütenden Attacken gegen ebendiese „Antideutschen“, denen er früher – nachdrücklich im Gefolge des 11. September 2001 – viel zornige und analytische Energie gewidmet hatte, um deren Position – im Kern ganz zurecht – als ein bellizistisches Einschwenken auf den westlichen bürgerlich-kapitalistischen Mainstream darzustellen. Diese Kritik fand schließlich 2003 ihren Ausdruck in Kapiteln sowohl zu den „Antideutschen“ als auch zu der komplexen Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten, wie sie in Kurz‘ Buch „Der Weltordnungskrieg“ nachzulesen sind, sowie in der Publikation „Die antideutsche Ideologie“, wo der Autor auch ein Kapitel dem Problem des Antisemitismus und Israel widmet.

Zurecht wehrt sich kritische Theorie und, konkret, die (von „Exit!“ entsprechend neu konzipierte und der Absicht nach erweiterte) Wert-Abspaltungskritik dagegen, sich permanent auf ihre – fehlende – Umsetzbarkeit in die Praxis hin verhören zu lassen, als könne, ja müsse sie und genau sie einen Fahrplan für eine gesamtgesellschaftliche Aufhebungsbewegung schreiben oder solle ihn am Ende noch vorschreiben; ja sie schien sogar – für mich in solcher Zuspitzung schon wesentlich weniger verständlich – vor nicht allzu langer Zeit noch auf ihre Getrenntheit, ihre „Unabhängigkeit“ von der Praxis geradezu stolz zu sein, wie das Robert Kurz‘ Aufsatz in der „EXIT!“ Nr. 4 mit dem Titel „Grau ist des Lebens goldner Baum und grün ist alle Theorie“ zu entnehmen ist.

Darum fällt es auf Anhieb umso schwerer sich zu erklären, wieso derselbe Autor neuerdings nicht nur in kriegerischen Konflikten Partei ergreift (nämlich für die israelische Regierung), sondern auch in (bislang abgelehnter) politizistischer Manier explizit Forderungen militärischen Charakters an einen der Akteure erhebt, wie es die einer als äußerst dringlich dargestellten Vernichtung von Hamas und Hisbollah durch Israel war. Weiter ist überraschend, daß er, zusammen mit der übrigen „Exit!“-Redaktion (wohlgemerkt: nicht aber unter Einbeziehung der gesamten Gruppe; eine weitere Premiere!), zum Mittel (bündnis-)politischer Interventionen greift, indem er deutlich „antideutsch“ durchwirkte Aufrufe (siehe die damalige Unterzeichnerliste „Gegen Hamburger Unzumutbarkeiten“) gegen „antisemitische Schläger“ unterschreibt und dadurch – mit den Worten der Redaktion – gegen „selbst ernannte Linke“ „eine breite linke Öffentlichkeit herzustellen“ versucht; so geschehen im Dezember 2009 und damals auch auf der Homepage der Gruppe zu lesen. All diese Vorgänge sind sowohl in der Existenz der früheren (Gesamt-)„Krisis“ wie der „Exit!“ einmalig, offenbar nach der Devise: Es ist fünf vor zwölf; extreme Situationen verlangen eben extreme und ungewöhnliche Reaktionen.

Als jemand, der früher selbst einmal in der „Exit!“-Gruppe war und auch nach dem Ausscheiden vor gut vier Jahren großes Interesse für den Ansatz der Wertabspaltungskritik hatte und bis heute hat – die Gründe dafür hatten damals in meinem Fall nichts mit inhaltlichen Differenzen, sondern mit der manifesten Unmöglichkeit zu tun, jenseits von taktischen Manövern eine Perspektive offenen Diskutierens von (bei anderen in der Tat aufgetretenen) unterschiedlichen Positionen mit ebenso offenem Ausgang zu erreichen – , möchte ich der Frage nachgehen, wie es kommen mag, daß in dieser Gruppe oder doch zumindest bei einem großen Teil derselben spätestens seit der israelischen Militärattacke auf den Gazastreifen im Dezember 2008 / Januar 2009 ein auf dem Nahostkonflikt aufsetzender – aber deutlich über diesen hinausweisender – zumindest partieller Kurswechsel vollzogen worden ist.

2. Der Stellvertreterkonflikt bei Kurz und „Der Krieg gegen die Juden“

Schon in KgJ war für Robert Kurz der Nahostkonflikt in erster Linie ein Stellvertreterkonflikt, der verschiedene Formen durchlaufen habe und, vor allem, in dem Israel nie aufgegangen sei. Letzteres festzustellen wäre dann richtig, wenn es nicht neuerdings für Kurz – unabhängig davon, daß er auch als ein kapitalistischer Staat unter vielen zu sehen sei – im Resultat implizit immer wieder darauf hinausliefe, damit sei die Sonderrolle des Staats der Juden nach dem Holocaust nachgerade die einzige, die dieser spiele. Die Angelegenheit ist aber komplexer.

Israels Rolle ist auf mehreren Ebenen zu sehen, die zu unterscheiden sind: Zunächst einmal ist einerseits seine Gründung in letzter Konsequenz das Ergebnis des europäischen modernen Antisemitismus bzw. genauer des nazideutschen Holocaust; andererseits aber war sein Selbstverständnis von Anfang von dem der Ashkenazim, also der europäischen Juden geprägt; nimmt man den Antisemitismus als charakteristische ideologische Äußerungsform der westlich-kapitalistischen Bürgerlichkeit einmal aus, stellt sich ein komplexeres Bild dar. Schon in ihrem mehrheitlichen Bestreben einer vollständigen Assimilation, deren Gewährung durch viele europäische Staaten zeitlich fast mit dem modernen antisemitischen Syndrom zusammenfällt, hatten die Juden auf allen anderen Ebenen die westliche Subjektform übernommen und verinnerlicht. Das beinhaltet unter vielem anderen natürlich auch den Nationalismus in Form des Zionismus, wenngleich diese Strömung vor dem Holocaust unter den jüdischen Populationen Europas keineswegs mehrheitsfähig war. Doch danach migrierten viele Überlebende, ob nun Zionisten im eigentlichen Sinne oder nicht, nach Palästina, auf der Suche nach einem dauerhaften Zufluchtsort (übrigens zunächst gegen erheblichen Widerstand vor allem der Kolonialmacht Großbritannien).

So kam es tatsächlich zur Umsetzung der zionistischen Parole „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ – zunächst einmal eine dieser typischen Lebenslügen, mit denen man sich auch vorher immer wieder über alle Realitäten hinweggesetzt hatte, die der Gründung des jeweiligen Nationalstaates im Wege standen. Doch fiel diese Staatsgründung zeitlich zusammen mit der letzten Phase des westlichen Kolonialismus, und das zukünftige Staatsgebiet, in welchen genauen Grenzen auch immer, lag in einer solchen Kolonialregion (britisches Protektorat seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs). Für die dort ansässige arabische Bevölkerung waren die Juden zunächst einmal in erster Linie „Westler“, wirkten für sie mit der Zeit wie ein postkolonialer „verlängerter Arm des Westens“ in der Region.

Im Gegensatz zum christlichen Antijudaismus der europäischen Vormoderne gab es dort, wie überhaupt im arabisch-islamischen Raum, keine eigene Tradition antijüdischen Zuschnitts, wenngleich in der immer aggressiveren Auseinandersetzung mit den zionistischen Juden, die sich in Palästina – und damit ab 1920 im britischen Protektorat – angesiedelt hatten, schließlich antisemitische Ideologie gewissermaßen als Waffe aus demselben Westen importiert wurde; das Bindeglied waren zu jenem Zeitpunkt weite Teile der palästinensischen Eliten, für die, wie in unterschiedlichem Grad generell in der späten Kolonialzeit, eine hybride Konstitution charakterisch ist: Beispielsweise war da zum einen ihre noch weitgehend intakte personale Herrschaft im Rahmen von Clanbeziehungen, die auch zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft weitgehend subsistiert hatte; zum anderen aber waren die Clanchefs hinsichtlich ihres Selbstverständnisses bereits in einer Art Haßliebe auf den Westen fixiert; sie übernahmen teilweise westliche Maßstäbe und Denkformen und wandelten sich partiell – mal mehr, mal weniger, aber auf jeden Fall in höherem Maße bzw. früher als ihre Untergebenen – zu bürgerlichen Subjekten.

Solche Überlegungen, die ich hier nur ganz kurz stichwortartig erwähnt habe, müßten m.E. mitberücksichtigt werden, um zu einer umfassenden Beurteilung des Nahostkonflikts zu kommen, die sich nicht darin erschöpft, den (an sich richtigen) Teilaspekt zu benennen, Israel sei nie in dem besagten Stellvertreterkonflikt aufgegangen. Vor allem zu Beginn ergibt sich ohnehin eine Konstellation, wo dieser sich gebrochen darstellt; es sei nur auf die Tatsache verwiesen, daß der 1948 proklamierte Staat Israel von der Sowjetunion sofort anerkannt wurde und in dem unmittelbar folgenden Krieg der Anrainerstaaten mit noch sehr prekärem nationalideologischem Selbstverständnis im Rahmen der dort gerade formal erfolgten Entkolonialisierung einer von Israels wichtigsten Waffenlieferanten die ebenfalls gerade erst entstandene staatssozialistische Tschechoslowakei war. Im Rahmen der Suezkrise 1956 zwangen die USA und die Sowjetunion gemeinsam Israel, sich sukzessive aus dem Gaza-Streifen und von der Sinai-Halbinsel zurückzuziehen, die es bei jener Gelegenheit gerade – in einer Mischung aus Prävention gegen den aggressiven Nachbarstaat Ägypten und zu Zwecken der „Arrondierung“ des eigenen Staatsgebiets – besetzt hatte. Ohne hier in die Einzelheiten zu gehen, ist es offensichtlich, daß dabei nicht nur die beiden Supermächte an einem Strang zogen, sondern auch daß sie das nicht aus antiisraelischen oder antisemitischen Gründen taten; das Stichwort Suezkanal soll hier als Begründung genügen.

Im Grunde war die Stellvertreterkonstellation eindeutig erst im Laufe der 1960er Jahre, spätestens mit dem Krieg 1967 gegeben und dauerte etwa 20 Jahre an. Doch wie das bei Stellvertreterkonflikten zu sein pflegt, kann – nun allerdings auf einer anderen Ebene als der des Antisemitismus – selbstverständlich auch nicht davon die Rede sein, daß die an den Stellvertreterkriegen beteiligten arabischen Länder in diesem Konflikt „aufgingen“. So versuchten sie zum einen natürlich, unterhalb der bipolaren Dominanz des Nordens ihre je eigenen (regionalen) Interessen durchzusetzen, zum anderen standen sie in postkolonialen ideologischen Auseinandersetzungen, die viel mit Fragen des prekären und instabilen nationalen Selbstverständnisses zu tun hatten; solche und damit verwandte Themen hatten einen langen Vorlauf gehabt, dessen Beginn spätestens mit der Eroberung Ägyptens durch den westlichen Modernisierer Napoleon Bonaparte angesetzt werden kann. Auch in dieser Region wird man das, was dort geschah, für die Zeit nach der Kolonialherrschaft nicht auf Bemühungen um eine nachholende Modernisierung beschränken können, zu deren Zweck – und vermeintlich einzig aus diesem Grund – ein autoritärer Staat ins Leben gerufen worden sei.

Doch an dieser Stelle weiter zur Frage des sich wandelnden Charakters des Stellvertreter-Konflikts, wie ihn Kurz bereits in KgJ beschrieben hatte. Ohne hier die weiteren Etappen noch einmal im einzelnen aufzuführen, wie Kurz sie unscharf benennt, ist die Frage nun, inwiefern bzw. in welcher Weise dieser Platzhalterkonflikt nach dem Ende der Blockkonfrontation aufgrund des Zusammenbruchs des staatssozialistischen Produktions- und Reproduktionsmodells heute weiterwirkt. Es ist jedenfalls offensichtlich, daß von da an die Bipolarität alten Stils einer Monopolarität weichen mußte; es sei denn, man interpretiert nun die Auseinandersetzung in Nahost als stellvertretenden Konflikt zwischen dem Kernbereich des warenproduzierenden Systems und der Verliererseite in der Peripherie generell. Kurz tut das vermutlich, und gewiß kann man die Situation der letzten zwanzig Jahre zumindest als ein Vexierbild, als eine asymmetrische Variante des alten Stellvertreterkonflikts auffassen.

Kurz‘ Zeitungsartikel läuft jedenfalls schließlich auf den folgenden Schlüsselsatz zu: Der Stellvertreter-Konflikt hat eine soziale Dimension auf globaler Ebene erreicht. Gegen den ideologischen Mainstream muss festgestellt werden, dass die Vernichtung von Hamas und Hisbollah eine elementare Bedingung nicht nur für einen prekären kapitalistischen Frieden in Palästina ist, sondern auch für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse.“ Damit ist klar: Für Kurz geht es ums Ganze, und sei es nur hinsichtlich der schieren Möglichkeit einer relativen Verbesserung. Vorher hat er einerseits die Linke in ihrer Verwahrlosung (für weite Teile derselben in der Tat durchaus zurecht) beschrieben, andererseits auch eine Verknüpfung weltpolitischen Handelns zur Weltwirtschaftskrise hergestellt: Der Westen könne seine Weltordnungskriege nicht länger finanzieren und wolle deshalb die autoritär-islamistischen und antisemitischen Hamas und Hisbollah (nicht zuletzt als Verhandlungspartner vor Ort) anerkennen, um die Krisenverwaltung in dieser Region sozusagen billiger zu bekommen. Implizite Lesart: Der Westen läßt Israel fallen und ins Verderben stürzen.

Es ist nun ausgesprochen riskant, weitgehend auf mehr oder weniger kurzfristige Prognosen hinsichtlich der politischen Entwicklung zu setzen, um daraus einen nicht unwesentlichen theoretischen Kurswechsel als notwendig herzuleiten. Die Vernichtung der Hamas durch die israelische Militärintervention Israels 2008 / 2009 hat schließlich nicht stattgefunden; ein Umstand, den Kurz hinterher in KmG (207) damit erklärt, erstens hätten die israelischen Regierungsparteien bei einer längeren Kriegsdauer für sich wegen der Folgen hoher eigener Verluste gefürchtet – angesichts der sehr großen Zustimmung zur Intervention in Israel und des von Kurz selbst vorher konstatierten äußerst bescheidenen militärischen Potenzials der Hamas in Gaza eine kühne Annahme – und andererseits hätten sich die USA und Europa nicht eindeutig hinter diesen Krieg gestellt, was der „Exit!“-Autor im nachhinein auch für den Krieg mit der Hisbollah im Südlibanon anderthalb Jahre zuvor konstatiert.

Nun gibt es immer wieder Phasen, wo aus verschiedenen Gründen vor allem die USA auf Israel erheblichen Druck ausgeübt haben; man vergesse nicht den von jenen erzwungenen Friedensprozeß mit Ägypten, in dessen Vorphase Israel zeitweise ziemlich isoliert war. Doch Kurz meint ja, der Abgrenzungsprozeß des Westens diesem Staat gegenüber gehe dieses Mal noch erheblich weiter.

Wir erleben in diesen Jahren eine erhebliche Konfusion, eine Umbruchszeit, wo gerade auch der Westen keine endgültige Strategie gefunden hat, um seine Weltordnungskriege neu zu bewerten oder gar ganz durch eine andere Vorgehensweise zu ersetzen; momentan könnte man eher sagen, daß diese mit Pakistan in der letzten Zeit noch einen zusätzlichen Schauplatz gefunden haben. Bisher ist jedenfalls nichts davon zu bemerken, daß nun per Delegation auf die Krisenverwaltungsdienste von Hamas und Hisbollah gesetzt wird, wie Kurz es zu erkennen glaubt; bei dem hier vorliegenden Dauerkonflikt ist es ohnehin nicht leicht erkennbar, wieso in den Augen der USA und Europas gerade jetzt solch eine Krisenverwaltung „um jeden Preis“ (Hamas) und zugleich möglichst billig her muß. Die Siedlungspolitik Israels geht weiter; der vom Westen gestartete Versuch (mit sehr aktiver Beteiligung des BND), Hamas und die PLO zur Versöhnung zu bringen, um damit wieder zur Situation vor dem Bürgerkrieg zwischen beiden Parteien im Gazastreifen zu gelangen, ist gescheitert; die Hamas wird weiter unter der Rubrik „terroristische Organisation“ geführt, und kürzlich kam es – einmal mehr – zu einer neuen Verhandlungsrunde zwischen Israel und der PLO. Damit hat sich Kurz‘ Diagnose bzw. Prognose nicht bewahrheitet. Schließlich ist vor kurzem Israel in die Reihen der OECD-Staaten aufgenommen worden, was auch nicht gerade für eine zunehmende Isolierung durch den Westen spricht. Fast könnte man sagen: Business as usual, allerdings mit ungewisser Perspektive – und auch das nicht zum ersten Mal.

Geändert hat sich in letzer Zeit, daß Ägypten die Blockade des Gazastreifens aufgehoben und Israel sie seinerseits etwas gelockert hat. Die Vorgeschichte in Form einer internationalen Aktion von Teilen der Linken, besagte Blockade zu durchbrechen („Gaza-Flottille“) dürfte bei dem Wirbel, den sie verursacht hat, als bekannt vorauszusetzen sein. Diese Aktion brachte in beiden Lagern dieselben hysterischen Reaktionen an den Tag und hat im Resultat zudem in verstärktem Ausmaß gezeigt, daß Israel inzwischen wieder mit wesentlich kritischeren Tönen aus den Reihen westlicher Politik konfrontiert ist; so viel ist richtig.

Die Friedensbewegung in Israel hat in den letzten Jahren deutlich an gesellschaftlichem Einfluß eingebüßt, wofür Kurz ausschließlich die gestiegene Bedrohung Israels verantwortlich macht; das hat zur Folge, daß die israelischen Kriegsverbrechen, wie sie auch wieder bei der Militärattacke gegen den Gazastreifen vorkamen, nur noch von einer kleinen Minderheit im Land kritisiert werden. (Übrigens: Kriegsverbrechen, von wem auch immer begangen, als solche zu benennen sollte auch weiterhin im Vorfeld kritischer Theorie eine Selbstverständlichkeit sein; doch bei Kurz – KmG 223 – schrumpfen sie in diesem konkreten Fall nun auf betreten eingeräumte „illegitime Momente der Kriegsführung“ zusammen.) Gleichzeitig ist aber die Kritik an Israels Politik unter den nichtisraelischen Juden deutlich angestiegen; das ist ein Problem, dem „Antideutsche“ und andere Vertreter der „bedingungslosen Israelsolidarität“ häufig zu begegnen versuchen, indem sie alles von dieser Seite kritisch Geäußerte unter die Rubrik „jüdischer Antisemitismus aus Selbsthaß“ subsumieren und damit im Schnellverfahren als indiskutable Argumentation entsorgen.

Viel mehr als eine bislang ausbleibende grundsätzliche Neuorientierung des Westens in Form einer klaren Absetzbewegung von Israel ist aber nun die neue Rolle von dessen bisherigem Dauerverbündeten, der Türkei zu beachten, in der dem Iran ein ernstzunehmender Gegner erwachsen ist, wenn es darum geht, aus der Unzufriedenheit mit der Situation in Nahost und den palästinensischen Gebieten im besonderen Kapital zu schlagen, um sich zu einer stärkeren Position als Regionalmacht aufzuschwingen. Der Iran hat so also Konkurrenz und damit in seiner Rolle als „antizionistischer Wortführer“ ein zusätzliches Problem bekommen etwa bei seinem Bestreben, die internen Probleme durch zündende Reden gegen das „zionistische Gebilde“ Israel aus der Welt zu schaffen oder zumindest von ihnen abzulenken. Auch der weitgehend an den Trennungslinien Schiismus – Sunnismus entlang verlaufende Machtkampf hauptsächlich mit Saudi-Arabien droht komplizierter zu werden, wenn die Türkei nicht länger auf eine immer wieder verunmöglichte Mitgliedschaft in der Europäischen Union schielt und stattdessen Einfluß in der Region des Nahen und Mittleren Ostens zu gewinnen sucht.

Weiter ist seitdem geschehen, daß die USA und Europa schließlich sowohl China als auch Rußland dafür gewonnen haben, ein Paket von Sanktionen gegen den Iran auf den Weg zu bringen, wohl wissend, daß die alten relativen Alleingänge der Bush-Administration weder von Erfolg gekrönt waren noch – unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und nicht zuletzt der sich daraus ergebenden Verschiebung der globalen Machtverhältnisse – eine gangbare Perspektive darstellen. Wenn auch relativ spät, so verschärft sich nun deutlich der Kurs gegen das Mullah-Regime – oder, wie man mittlerweile wohl treffender sagen müßte: das Pasdaran-Regime –, eine militärische Intervention liegt mittlerweile erneut im Bereich des Möglichen. Und wo wir bei Prognosen sind: So oder so wird der zerrüttete, von den Gegensätzen innerhalb der (Funktions-)Eliten geprägte und de facto längst gescheiterte Gottesstaat auch langfristig nicht in den Besitz von Atomwaffen gelangen, ob er nun gewaltsam daran gehindert wird oder – die weniger wahrscheinliche Alternative – aufgrund des ausgeübten Drucks selbst deutlich erkennbar von solchen Plänen Abstand nimmt.

3. Kurz‘ Aufforderung zur Parteinahme im Stellvertreterkonflikt

Angesichts der gegenwärtigen komplexen Gemengelage nimmt Kurz überraschend zu einem nur wenig verdeckten Lagerdenken Zuflucht, indem er die Weltmarktverlierer in ihrer islamistischen Ausprägung nun zur alles entscheidenden, allein zu bekämpfenden „Stellvertreterpartei“ in der Auseinandersetzung mit einer in Schwierigkeiten geratenen Weltpolizei erklärt, da dieser Konflikt hinsichtlich seiner Konsequenzen weit über die Nahostregion hinausreiche und „eine soziale Dimension auf globaler Ebene“ erreicht habe. Somit müsse Israel durch die Vernichtung von Hamas (und Hisbollah) einen notwendigen Beitrag dazu leisten, daß eine wie auch immer geartete – und offenbar ebenfalls im globalen Maßstab gemeinte – „Verbesserung der sozialen Verhältnisse“ überhaupt noch perspektivisch möglich sei.

Es hat mich einige Mühe gekostet zu begreifen, wer denn Kurz‘ Ansicht nach aktuell in der Region der Stellvertreter von wem ist, da der hier unscharfe Begriff nun möglicherweise eher metaphorisch bzw. in rein ideologischer Bedeutung verwandt wird. Es handle sich „um einen mehrdimensional vermittelten Stellvertreterkonflikt“, „dessen globale Wahrnehmung auf bestimmte Weise gefiltert und aufgeladen wird“ (KmG 186); Israel rücke „in die Stellvertreterposition für das Kapital überhaupt“ ein (KmG 209), womit, wenn ich es recht verstehe, die palästinensischen Gebiete von vielen Leuten mit linkem Selbstverständnis, aber auch von Hamas, dem iranischen Regime, dem bolivarianischen Caudillismo eines Chávez in Venezuela, bedingt auch eines Evo Morales in Bolivien usw. in die Stellvertreterposition eines rein und fast ausschließlich antisemitisch – oder antiisraelisch, was in dieser Lesart dann in der Tat dasselbe wäre – aufgeladenen blinden Antikapitalismus mit hohlem Widerstandsgestus katapultiert würden.

Wie dem auch sei: In dem Artikel „Der Krieg gegen die Juden“ jedenfalls scheint mir Israel, um das sich Kurz so besorgt zeigt, nur der Vorwand zu sein, um in der globalen Auseinandersetzung einen Schwenk zu vollziehen weg von der Kritik an der Politik der imperialen westlichen Weltpolizei – was bei ihm schließlich noch nie bedeutet hatte, nun etwa die barbarische Konsequenzen unterschiedlichster Ausprägung nach sich ziehenden Verwerfungen innerhalb der sogenannten Dritten Welt kleinzureden – und hin zu einer Parteinahme für diese nun als „kleineres Übel“ aufgefaßte Option, zu welcher der Autor alle und insbesondere diejenigen, die ein linkes Selbstverständnis haben, gewissermaßen ultimativ drängt. (Das würde, unter anderem, auch die vergleichsweise Indifferenz des Autors gegenüber dem „ganz gewöhnlichen“ Antisemitismus außerhalb des Israel-Kontexts erklären, insbesondere auch, wenn er nicht von links kommt.)

Israel wird so vor allem in die Rolle eines – wenngleich sicherlich auch in seinen eigenen Belangen unterstützten – Erfüllungsgehilfen katapultiert und in seiner Funktion als Vorposten des Westens in der Region sozusagen aus pragmatischen Erwägungen für die globale Zukunft heraus affirmiert, und so können zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Israel verbessere seine Überlebenschancen als Staat beträchtlich durch so ein eingefordertes konsequentes Vorgehen, und zudem werde, so die Hoffnung, der Weg wieder freier für zumindest erneut denkbare soziale Veränderungen, für welche die westlichen Rahmenbedingungen Kurz geeigneter erscheinen als die der Regionen, welche immer mehr in den Strudel des Islamfundamentalismus geraten.

Es verdichtet sich also der Eindruck, daß es Kurz in letzter Instanz doch nicht oder nicht primär um Israel geht, sondern daß er – unter maßgeblichem Einfluß durch die spezifisch deutsche Debatte letzthin weiter prägende „antideutsche“ Positionen, aber mit einer etwas anderen Zielsetzung – nun den Zeitpunkt unwiderruflich für gekommen hält, in der globalen Konfliktlage Partei zu ergreifen. Daran ändert auch nichts, daß er in KmG (191) nachträglich seinen Text „Der Krieg gegen die Juden“ ausschließlich als Artikel „mit proisraelischer Schlußfolgerung“ bezeichnet (und ihn übrigens merkwürdigerweise fast im gleichen Atemzug kleinschreiben will, indem er ihn auf „4000 Zeichen“ veranschlagt, obwohl dieser über 6300 liegt).

Es gilt hier erst einmal festzuhalten, was an Kurz‘ Argumentation richtig ist: Der selbstzerstörerische und zerstörerische Todeskult des Islamismus nimmt immer barbarischere Formen an. Ebenfalls richtig ist: Viele Menschen mit irgendwie linkem Selbstverständnis im Westen definieren zunehmend kurzerhand und völlig kritiklos die islamfundamentalistisch mitgeprägte Variante, bisweilen sogar vorbehaltlos, zu einem Ausdruck irgendwie „antiimperialistischen Widerstands“ um und unterstützen diesen Popanz, der sich in Wirklichkeit – auf den unterschiedlichsten Feldern – krass antiemanzipativ positioniert, massiv; damit tragen sie nicht unerheblich zu dem trostlosen Gesamtbild des gegenwärtigen Standes von Gesellschaftskritik bei.

Schließlich ist es auch (in Kurz‘ Gesamtinterpretation und tendenzieller identitätslogischer Zusammenziehung allerdings nur bedingt) richtig, daß antisemitische „Argumentations“-Elemente in verschiedenen Ausprägungen, unterschiedlichem Kontext und mit verschiedener Stoßrichtung zu finden sind: Von den aus dem Norden importierten sogenannten „Protokollen der Weisen von Zion“ vom Ende des 19. Jahrhunderts, wie sie etwa auch in der Gründungscharta der Hamas von 1988 in geballter Form vorkommen – von einer eigenständigen antisemitischen Literatur im arabisch-islamischen Kontext in den letzten Jahren und Jahrzehnten ist dagegen nichts bekannt – , bis hin zu der erkennbaren Zunahme antisemitischer Muster und Untertöne im Westen (und dort eben nicht nur in der Linken). Auch die völlig unkritische Begeisterung in linken Kreisen über einen Verbündeten Irans, Venezuela mit dem sozialistischen Caudillo Chávez an der Spitze, muß hier erwähnt werden.

Wenn das nun bereits die entscheidenden Umrisse des gegenwärtigen Gesamttableaus wären, würde ich Kurz unter Umständen zustimmen. Doch dem ist nicht so, das Bild nicht vollständig. Es fängt schon damit an, daß zugleich im Westen eine deutliche Zunahme von Rassismus zu beobachten ist, was übrigens auch und sogar ganz erheblich für Israel gilt. Fatal wäre es, wenn antisemitische und rassistische Ideologie gegeneinander ausgespielt würden. Aber noch grundsätzlicher: In „Mudschahidin des Wertes“ schrieb Kurz 2001 über die „Antideutschen“, von ihnen werde „[...] die lächerliche Alternative aufgemacht, wir müßten nun hierzulande dringend eine Entscheidung zwischen der drohenden Herrschaft der Scharia und dem guten alten Kapitalismus treffen, die dann natürlich aufatmend zugunsten des letzteren ausfällt. Im Grundsatz ist zu konstatieren, daß Kurz mittlerweile auf diesen Standpunkt, die Aufmachung dieser lächerlichen Alternative weitgehend eingeschwenkt ist, wobei das „aufatmend“ hier aber doch entfällt.

Dem seien nun weitere Worte desselben Autors (aus demselben Text) entgegengesetzt, die für ihn zumindest noch vor sieben Jahren gültig waren, als er am Beispiel des deutschen NS darlegte: „Nur in dieser einmaligen Situation war es notwendig, mit dem Kapitalismus gegen den Kapitalismus zu kämpfen, um die bloße Möglichkeit der Emanzipation zu retten.“ Und noch einmal soll der „alte“ Kurz hier zu Wort kommen: „Nicht allein die millionenfache Zahl der Opfer ist es, die den Holocaust zu einer historischen Singularität gemacht hat, sondern das völlige Fehlen eines definierbaren Interessenstandpunkts, wie er in dieser oder jener Form hinter allen anderen Genoziden und Massenmorden der Modernisierungsgeschichte zu finden ist.“ (in: „Geld und Antisemitismus“)

Dieses völlige Fehlen eines definierbaren Interessenstandpunkts ist im Falle der Situation im Nahen Osten, einschließlich Iran, nun eben nicht gegeben. Kurz‘ Argumentation in den beiden genannten Texten liegt aber auch zugrunde, die Zeit der Weltordnungskriege sei vorbei, und genau das sei das Problem für Israel. Und genau hier liegt ein Kardinalfehler der Analyse: Die Zeit der Weltordnungskriege ist mitnichten vorbei, auch wenn weitere Länder und Regionen in jüngster Zeit – außer bedingt Pakistan und dem Jemen – nicht hinzugekommen sind. Den von Kurz früher konstatierten westlichen „destruktiven Universalismus“ nun zu bejahen, und sei es nur aus taktischen Gründen, sozusagen um „Schlimmeres zu verhüten“, darf nicht am Ende einer neuen Beurteilung der globalen Situation stehen.

Es ist eben empirisch nicht erkennbar, wieso die Situation in der letzten Zeit für Israel so erheblich bedrohlicher, ja existenzbedrohend geworden sein soll, was ja von Kurz als Ausgangspunkt bzw. Untermauerung für die nun notwendig gewordene Forderung einer Vernichtung der Hamas gewählt wird. Die hausgemachten Qassam-Raketen und, ganz vereinzelt, Grad-Raketen sind hinsichtlich ihrer Zerstörungskraft, Reichweite und Treffsicherheit nun denkbar harmlos und haben eine tödliche Wirkung in den umliegenden Ortschaften auf der israelischen Seite, die gegen Null tendiert. Davon, daß inzwischen die Hamas-Milizen mehr und mehr „vom Iran auch mit präziseren Waffen, Boden-Luft-Raketen etc. ausgerüstet“ werden, wie Kurz meint (KmG 204), ist mir nun aber nichts bekannt, und es ist die Frage, wie diese Waffen denn überhaupt die israelische Blockade des Gazastreifens umgehen könnten; aber auf die Hisbollah mag das durchaus zutreffen. Es wäre andererseits überraschend, wenn die Gruppen, die sich de facto mit Israel in einem asymmetrischen (Fast-)Dauerkrieg befinden, ihrerseits nun eine Aufrüstung aufgrund humanitärer Gesichtspunkte von sich wiesen.

Aber zurück zur Hamas: Kein Vergleich zu den verheerenden Konsequenzen der Selbstmordattentate, die sich besonders zu Anfang des Jahrzehnts auf israelische Metropolen wie Tel Aviv, Haifa und Jerusalem konzentriert hatten; einige davon übrigens auch unter der Regie der Fatah-Milizen ausgeführt, die Kurz ja als das vergleichsweise deutlich positiv sich abhebende säkulare Gegenbild verschiedentlich ins Feld führt. (Als hätte nicht die PLO, und innerhalb derselben die dominierende Fraktion Fatah, wenn auch nicht mit dermaßen aggressiven antisemitischen Äußerungen im Gepäck wie die Hamas, bis vor etwa 20 Jahren das Existenzrecht Israels ebensowenig anerkannt! Als wäre Fatah nicht eine größtenteils aus der Muslimbruderschaft entstandene Gruppe, deren Vorstellungen lange mit antisemitischen Zügen und Vorstellungen von Säuberung und Liquidierung, von der Zerstörung Israels einhergingen!) Doch als damals ein Selbstmordattentat das andere jagte, hatte Kurz den Bestand des Staates Israel nicht in Gefahr gesehen, ebenso wenig wie ich. Und nur wenn es darum geht, daß Israel substantiell von außen bedroht ist, ist die entschiedene Parteinahme für einen Staat (und zwar nur für diesen Staat!) nicht nur gerechtfertigt, sondern ausgesprochen angebracht. Solidarität dagegen ergibt grundsätzlich nur einen Sinn, wenn sie – wo auch immer – leidenden Individuen gilt, nicht aber wenn sie Staaten gegenüber erklärt wird.

4. Zur Rolle der (Weltwirtschafts-)Krise hinsichtlich von Ideologie(n)

Spätestens im Herbst 2008 ist die längst schon latent angelegte Weltwirtschaftskrise abrupt und in schon wesentlich deutlicher erkennbaren Umrissen sichtbar und wirksam geworden; sie war vorher von (Welt-)Markt und Staat(en) durch das Aufpumpen von Blasen fiktiven (Finanz- bzw. Kredit-)Kapitals ohnehin nur herausgezögert worden; und das – mittelfristig zum Scheitern verurteilte – Rezept ist auch jetzt wieder, massivere Folgen zu verschleppen. Dabei ist nun die Rolle des vorher doch so weit zurückgedrängten Staates im Sinne eines gigantischen Schuldners und Bürgen gefragt, der vermeintlich für alles aufkommen kann und bisher allein durch sein Versprechen, das zu tun, ein vollständiges Kollabieren des Produktions- und Finanzsystems vorerst vermeiden konnte. Doch mittlerweile ist er selbst in die Schußlinie geraten; damit ist die Staatsverschuldung – vielerorts begleitet von hoher Verschuldung der Privathaushalte – sichtbar eines der Hauptprobleme geworden und beginnt bereits ihr Krisenpotenzial zu entfalten. Die Verlagerung der Krise auf die Staaten – nachdem zunächst die Krise des produktionsorientierten Sektors auf die Sphäre des (fiktiven) Finanzkapitals verlagert worden war – konnte also nur kurzfristig entlastend wirken; mehr und mehr, mehr noch als zuvor schon stellt sich der Eindruck eines äußerst schwankenden, widersprüchlichen Kurses der Krisenverwaltung und des rhetorischen Gesundbetens der Situation ein.

Zunächst einmal zeigt sich die Krisenverschärfung, aufgrund der erheblich größeren Fallhöhe, primär in den „klassisch westlichen“ kapitalistischen Kernregionen bzw. an deren halbwegs integrierten Rändern. Dieser Prozeß steht nun aber erst am Anfang und wird in den kommenden Jahren, unabhängig von unbedeutenden kurzfristigen Schwankungen, an Schärfe noch erheblich zunehmen, ohne daß damit allerdings Näheres über die Verlaufsformen im einzelnen zu sagen möglich wäre bzw. ohne weitere Krisenschübe und Einbrüche zeitlich und räumlich genauer bestimmen zu können. Eine Produktions- und Reproduktionsform dankt ab, auf Raten.

Die seitdem und bisher zu verzeichnenden Reaktionen auf diese neue und zugespitzte Situation könnten nun kaum trostloser ausfallen. Von Keynesianismus- und Staatsnostalgie (nicht zuletzt hinsichtlich des nur scheinbar wieder souverän eingreifenden Nationalstaats, der in Wirklichkeit wie schon vorher, so auch jetzt nicht mehr in ausreichendem Maße Herr des Verfahrens ist) über den Rekurs auf vermeintliche anthropologische Konstanten wie „Gier“ als Erklärung des Geschehens reicht das Spektrum, in vorgestellt „antikapitalistischer“ Hinsicht, bis hin zur Deutung der Krise als einer reinen Finanzkrise, wo das heuschreckenhafte Agieren des üblen Finanzkapitals parasitär den eigentlich doch ganz gesunden Körper der produktionsorientierten und damit vermeintlich guten „Realwirtschaft“ befallen habe. (Daran kann, so viel ist richtig und sei hier schon gesagt, mit antisemitischer Intention angeknüpft werden, auch wenn die Überlegungen zu einem entsprechenden „strukturellen Antisemitismus“ bei Robert Kurz irreführend sind.) Hier gibt es verschiedene Mischformen neben der vielleicht immer noch meistverbreiteten Sichtweise, die angesichts der eigenen Paralyse und Konsternation der mit der Krise Konfrontierten in einer dumpfen und blindwütigen Nicht-Sichtweise besteht, wobei aber zumindest implizit immer die bestehenden Formen von Produktion und Reproduktion unangetastet bleiben sollen und man sich krampfhaft, ja in jüngster Zeit krampfhafter denn je an die eigene bürgerliche Subjektform klammert.

Das ist eine Tendenz, die schon seit längerem erkennbar ist und sich in der mal mehr, mal weniger latenten Krisenverschärfung wie etwa in Form von Kürzungsprogrammen sozialer Leistungen oder im Rahmen der jüngsten Weltordnungskriege immer weiter zugespitzt hat und es weiter tut. Hochgehalten wird also in trotziger Verzweiflung nicht zuletzt gegen als nicht-aufgeklärt gebrandmarkte (und allerdings in der Tat nicht vollständig in den bürgerlichen Verkehrsformen aufgegangene) Gesellschaften die für ach so fortgeschritten und verteidigenswert erachtete bürgerliche Subjektform. Gegenüber ganzen, von überzeugten „Westlern“ solchermaßen verdammten Weltregionen – Stichwort: Islam, „clash of cultures“ – wird nun das gesamte bürgerliche Inventar mobilisiert, welches damit als Bollwerk gegen die Barbarei stark gemacht werden soll; Barbarei darf also, wieder einmal, ausschließlich als von außen kommend gedacht werden. Das gilt generell für einen großen Teil der westlichen Gesellschaft schlechthin und nicht zuletzt auch für die verschiedenen Mischformen innerhalb der inzwischen recht weit verzweigten Gemeinde der sogenannten „Antideutschen“, primär aber für deren harten Kern.

Unter diesen Personen und Gruppen gibt es kurioserweise auch solche, die sich als Kommunisten bezeichnen, nur daß das damit verbundene Selbstverständnis seiner Realisierung eben noch ein wenig harren muß; erst einmal, so heißt es, gelte es den Status quo als fortgeschrittenstes Stadium der Weltgeschichte gegen gleichsam atavistische Gefahren von außen zu verteidigen – die zugleich erstaunlicherweise mit dem (atavistischen?) NS in eins gesetzt werden. Zumindest wenn man die kurze Definition von Marx und Engels zugrundelegt, nach der Kommunismus „die wirkliche Bewegung“ sei, „welche den jetzigen Zustand aufhebt“ (oder doch die von dem gleichen Grund angetriebene, auf dasselbe zielende theoretische Beschäftigung), so ist nicht recht klar, warum hier das Wort Kommunismus im Munde geführt wird. Aber gewiß hatte vor gut einem Jahrhundert ja auch Eduard Bernstein sich auf Marx bezogen und seinerseits im Resultat jegliche Aufhebungsbestrebungen zurückgestellt. Damals war es allerdings im Gegensatz zu heute zentral um die Rolle des Klassenkampfs gegangen, jedoch war auch Bernsteins Position schließlich in eine affirmative „Realpolitik“ gemündet, wobei er übrigens die Kolonialpolitik des Kaiserreiches mit deutlich kulturrassistischen Einlassungen begrüßte – Unterschiede und Parallelen.

Somit ist der von aufklärerischen „antideutschen“ Kräften, aber auch von weiten Teilen des (ebenso bürgerlichen) Mainstreams zum Sparringspartner auserkorene „Außenpart“ nun ein ganz bestimmter Teil der Welt. In dem entsprechenden islamisch mitgeprägten Raum sind unter dem globalen Dach der Wertverwertung in ihrer fetischisierten Realität nun allerdings Reste aus einer vormodernen Fetischkonstellation in spezifischer Weise weiter wirksam; deutlich mehr noch und mit gewichtigeren Konsequenzen für die sozialen Beziehungen als im früher gewissermaßen effektiver „durchrationalisierten“ Westen; auch hier sind solche modifizierten Elemente ursprünglich vormoderner Herkunft teilweise in der Denkform durchaus noch anzutreffen, wenngleich sie sich nicht bzw. nicht mehr unmittelbar handlungsleitend auswirken. (Siehe dazu auch meinen Text „Benedikts Eiertanz“.)

In der besagten Feindbildregion war die Modernisierung schon seit Anbeginn der Moderne in Form eines Diktats des Westens als Kolonial- oder anderweitig dominante Kontrollmacht erfahren, immer nur äußerst ambivalent aufgegriffen und oftmals, zumal im Laufe des 20. Jahrhunderts bis zur Entkolonialisierung, auch bekämpft worden; doch dazu später etwas ausführlicher. Festzuhalten ist aber schon jetzt, daß angesichts der Krise der Gegenwart weite Teile der islamisch geprägten Regionen in den letzten Jahren auch gerne bei dem absurden (überwiegend unter kulturideologischen Vorzeichen ausgetragenen) Ping Pong mitspielen und einen äußerst aktiven Part übernehmen; dabei nimmt besonders die nur bedingt oder nicht bzw. nicht länger an staatliche Zielsetzungen gebundene Form islamistischer bzw. jihadistischer Ideologie – und die ist es, die sich auf das gemeinsame Feld der Wertvergesellschaftung scheinbar negativ, eigentlich aber im Kern (und in äußerst antiemanzipativer Weise) auf den "dekadenten Westen" bezieht – besonders barbarische Züge an.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich nun, engt man hier die Betrachtung wieder auf Deutschland bzw. auf den Westen ein, nach der Ära einander befehdender Blöcke markt- bzw. staatskapitalistischen Zuschnitts ein immer größerer Raum für erstaunliche Allianzen wie Huntington + „Antideutsche“ auf der einen Seite, für so etwas wie mit linkem Selbstverständnis einhergehenden Nationalbolschewismus + NPD und ähnliches auf der anderen; die alten Trennungslinien weichen immer mehr auf, die Grenzen zerfließen; stattdessen bilden sich neue Lager aus, die ihre Grabenkämpfe nun untereinander austragen: Westlicher Aufklärungsuniversalismus, immer anfälliger für Rassismus und Affirmation des Status quo, versus Beschwörung (national-)staatlicher Souveränität bzw. von deren Wiederauferstehung, immer anfälliger für Nationalismus und Antisemitismus. Hier Partei zu ergreifen hieße, sich für Pest oder Cholera entscheiden zu wollen.

Bei den aufgeklärten Verfechtern eines Einzelkämpfertums, das euphemistisch „Individualismus“ genannt (dabei aber herzlich wenig mit Individualität zu tun hat) und gern auch mit dem Adjektiv „hedonistisch“ geschmückt wird, dient der eigene „Kulturraum“ als identitäre Bezugsebene, wo ein „bürgerliches Glücksversprechen“ auf seine Verwirklichung warte, was anderen „Kulturräumen“ abgehe. Oder aber diese Rolle übernimmt eben der eigene staatlich-nationale Rahmen als etwas unter allen Umständen und vor allem anderen zu Verteidigendes (bzw. überhaupt erst Wiederherzustellendes). Das geht bisweilen mit einer absurden (und ebenso verklärenden) Gemeinschaftsvorstellung im Kapitalismus Hand in Hand, die von ferne an die alte „Volksgemeinschaft“ erinnert; hier ist verdeckt bzw. seltsam verschwiemelt noch – oder wieder – die alte Klassenkämpferpose am Werk, nur daß solchen Vorstellungen der alte Kampf der Klasseninteressen im eigentlichen Sinne in der je eigenen (westlichen) Gesellschaft abhanden gekommen ist und nun in sozialromantischer Art und Weise weitgehend auf die dominierende Klasse „Westen“ bzw. „Norden“ gegen die dominierte Klasse „Süden“ verschoben worden ist, auf „Erste Welt versus Dritte Welt“. (Die Zweite Welt dieser Einteilung gibt es ja ohnehin nicht mehr.)

So sollen Schlachten geschlagen werden, die im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts bis zu einem gewissen Punkt noch einen – wenn auch nur partiellen – Bezug zur Realität hatten, doch wo diese Akteure heute den Wandel weg von der Annahme eines Territorialimperialismus und hin zu der Wahrnehmung einer nun relevanten abstrakteren Variante eines – beinah „reinen“ – Wertverwertungsimperialismus mit universalem Geltungsanspruch nicht zu vollziehen willens oder in der Lage sind. Vor diesem Hintergrund der Verschiebungen einer nicht mehr einfach in den alten Koordinaten („links“- „rechts“ oder auch „West“- „Ost“ usw.) zu interpretierenden Realität, die stattdessen noch am ehesten von einer (natürlich auch schon vorher vorhandenen und partiell ja auch berechtigten) Wahrnehmung „Norden - Süden“ abgelöst worden ist, werden alte Frontstellungen also immer weniger relevant, ja Bündnisse über diese vormals (vor allem subjektiv) so deutlich trennenden Gräben hinweg immer häufiger; da kennt man sozusagen „keine Parteien mehr“, da kennt man nur noch Deutsche – oder eben „Westler“, wenn es gilt, sich auf eine erweiterte „Wertegemeinschaft“ zu stützen. All das zusammen läuft dann irgendwie unter „links“ oder gar „kritisch“ oder unter beidem.

Mit der Verschärfung der Krise geht ein deutlicher Zusatzschub für bereits vorhandene Ideologien einher, wenn diese auch – und es ist wichtig, das hier festzuhalten – im Krisencharakter des Kapitalismus nicht ihre Wurzel haben; vielmehr werden sie in Zeiten der sich zuspitzenden Krise nur in zunehmendem Maße virulent oder wandeln sich von eher latent vorhandenen zu deutlich sichtbaren Ideologien. Als eine solche Ideologie oder „Krisenideologie“, wie Robert Kurz sie nennen würde (bzw. „postmoderne kulturalistische Krisenideologie“, wie er das etwa in KgJ im Falle des Islamismus bezeichnet), ist hier zweifellos und unbedingt der Antisemitismus zu nennen, wobei allerdings in diesem Rahmen unterschiedliche Manifestationen, Motivationen und Konsequenzen genauer zu betrachten sind. Um es in einer vermeintlich evidenten Form auszudrücken: Was für einen Argumentationskontext gilt, muß das noch lange nicht für einen anderen tun; und: was für den westlichen Kontext stimmt, muß keineswegs so auch für einen nichtwestlichen gelten.

Auch Kurz benennt am Rande einzelne entsprechende Schwierigkeiten, etwa wenn er in diesem Zusammenhang von der „psychohistorisch aufgeladenen Figur des Juden“ spricht (KmG 193), die er allerdings in letzter Instanz als weltweit vermittelt bzw. amalgamiert und damit aber dann doch wieder als weltweit einheitlich gültig ansieht; damit wird der Umstand der „Amalgamierung“ zu etwas rein Akzientiellem und Vernachlässigbarem. Einschränkend muß hier außerdem gesagt werden, daß er, wie bereits kurz erwähnt, zwischen Antisemitismus als bewußter Ideologie einerseits und „unbewußtem Judenhaß“ (Brumlik) andererseits unterscheidet; dabei sind seiner Darstellung gemäß die Grenzen fließend. Im gleichen Text auf der vorangehenden Seite spricht er zudem von „intergenerativen Übertragungen schon im kindlichen Wahrnehmungshorizont“, die für den unbewußten Judenhaß maßgeblich seien. Offensichtlich ist es ihm darum zu tun, solch eine unbewußte Judenfeindlichkeit anzunehmen, damit es erklärlich wird, warum viele antizionistische (oder antiisraelische) Vertreter den ihnen gegenüber geäußerten Verdacht, sie seien verkappte Antisemiten, empört zurückweisen. Wo angenommen wird, daß Unbewußtes wirkt, könnte natürlich die entsprechende Person auch zunächst einmal gar nicht anders, als – etwa in diesem konkreten Falle – dem Verweis auf Judenfeindlichkeit durch Ableugnen zu begegnen, da diese ja gar nicht bis ins Bewußtsein vorgedrungen ist.

Kurz macht in den beiden genannten Texten den angesichts seiner früheren Position überraschenden Fehler, die antisemitische Ideologie fast schon als die einzige, jedenfalls als die Krisenideologie par excellence anzusehen, deren Charakter gewissermaßen als „last resort“ somit eine gewisse Zwangsläufigkeit zukommen würde: Je mehr die Krise sich zuspitzt, desto mehr spitzt sich als Antwort darauf der Antisemitismus zu. Aber er hat übrigens teilweise recht, wenn er meint, man habe seine Texte früher nur zu einseitig gelesen. So ist etwa in „Die Jubelperser der Weltpolizei“ inmitten der damals heftigen Invektiven gegen die „Antideutschen“ auch folgende kurze Passage zu lesen: „[...] der Antisemitismus bildet ein integrales Moment [der] Subjektform [...], gewissermaßen ihre letzte krisenideologische Reserve“. Und an dieser Stelle setzt Kurz in seiner „Kindermörder“-Polemik nun allerdings mit Macht an.

Ein weiteres in diesem Zusammenhang zu beachtendes Problem ist, daß der Autor in den letzten Jahren ein ums andere Mal von „strukturellem Antisemitismus“ sprach; ein Begriff, den er zwar nun pro forma wieder ein wenig relativiert (KmG 235; als auch akzeptable Alternative bzw. Quasisynonym bringt er „Proto-Antisemitismus“ ins Spiel), aber deshalb keineswegs aufgibt und im folgenden auch weiterverwendet. Das ist ein Ausfluß seiner Tendenz, die objektive Seite des „automatischen Subjekts“ im Kapitalismus zu hypostasieren. Das (menschliche) Subjekt, zumal das Wert- und Warensubjekt (allerdings eben auch nicht nur in dieser Facette) ist ihm doch in letzter Instanz immer wieder fast ausschließlich eine Funktion des (wenn auch von den Subjekten einmal bewußtlos angestoßenen) objektiven – ökonomischen, kapitalistischen – Zusammenhangs mit der entsprechenden Eigendynamik.

Eine offenere Konzeption des Subjekts, wie sie bei Kurz besonders in dessen aufklärungs- und subjektkritischen Texten angeklungen war (wer es nicht kennt, möge sein sehr empfehlenswertes Buch „Blutige Vernunft“ zur Hand nehmen, um ein Beispiel zu nennen), wurde in jüngster Zeit wieder stillschweigend zurückgenommen und spielt bei Kurz gegenwärtig leider kaum noch eine Rolle. Man braucht ja gar nicht bis zu der sehr weit, ja zu weit gefaßten Subjektkonzeption zu gehen, wie sie bei Kurz einmal in der Überschrift eines Kapitels der „Antideutschen Ideologie“ mit „Das Subjekt ist der Wert“ anklang, womit man wieder in der entgegengesetzten Richtung über das Ziel hinausschießen würde. Die Existenz des modernen Subjekts als vollständig aus dem Wert abgeleitet anzusehen ist ein relevanter Punkt, wo ich der Wert-Abspaltungstheorie von Exit, wie sie sich mir heute darstellt, nicht folge.

Daß neben dem Antisemitismus Rassismus (bzw. verschiedene Rassismen), ebenso Antiziganismus oder auch Nationalismus, aber auf der anderen Seite ebenfalls Sexismus, zumal im Rahmen sich zuspitzender Krisenereignisse, ebenso „prädestinierte“ ideologische Reaktionen sind, droht bei Kurz in jüngster Zeit unterzugehen. Übrigens ist auch bei diesen Ideologien – also eben nicht nur im Falle des Antisemitismus bzw. des „unbewußten Judenhasses“ – selbstverständlich immer wieder die allbekannte (rhetorische) Figur anzutreffen, wonach die sich äußernde Person meint: „Ich bin selbstverständlich kein Rassist (etc.)“, um sogleich zum großen „Aber“ überzugehen. Inwieweit hier indirekt Unbewußtes sich ausspricht oder jemand sich oder anderen schlichtweg „etwas vormacht“, sei dahingestellt.

Schließlich würde sich im Grundsatz eine judenfeindliche von einer rassistischen Haltung auch in dem Punkt nicht unterscheiden, daß hier als verstärkender Faktor die Weitergabe eines solchen „Reflexes“ von einer Generation zur nächsten wirken kann; jedenfalls scheint mir hier die stärkere Betonung der Psyche und, damit einhergehend, die Unterscheidung eines unbewußten und eines bewußten (ideologischen) Anteils an Judenfeindlichkeit nicht wirklich weiterzuhelfen; auch schon deshalb nicht, weil die Grenzen zur Ideologie dann ja wieder vom Autor als fließende angesehen werden. Offensichtlich irrationales Verhalten in bezug auf einen psychischen, zumal unbewußten Anteil daran zu untersuchen wäre ein gesondertes Thema, das hier allerdings zur Erhellung möglicher Motivation von Ressentiments gegenüber Israel nichts Wesentliches beiträgt.

Die Schwierigkeit besteht darin, unterschiedliche ideologische Ausprägungen und Akzentuierungen hinsichtlich von Zeit, Ort und Kontext ihres Auftretens zu unterscheiden und nach den Gründen einer so und nicht anders sich verhaltenden und motivierten Manifestation zu suchen, ohne der Versuchung zu erliegen, daran automatisch eine Art Ranking hinsichtlich der Fatalität oder des Bedenklichkeitsgrades zu knüpfen. Grundsätzlich sei bei dieser Gelegenheit auch noch einmal hervorgehoben, daß es äußerst problematisch ist, alle ideologischen Äußerungen umstandslos gleichzusetzen und in letzter Konsequenz als Krisensymptome aufzufassen bzw. auf diese Funktion und Motivation einzuschränken.

Eine altbekannte Vereinfachung wäre es ebenfalls, Ideologie schlicht und ausschließlich aus der Ökonomie abzuleiten – im Grunde das Schema des Verhältnisses von Basis und Überbau – , so wie es ebenfalls eine platte Form von Einbahnstraße wäre, genau den umgekehrten Weg zu gehen und allem eine Art Überbau-Basis-Schema zugrundezulegen. Es ist anzunehmen, daß Kurz das grundsätzlich auch so sieht; in diesem Fall ist aber festzuhalten, daß es ihm in seiner ideologiekritischen Polemik gründlich mißlingt, solchen Problemen gerecht zu werden, woran allerdings die besagte (im Laufe des letzten Jahrzehnts von ihm auffällig häufig gewählte) Textsorte der Polemik naheliegenderweise einen erheblichen Anteil hat. Wo er in seinem Text dennoch versucht, das gesamte ideologische Umfeld, in diesem Falle also etwa nicht nur in den palästinensischen Gebieten und im arabisch-islamischen Raum, sondern auch in Israel differenzierter zu erfassen, nimmt sich die Analyse merkwürdig matt aus und wirkt wie nachträglich in den Text eingefügt, gewissermaßen wie darangeklebt und bisweilen in derselben Absicht vorgetragen wie sonst auch.

Dazu ein Beispiel: Die israelische Siedlerbewegung – Kurz spricht hier wie generell nicht von Siedlungspolitik, um die es sich aber längst schon ebenfalls handelt, und reduziert das Problem auf ultraorthodoxe Fanatiker „postmodernen“ Zuschnitts (richtiger ist, daß es sich in der Hauptsache um nationalreligiöse Siedler handelt) – könne ja wohl kaum kritisiert werden, wenn es um die Hisbollah im Libanon gehe, weil dort keine derartigen Siedlungen existierten und diese ausgerechnet in Gaza – à propos Hamas – ja gerade von der Sharon-Regierung aufgelöst worden seien (KmG 213). Auch wenn diese Feststellungen völlig richtig sind und die damit verbundene Kritik an über die Maßen empörten „Ausschließlich-Israel-Kritikern“ durchaus ins Schwarze trifft : Alles wird ihm so ausschließlich zur Chiffre der Sympathie mit dem Islamismus, wird im Spannungsfeld des konkreten Konflikts auf seine Funktion für das gegnerische Lager hin bewertet. Es kommt ihm gar nicht mehr in den Sinn, daß sowohl das eine als auch das andere, unabhängig von seinen konkreten Auswirkungen beim Gegenpart, in seiner Spezifik kritisch beurteilt werden kann; dabei, so Kurz, handle es sich nur um eine „dritte Position, die keine ist“ (KmG 209), da es nun allgemein gelte, eindeutig Partei zu ergreifen. Schließlich, da eben das Stichwort „darangeklebt“ gefallen ist: Ein ganz ähnlicher Eindruck ergibt sich auch bei der Lektüre seiner wenigen und knappen kritischen Äußerungen zu den „Antideutschen“.

An dieser Stelle noch ein Wort zu einer Randbemerkung des Autors, die etwas mehr bedeutet als nur ein zu vernachlässigendes Detail: Wenn er zu Beginn seines Kindermörder-Textes von einer notwendigen Verbindung von Analyse der konkreten Situation und Empathie gegenüber den Opfern von Kriegs- oder kriegsähnlichen Auseinandersetzungen spricht, fällt folgender Satz: „Über die ethisch-moralische Position kapitalistischer Eliten und Medien brauchen wir kein Wort zu verlieren.“ (KmG 188) Hier schnurrt die Perspektive gegenüber dem genannten Gesellschaftsausschnitt auf eine moralische Beurteilung zusammen, und zugleich fällt das Urteil implizit denkbar negativ aus. Doch eben darum sollte es aus verschiedenen Gründen gerade nicht gehen: Das Problem ist eben nicht, daß den mit Argumenten zu erreichenden, bei aller Ambivalenz des Autors von ihm als letztlich zumindest potenziell „moralisch gut“ unterstellten Linken besagte Medien und Eliten gegenüberstehen, die, so offenbar der gedankliche Hintergrund, sich sowieso jeglicher Empathie verweigern würden, da sie ihr Tun und Denken ausschließlich in den rein „pragmatischen“ und gewissermaßen technokratischen Dienst stellten, die weltweite Wertverwertung mit allen Mitteln am Laufen zu halten.

Hier blitzt ein im Ansatz manichäisches Bild auf, das eher an das überkommene Klassenkampfdenken gemahnt als an die Kritik des übergeordneten Wirkens des Wertfetischs und der Subjektkonstitution. Vertreter von Politik, Wirtschaft und Medien sind immer auch „Produzenten“ von Ideologie – und das nicht etwa nur mit dem Ziel, die Wähler- und Leserschaft zu beeinflussen, um dergestalt ihre Rolle als Büttel des subjektlosen „automatischen Subjekts“ sowie des Affirmierungs- und Perpetuierungsprozesses der Wertverwertung zu spielen und staatliche Ziele zu verfolgen. Darüber gäbe es also im Prinzip durchaus eine ganze Menge Worte zu verlieren. Das werde ich hier allerdings nicht vertiefen; nur soviel noch dazu: Auf einem anderen Blatt steht gewiß, daß zumal im Bereich der schließlich tatsächlich exekutierten Politik der genannte „pragmatische“ Faktor bei einem eventuell vorliegenden Konkurrenz- und Zielkonflikt von ideologischer Einstellung und vermeintlich zwangsläufig gebotener „Realpolitik“ letztere meist – wenn auch nicht immer – den Sieg davonträgt, was dann wiederum legitimatorisch „verkauft“ werden muß. So sind die entsprechenden Anteile im je konkreten Fall wesentlich schwerer zu bestimmen.

Wo Kurz grundsätzlich auf keinen Fall zu widersprechen ist: Es fällt ins Auge, daß antisemitische Äußerungsformen und Argumentationsmuster in den letzten Jahren wieder deutlich zugenommen haben; nicht nur in Europa, sondern jüngst auch zunehmend wieder in den USA, ebenso im Raum des Nahen und Mittleren Ostens und schließlich in Teilen Iberoamerikas. Allerdings wäre es in diesem Zusammenhang angebracht, von Antisemitismen im Plural zu sprechen. Insbesondere in Mittel- und Osteuropa wurde diese Ideologie schon bald nach dem Zusammenbruch des staatskapitalistischen Blocks erneut virulent. (Sie war aber schon vorher verschiedentlich akut geworden, vor allem bei den staatssozialistischen Eliten.) In Ungarn etwa sind in letzter Zeit Ausschreitungen gegenüber Juden fast schon an der Tagesordnung, neben den noch heftigeren antiziganistischen Attacken, die in Ungarn und vielen anderen Staaten der Region, aber auch in Italien zu verzeichnen sind. Doch das wird in der Öffentlichkeit – gerade auch in der deutschen, der linken, der kritischen – so gut wie gar nicht wahrgenommen. Stattdessen richten sich alle Blicke ausschließlich auf Israel.

Daß die Befassung mit der Frage wichtig ist, wie es um den Staat der Juden bzw. um dessen Wahrnehmung von außen bestellt ist, soll damit in keiner Weise bestritten werden; fast ließe sich sagen: im Gegenteil. Doch in diesem Fall ist eine Vielzahl von Faktoren im Spiel, die im Nahen Osten zusammenschießen und ein komplexes Gesamterscheinungsbild konstituieren. Von diesem wird aber häufig abstrahiert zugunsten einer erstaunlich manichäischen Sichtweise. Das gilt übrigens sowohl für Israel bedingungslos verteidigende als auch für es systematisch angreifende Positionen. Niemand sollte sich dabei etwas vormachen: Das ist nicht etwa eine Konstellation, die nur für die Linke oder insbesondere für die deutsche bzw. europäische Linke gilt, um die es Robert Kurz zu tun ist; in Wirklichkeit sind diese Positionen über ihre wie auch immer geartete Spezifik hinaus untergründig mit den gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Deutungen innerhalb des Mainstreams – zumal hinsichtlich ihres ideologischen Charakters – mal mehr, mal weniger verbunden.

5. Das deutsche Syndrom

Zugleich kann aber tatsächlich von einer spezifisch deutschen (und österreichischen) Situation gesprochen werden. Erste zögerliche Ansätze zu einem transnationalen Denken und – vor allem – Handeln, die Ende der 1990er Jahre zu beobachten waren, sind unglücklicherweise nicht nur dort längst wieder deutlich auf dem Rückzug. Für Deutschland heißt das, daß die einzelnen Subjekte wieder stärker auf ihre nationalen Voraussetzungen fixiert sind. Besonders deutlich wird das bei dem (anfänglichen) Treiben der „Antideutschen“, und nicht nur wegen ihres Namens, der im Laufe der Zeit eher Anlaß zu Mißverständnissen gab, da immer mehr nicht Deutschland Ziel ihrer Kritik war, sondern vielmehr der sogenannte „Islamfaschismus“, wahlweise auch „Ummasozialismus“ genannt, der sehr weitgehend mit dem deutschen Nationalsozialismus gleichgesetzt wurde und wird und den man in den islamisch mitgeprägten Regionen in der ganzen Breite am Werke sieht.

Im Hintergrund ist hier aber deutlich eine moralische und, damit verbunden, eine politizistische Grundhaltung erkennbar, die die „deutsche Schuld“ oder „Verantwortung“ zum Ausgangspunkt nimmt, um den Westen als Bollwerk gegen solchen „Faschismus“ mittels politischer Interventionen zum politisch-militärischen „Widerstand“ gegen diesen zu bringen; zweifelsohne ein sehr deutsches Syndrom. Das ist eben das in den letzten Jahren wieder so mächtig angeschwollene Prinzip, von den verschiedensten Seiten geltend gemacht: "Am deutschen Wesen wird die Welt genesen!" Joschka Fischer war im Grunde ein Vorreiter dieser Entwicklung, entsprechend Nägel mit Köpfen zu machen, als er vor gut 10 Jahren verkündete, die deutsche Verantwortung für Auschwitz gebiete es, daß Deutschland an dem Krieg gegen Jugoslawien teilnimmt.

Damit gewinnt der Holocaust als Gipfel des Vernichtungs-Antisemitismus eine zum Teil recht verquere nationalidentitäre Qualität, wo mal implizit, mal explizit in hochmoralischer (genauer: nationalethischer) Weise von Dingen die Rede ist wie Schuld und Verantwortung für die und vor der deutschen Geschichte, woraus dann Denkmuster und Handlungsanweisungen – im Sinne von ethischen und politizistisch ausgerichteten Beurteilungsmaßstäben der Realität und sehr handfesten politischen Interventionen – abgeleitet werden. Eine bezeichnende Episode, um das deutschmoralische Syndrom zu illustrieren, stellt das Gespräch verschiedener deutscher Linker mit dem israelischen Historiker Moshe Zuckermann dar, veröffentlicht unter dem Titel „Zweierlei Israel?“. Trotz des ernsten Hintergrunds entbehrt es nicht einer gewissen Komik zu verfolgen, wie über weite Passagen der Debatte sehr „verantwortungsvolle“ Deutsche einen gegenüber seinem Staat kritisch eingestellten Israeli in diesem kritischen Impetus zu bremsen versuchen.

Robert Kurz greift (KmG 216) auch den in den letzten Jahren vielzitierten Satz Adornos auf, der – in der „Negativen Dialektik“ – geschrieben hatte: Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe.” (S. 358) Hier nähert sich Kurz, so wie er das Thema behandelt, dem sogenannten „zionistischen kategorialen Imperativ“ des „Antideutschen“ Stephan Grigat an, der in „Die befreite Gesellschaft und Israel“ gewissermaßen in aktualisierter Form „Adornos Diktum“ (Kurz) so interpretierte: „Der zionistische kategorische Imperativ lautete dann, vom materialistischen Verständnis aus betrachtet, in etwa: Solange es Menschen gibt, die sich zwar dem Marxschen Imperativ [„alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, RPE] verpflichtet fühlen, mit ihrem Anliegen aber keineswegs erfolgreich sind, versuchen wir dem Adornoschen Imperativ dadurch gerecht zu werden, daß wir mittels Gewalt die körperliche Unversehrtheit von Juden und Jüdinnen gewährleisten.“ Hinzuzufügen wäre allerdings erneut: in Israel; Erscheinungsformen und Konsequenzen des Antisemitismus außerhalb dieses Staates bzw. der Region und des entsprechenden Argumentationszusammenhangs werden dagegen so gut wie nicht zur Kenntnis genommen.

Grigat will also zu diesem Zwecke Gewalt ausüben bzw. sie an andere delegieren, seien es nun die USA oder Israel. Und Kurz erfüllt diese Prämisse ja auf seine Weise zumindest hinsichtlich Israels ebenfalls, wenn er in KgJ in der bereits zitierten Passage schreibt, „dass die Vernichtung von Hamas und Hisbollah eine elementare Bedingung nicht nur für einen prekären kapitalistischen Frieden in Palästina ist, sondern auch für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse.“ Hier ist sie wieder, die Formel vom „gerechten Krieg“, da ja nur im Dienste der hehrsten Ziele befürwortet; das Wort „bellizistisch“ setzt Kurz, ganz im Gegensatz zu früher, nun auch betont in Anführungszeichen. Zu der Frage, wie es kommt, daß sich dieses Mal der Antisemitismus so eindeutig auf Israel und vergleichsweise weniger auf Juden schlechthin stürzt, ist bei ihm eigentlich nicht viel mehr zu lesen, als daß dem wohl so ist: „[D]ie Vernichtungsabsicht konzentriert sich weniger auf die jüdischen Populationen in der Welt schlechthin, sondern wesentlich auf den Staat Israel. Der eliminatorische Gesichtspunkt [sic!] des neuen Antisemitismus hat sich auf diese staatliche Existenz verschoben.“ (KmG 236f.)

Wer nun aber auf eine Erklärung nicht nur des (unvermittelt und begründungslos unterstellten) eliminatorischen Charakters, sondern auch des sonderbaren Umstands wartet, der neue Antisemitismus richte sich nun (ausschließlich) gegen Israel, wartet vergebens. Allenfalls ist davon die Rede, in Zeiten prekärer bzw. gefährdeter Staatlichkeit sei nun eben Israel gleichsam „als Jude der Staaten“ das konkrete Ziel von Vernichtungsphantasien; das ist aber, zumal in seiner ideologiekritiklastigen Form – es scheint ihm nun nur noch um Ideologien als „Beweger“ zu gehen, was er früher zurecht den „Antideutschen“ vorgeworfen hatte – nirgends näher ausgeführt und theoretisch eingeordnet, sondern wird im Grunde nur noch mit der Krisentheorie kurzgeschlossen.

In einer Passage, die ich hier etwas detaillierter kommentieren möchte, schreibt Kurz: „Dass sich Auschwitz nicht mechanisch wiederholt, heißt ja noch lange nicht (!), dass das Denken, das dahin geführt hat, nicht auch anderswo auf anderer Grundlage und in einer anderen kulturell-ideologischen Konfiguration ausgebrütet werden könnte, gerade weil es sich nicht auf Deutschland und Mitteleuropa eingrenzen lässt.“ (KmG 216f.) Nein, so herum argumentiert ist freilich streng logisch nichts dagegen vorzubringen, daß Auschwitz auch jenseits des soziokulturellen Kontexts Deutschlands und Mitteleuropas vor siebzig Jahren heute nicht ganz woanders noch einmal entstehen kann; aber was spricht denn nun dafür, daß so ein vergleichbarer historischer Moment im Nahen und Mittleren Osten demnächst bzw. unmittelbar bevorsteht? Kurz fährt dann fort: „Es gilt also, die Auseinandersetzung mit dem spezifisch deutschen Weiterwirken dieses Syndroms mit der Kritik und Analyse seines Auftauchens in anderen Kontexten zu verbinden.“ (KmG 217) Mit „Syndrom“ ist hier offensichtlich das Denken gemeint, das einmal zur systematischen, bürokratisch-industriell herbeigeführten Vernichtung europäischer Juden geführt hat.

Den von Kurz in dem obigen Zitat benutzten Potentialis „ausgebrütet werden könnte“ hätte man in der Folge nun doch gern etwas näher erläutert bekommen, etwa in Form von entsprechenden Indizien, die diese Hypothese hinsichtlich einer handfesten Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit der Wiederholung von Auschwitz im Nahen Osten entsprechend erhärten. Doch da kommt bei Kurz nichts. Dafür müßte er sich schon ganz auf die „antideutsche“ Argumentation einlassen, die dieselben (islamfaschistischen) Volksgemeinschaftskriterien eines „Umma-Sozialismus“ wie beim deutschen Nationalsozialismus am Werke sieht, und sich argumentativ auf diese „Begründung“ stützen, weshalb bedingungslose Israelsolidarität gefordert sei.

Aber so weit will Kurz dann doch nicht gehen, weist vielmehr diese Argumentation zurück, da sie „großen Schaden verursacht“ habe; Schaden also für seine eigene Argumentation, Auschwitz „könnte“ sich in der Konstellation Iran / Hisbollah / Hamas versus Israel wiederholen. Besagte „Schaden verursachende“ Argumentation gehört für ihn zu den doch allzu „plumpen Gleichsetzungen“. Das mache es nur diversen Leuten bzw. Linken einfach, nun eine „Unschuldsvermutung“ gegenüber den drei genannten Kontrahenten Israels auszusprechen. In der Tat, solche Leute gibt es, und nicht wenige, innerhalb der diffusen sogenannten antiimperialistischen und antizionistischen Strömungen im Westen, auf die sich Kurz durchaus zurecht kritisch bezieht; und genau diese Ambivalenz und Duldsamkeit gegenüber antisemitischen Manifestationen sind nun allerdings in der Tat ein Skandal für sich, der hinter dem der entsprechenden Äußerungen nur wenig zurückbleibt. Doch drängt sich in dem genannten Kontext der Eindruck auf, Kurz meine mit „Unschuldsvermutung“ nicht das systematische Herunterspielen oder gar gänzliche Leugnen antisemitischer Ideologie bei Hamas, sondern die Verneinung des Umstandes, Hamas (und Hisbollah und der Iran) bereite ein Auschwitz unter anderen Vorzeichen vor.

Es ist eine undankbare Aufgabe, in diesem Kontext Einwände gegen eine Position wie die von Kurz zu formulieren; schnell steht man als jemand da, der die todessüchtige, in jeder Hinsicht antiemanzipatorische Haltung von Hamas und anderen bzw. von deren Gefolgsleuten und Sympathisanten verharmlost. Dennoch die Frage: Hat Kurz denn nun irgendetwas damit gewonnen, daß er der von ihm kritisierten „Unschuldsvermutung“ nun eine „Schuldvermutung“ im Maßstab von Auschwitz entgegensetzt, da es ja immerhin „sein könnte“, daß das zu Auschwitz führende Denken unabhängig von kontextuellen Modifikationen gerade wieder „ausgebrütet“ werde (mit dem gleichen Resultat wie vor 65 Jahren)?

Der Autor erwähnt zum Zwecke der Stützung dieser Hypothese, der iranische Präsident Mahmud Ahmadinejad habe schließlich die aktuelle Weltwirtschaftskrise als eine finanzkapitalistische Verschwörung interpretiert (KmG 217). Es ist anzunehmen, daß sich Kurz auf eine (in der Presse unterschiedlich redigierte) AFP-Meldung bezieht, derzufolge für Ahmadinejad die „zusammenbrechenden Bankensysteme bewiesen, dass nun ‚Tyrannen und Korrupte gehen und durch die Frommen und Gläubigen ersetzt werden müssen‘. Die ‚Vorherrschaft der internationalen Diebe‘ sei nun vorbei. Die Ursache für ihre Niederlage sei die Abkehr von ‚Gottesglauben und Frömmigkeit‘.Wenn Gott es so wolle, werde nun eine ‚weltweite Regierung der Gerechtigkeit‘ eingesetzt – mit dem iranischen Volk an der Spitze.“ In der Tat: Es ist bei dieser kruden, nationalreligiös ausgerichteten „Erklärungs“-Phantasterei für die Finanzkrise – mit Allmachtsphantasien bezüglich der zukünftigen globalen Rolle Irans garniert – einmal mehr eine Fixierung auf das Finanzkapital zu erkennen; Diebe, zumal „internationale“, sind vermutlich Ahmadinejad zufolge diejenigen, die ihre Gewinne nicht aus schweißtreibender Arbeit oder doch der Bedienung auch der Gebrauchswertkomponente einer handfesten produzierten Ware ziehen.

Was macht aber aus diesen Indizien für, um mit Kurz zu sprechen, „strukturellen Antisemitismus“ nun prompt an dieser Stelle einen realen? Einige Seiten später (KmG 234) nimmt Kurz nämlich auf diese halluzinatorische Ansprache Ahmadinejads im iranischen Fernsehen erneut Bezug und nennt sie nun umstandslos eine „hemmungslos antisemitische Deutung der großen Finanzkrise“. Warum geht ihm da dermaßen der Gaul durch, wo er sich doch passagenweise immerhin um eine differenzierte Sichtweise von Antisemitismen, von deren Kontext, Herkunft, Bedeutung und Intention bemüht? Weiter: Wieso ist so eine Äußerung darüber hinaus deutliches Anzeichen für eliminatorischen Antisemitismus? Und weshalb tobt sich solch ein aus der verkürzten Sicht auf das Finanzkapital (und vor allem das „internationale“!) entstandener Antisemitismus nun an einem Nationalstaat wie Israel aus und geht nicht, und sei es auch nur in einem ersten Schritt, direkt gegen die jüdische Minderheit im Iran vor? Fragen über Fragen, auf die der gesamte Aufsatz nirgends eine schlüssige Antwort gibt.

Was Kurz weder an dieser noch an anderer Stelle auch nur erwägt, ist die Möglichkeit, daß antisemitische Ideologie auch skrupellos für die eigenen Interessen eingespannt werden kann und wird; man nehme dazu auch den Uralt-Dauerbrenner der schon erwähnten „Protokolle der Weisen von Zion“. Im arabisch-islamischen Raum zirkuliert übrigens auch seit langem schon ein etwas jüngeres Buch, nämlich Adolf Hitlers „Mein Kampf“. Läßt sich daraufhin also von einer dort vorhandenen starken Strömung von Nationalsozialisten westlichen Typs sprechen? Kann man gar davon ausgehen, daß hier mehr und mehr ein dem NS verwandter „Antisemitismus der Vernunft“ ausgebrütet wird, wie Hitler das für seine systematische Alternative zu den früheren, in emotionalen Schüben auftretenden Judenpogromen in Europa formulierte?

Worauf ich mit meinen Fragen hinaus will: Erst wenn man sich die Mühe machen würde, sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede von Antisemitismen konsequent zu analysieren, würde die Diskussion spannend werden und weiterführen. Roswitha Scholz war vor einigen Jahren schon einmal näher an der Crux dran, als sie in ihrem Aufsatz „Identitätslogik und Kapitalismuskritik“ schrieb: „Eine nicht-identitätslogische Analyse kann nicht umhin, festzustellen, daß der Antisemitismus in den arabischen bzw. islamischen Ländern einen anderen Charakter als im Westen und insbesondere auch in Deutschland hat. Die Selbstmordanschläge in Israel wie in den USA stehen im Unterschied zur planmäßigen, selektiven und massenhaften Vernichtung der Juden durch den NS ‚nur‘ in einer kriegsmetzlerischen Tradition, wie sie die konventionellen Kriege ganz allgemein auszeichnen [...].“

Eine kurze Anmerkung, da ich die jüdischen Iraner erwähnt habe: Trotz der erheblichen Spannungen, die – mit der Unterbrechung des Iran-Iraq-Kriegs – zwischen diesem „Gottesstaat“ und Israel bestehen, leben weiterhin etwa 25.000 Juden dort; zu Beginn der „islamischen Revolution“ waren es 100.000 gewesen. Viele sind emigiriert, ob nun in die USA, nach Israel oder anderswohin. Aufgrund der islamischen Interpretation wird den Gebliebenen als Vertretern einer Buchreligion der Status von „Dhimmis“, Schutzbefohlenen, zugewiesen. Sie müssen also keineswegs um ihr Leben fürchten und sind auf jeden Fall erheblich weniger gefährdet als etwa die Baha‘i. Das Problem war und ist dennoch für die Juden, daß sie nach dem Sturz des israelfeundlichen Schah sowohl mit diesem als auch und vor allem mit dem Staat Israel identifiziert wurden. Für den iranischen Gottesstaat sind im Endeffekt über die „Säulen des Islam“ hinaus vor allem die „Säulen des Staates“ von Relevanz, nach innen wie nach außen.

Das ist überhaupt der Knackpunkt für einen Großteil der ideologischen Dispositionen vor dem Hintergrund der Gesamtsituation in dem gesamten geographischen Raum: Die Juden werden viel mehr mit Israel identifiziert, als der Staat Israel mit den Juden. Das heißt aber deshalb nicht, daß die gegen Israel in Stellung gebrachte antisemitische Verschwörungstheorie des „internationalen Judentums“ nicht auch teilweise in ihrem wahnhaften Charakter auf fruchtbaren Boden treffen würde; doch sind die an realen Staaten (wie Israel) festzumachenden Interessen und ideologischen Interpretationen hier gegenüber einem „Finanzkapital-Antisemitismus“ vorrangig, und eine „Rasse Jude“, also auf einer Rassentheorie aufsetzender Antisemitismus kam und kommt meinen Kenntnissen nach dort überhaupt nicht vor.

Das hindert wiederum das iranische Regime überhaupt nicht daran, mit neonazistischen Kreisen aus dem Westen und zugleich mit der ultraorthodoxen und strikt antizionistisch orientierten jüdischen Gruppe Neturei Karta gemeinsame Sache zu machen, wenn es darum geht, eine Konferenz zu veranstalten, um zu „erörtern“, ob es so einen vermeintlichen Mythos wie den Holocaust überhaupt wirklich gegeben haben könne. So kommt es aus den verschiedensten Gründen und mit den unterschiedlichsten (ideologischen) Voraussetzungen und Intentionen zu einer denkbar heterogenen Allianz von Holocaust-Leugnern oder -Relativierern.

An dieser Stelle ist eine interessante Episode recht erhellend: Vor gut einem Jahr war einem Mahmud Ahmadinejad trotz der erheblichen internen Schwierigkeiten und Konfrontationen, der Unruhen und Proteste nach der Wahl usw. persönliche Loyalität zu einem alten Freund wichtig genug, um gegen erhebliche Widerstände lange auf der Nominierung von Esfandiar Rahim Mashaei als Erster Vizepräsident zu bestehen, einer Person, die häufiger durch ausgesprochen israelfreundliche Äußerungen aufgefallen war; Chamenei beispielsweise lehnte diese Personalentscheidung entschieden ab. Der Mann wurde schließlich Stabschef und persönlicher Berater Ahmadinejads. Die Kommentierung dieses Sachverhalts durch den „Stop-the-bomb“-Aktivisten und Journalisten Thomas von der Osten-Sacken auf der Website „Free Iran Now!“ war damals von erheblicher Ratlosigkeit und Verunsicherung geprägt.

Auch das Theorem des eben erwähnten „strukturellen Antisemitismus“, das Kurz ja im Sinne eines real gegebenen subjektiven Antisemitismus auf Ahmadinejad anwendet, möchte ich hier noch einmal kurz aufgreifen. Der Autor hatte ja in der Auseinandersetzung mit den Gesellianern anhand des Namensgebers selbst seine entsprechende Sichtweise folgendermaßen dargelegt: „Keineswegs geht es darum, etwa Silvio Gesell gegen jede historische Wahrheit zum Hitler-Anhänger und Nationalsozialisten zu stempeln oder jeden Gesellianer bzw. Neo-Gesellianer zum subjektiven Antisemiten. Das Problem liegt auf einer anderen Ebene. ‚Politische Ökonomie des Antisemitismus’ meint, dass es einen strukturellen und historischen Zusammenhang zwischen der verkürzten Kritik des zinstragenden Kapitals und dem Antisemitismus gibt. Ideologisch handelt es sich um die beiden Seiten derselben Medaille, wobei der offene Antisemitismus sozusagen die ‚Kopfseite’ bildet.“ Gesell war also subjektiv kein Antisemit, objektiv – oder eben „strukturell“ – dagegen eigentlich schon. Das ist eine äußerst problematische, im Rahmen der Wertkritik zu einer objektivistischen Sicht tendierende Argumentation, auf die ich hier allerdings nicht näher eingehen kann. Franz Naetar hat das Thema in seinem Aufsatz „Welche politische Bedeutung hat der Antisemitismus heute?“ vor geraumer Zeit bereits kritisch aufgegriffen, und im Kern stimme ich ihm in diesem Punkt zu.

Über die bereits dargelegte These hinaus, daß es Kurz vor allem um eine „pragmatische“ Parteinahme für den Westen geht, womit noch am ehesten Garantien für eine emanzipatorische Perspektive jenseits des absurden islam(ism)ophilen „Antiimperialismus“ gewährleistet wäre: Das Problem liegt offensichtlich auch in einem ins Nationale weiterhin (oder erneut) eingebannten kritischen Denken, wo Deutschland bzw. die Deutschen und ihre „moralische Verantwortung“ erneut in den Vordergrund geraten. Dazu gehört auch der Umstand, daß Kurz (in KgJ), in augenfälliger Analogie zur bekanntlich häufig so bezeichneten „Vernichtung der Juden“ im deutschen NS, gleichsam reflexhaft auf die „Vernichtung der Hamas (und der Hisbollah)“ drängt; Ausdruck projektiver Verarbeitung mit Schuldgefühlen besetzter Befangenheit im nationalen Denken, das nun negativ gewendet ist.

Mit solchen kritischen Überlegungen konfrontiert, tritt Kurz ein gutes halbes Jahr später wütend die Flucht nach vorn an: „Die scheinbar feinfühlige Empfindlichkeit und Hellhörigkeit wird hier zur Dumpfheit und Finsternis des Bewusstseins selbst; zum bloßen Mittel, um das roheste Urteil in der Sache als Ausdruck von Kultiviertheit erscheinen zu lassen. Krasser und verräterischer könnten die Asymmetrie der Konflikt-Interpretation und die gefühlsmäßige Parteinahme für das antisemitische Regime in Gaza nicht zum Ausdruck kommen.“ (KmG 220f.) Mit anderen Worten: Wer Kurz‘ ebenso überraschende wie drastische Wortwahl von damals problematisiert, interpretiert in dessen Augen damit also vermeintlich bereits den Konflikt zwischen Israel und Hamas und zeigt zwangsläufig, Parteigänger letzterer zu sein. Ohne möglicherweise weitere existierende Wortmeldungen zur Verwendung des in der deutschen Geschichte so emotional aufgeladenen Wortes und deren gegebenfalls andere Stoßrichtung zu kennen: Meine eigene diesbezügliche Stellungnahme dagegen kenne ich natürlich sehr gut, und in diesem Zusammenhang handelt es sich bei Kurz‘ Reaktion nun wirklich um Polemik der plattesten Art, nach der Devise: Haltet den Dieb! Bezeichnenderweise wird allerdings im weiteren Verlauf des „Kindermörder“-Textes von Kurz das Wort „Vernichtung“ stillschweigend durch „Ausschaltung“ ersetzt.

Derartiges Verhaftetsein im nationaldeutschen Zusammenhang ist, geht es um Israel, immer wieder zu beobachten. Aufgabe wäre es nun aber im Kontext kritischer Theorie, sich nicht auf die nationale Nabelschau zu beschränken und über den Tellerrand der entsprechenden eigenen (Zwangs-)Identität und Geschichte so gut wie möglich hinauszublicken, ohne darüber den Umstand aus den Augen zu verlieren, daß solch ein nationaler Kontext in sehr vielen Köpfen – im Zweifelsfalle auch im je eigenen – in der einen oder anderen Weise in der Tat ideologisch weiterwirkt, vor dem Hintergrund der sich verschärfenden sozialen Krise des Kapitalismus gar in verstärkter Form. Das müßte die Kritik an jeglicher Äußerung nationaler Ideologie zur Folge haben, allerdings bei gleichzeitiger Kontextualisierung derselben. Im Zusammenhang mit dem hier behandelten Thema ginge es also – unabhängig von der sehr notwendigen Kritik an den verschiedenartigen islamistischen Manifestationen – um die Kritik der Ideologeme, wie sie bei den „Antideutschen“ einerseits und bei den Antiimperialisten und Antizionisten andererseits zutagetreten; und auch die Kritik am historischen Zionismus und an dessen Auswirkungen bis heute sollte nicht als inopportun zur Seite geschoben werden.

Ist die „antideutsche“ Form der Identitätssuche ihrem Ursprung nach weitgehend eine „national konditionierte“ Form von negativ gewendeter Schuldabwehr, das heißt Schuldabwendung durch „antideutsches“ Handeln und „leihnationale“ Identifikation mit dem Staat Israel, die in einer bemerkenswerten Parallelität zur seit langem schon existierenden Grundausrichtung des deutschen Springer-Verlags mit einem markant überkandidelten Philosemitismus und darüber hinaus mit einem hoffnungslos inflationierten Antisemitismusvorwurf einhergeht, so gibt es klare Anzeichen für eine eher klassische Form von Schuldabwehr bei den antizionistischen und (im herkömmlichen Sinne) antiimperialistischen Linken mittels Projektion auf Israel, was die entsprechend heftigen Attacken immer wieder in antisemitisches Fahrwasser abdriften läßt.

Allerdings läßt sich das in letzterem Falle nicht auf diese Komponente reduzieren, da ja auch weit über Deutschland und Österreich hinaus diese Form von Antiisraelismus – und Antisemitismus – anzutreffen ist (wobei ersterer allerdings eben nicht mit Kritik an Israel schlechthin gleichzusetzen ist). Diese Haltung ist häufig gekoppelt an eine Abgrenzung von antisemitischer Ideologie in Form eines reinen Lippenbekenntnisses, die das Thema überhaupt so klein wie möglich schreiben will und eher meidet. (In Spanien etwa, wo ich seit langer Zeit lebe, gibt es dafür eine Unmenge von Beispielen; erheblich mehr, als ich etwa in Deutschland entdecken konnte. In der Tat sehe ich mich schnell der mitleidigen Einschätzung ausgesetzt, meine Argumentation sei eben typisch für Deutsche und deren Schuldbewußtsein; so herum geht es eben auch, die Debatte kurzerhand mit einem selbstbequemen Scheinargument für beendet zu erklären, das nur die „national konditionierte“ Denke solch einer Äußerung unterstreicht.) Damit ergibt sich das – von diesen Kreisen einfach ausgeblendete – Problem einer Grauzone zwischen sogenannter Israelkritik bzw. Antizionismus und Antisemitismus, und die Übergänge zeigen sich als fließende.

Der Lackmustest, vor dem sich die meisten solcher antizionistisch fixierten Eiferer drücken, ist die Frage, ob Israel grundsätzlich gegenwärtig ein Recht darauf hat, als Staat zu existieren. Ja sein Existenzrecht wird vor dem Hintergrund seiner besonderen Bedingungen immer wieder relativiert, angezweifelt oder auch schlicht negiert; etwas, das solchen Leuten, selbst wenn sie sich als antinational begreifen, ginge es beispielsweise um die USA oder Deutschland, den Iraq oder Sudan, um Südkorea oder die Türkei, nicht im Traum einfallen würde. Insofern liegt manches an der von Kurz vorgetragenen Kritik – auch hinsichtlich der Deutung – ganz richtig, auch wenn diese dann unilinear ausfällt und ein manichäisches Grundmuster aufweist. Aber auch seine heftigen Invektiven gegen die „Antideutschen“ waren ja bei aller Berechtigung der Kritik alles andere als frei von pauschalierenden Rundumschlägen gewesen; der apodiktische Gestus ist schon seit vielen Jahren eine Charakteristik seiner Feder, was ihn von anderen Autoren und Autorinnen bei „Exit!“ unterscheidet.

Festzuhalten ist: Es ist und bleibt wichtig, auf dem Doppelcharakter des Staates Israel zu bestehen. Es handelt sich um ein Land, das gewiß zunächst einmal einfach ein bürgerlich-kapitalistischer Staat ist – und das schließt, den Antisemitismus als Ausgangspunkt dafür ausnehmend, potenziell all die blutigen Gewalttaten mit ein, zu denen solche Staaten grundsätzlich fähig sind – , aber zugleich eben nicht nur einer unter vielen; vielmehr ist er außerdem im Endeffekt das Resultat bürgerlich-kapitalistischen Handelns aufgrund des Antisemitismus als eines charakteristischen Strangs moderner Ideologie, die im fast gelungenen Versuch der vollständigen Vernichtung europäischer Juden bzw. von zu solchen Erklärten ihren ungeheuerlichen und barbarischsten Kulminationspunkt fand. Somit und seitdem ist der israelische Staat immer auch ein notwendiger realer und potenzieller Zufluchtsort für nun dort bzw. auch für anderswo lebende Juden.

Die Frage ist allerdings, welche Schlußfolgerungen daraus hinsichtlich des aktuellen Zeitgeschehens zu ziehen sind. Muß daraufhin die Benennung aller die Entwicklung dieses Staates betreffenden kritischen Punkte zurückgestellt werden, weil das Existenzrecht Israels auf dem Spiel steht, das heißt akut und unmittelbar gefährdet ist? Das ist, wie bereits dargestellt, ganz offensichtlich der Ausgangspunkt der beiden hier kritisch kommentierten Texte von Robert Kurz.

Zwei Prämissen sind hier wirksam: Zum einen wird Antisemitismus immer von seinem möglichen eliminatorischen Charakter und insofern von seinem barbarischsten Ausgang her gedacht, wie ich schon beispielhaft dargestellt habe, indem ich einige entsprechende Passagen in Kurz‘ Text KmG zitiert habe; das ist zunächst ein bis zu einem gewissen Grad naheliegender Standpunkt zumindest insofern, als die industrielle Massenvernichtung europäischer Juden in der jüngeren Geschichte ja tatsächlich umgesetzt worden ist. Damit ist aber die Gefahr gegeben, spezifische antisemitische Manifestationen in der Gegenwart einerseits zu dekontextualisieren und umstandslos über einen Leisten zu schlagen; zudem liegt es nun nahe, den Hergang und erwarteten weiteren Verlauf sogleich mit dem Fluchtpunkt eines ganz ähnlichen Vernichtungspotenzials zu denken, das sich bald – und zwar nun gegenüber den israelischen Juden und ausschließlich ihnen gegenüber – Bahn brechen werde. Die Anfälligkeit für solch eine Beurteilung liegt bei den beiden hier diskutierten Texten von Robert Kurz auf der Hand, unterstützt und beeinflußt von den weiterhin sehr präsenten „antideutschen“ (oder, wie es nun verschiedentlich heißt: „postantideutschen“) Positionen.

Aus dieser Voraussetzung resultiert die zweite Prämisse: Solch ein intendierter Vernichtungs-Antisemitismus liegt vermeintlich auch vor, wenn im geographischen Umfeld von Israel im islamisch mitgeprägten Raum dieser Staat angegriffen, genauer: gleichsam in seiner Teileigenschaft als „Jude der Staaten“ attackiert werde und diesem Unterfangen in wachsendem Maße von Teilen der Weltöffentlichkeit und insbesondere auch von der westlichen Gesellschaft Beifall und bisweilen mit tatkräftiger Unterstützung gekoppelter Zuspruch gezollt werde.

Stehen wir also unmittelbar vor einer Katastrophe, die der Barbarei von Auschwitz gleichkommen könnte, oder ist das gar nicht nötig, weil es ja vermeintlich zuallererst „die körperliche Unversehrheit von Juden und Jüdinnen“ schlechthin zu gewährleisten gilt, jedenfalls von den in Israel lebenden, wie es der „zionistische kategoriale Imperativ“ in vager Anlehnung an Adorno verlangt? Und wo schon Adorno als Autorität so gerne zitiert wird, sei eine Frage in den Raum gestellt: War dessen Äußerung, nichts Ähnliches wie Auschwitz dürfe sich wiederholen, damit wirklich unmittelbar an die Juden gebunden und auf sie beschränkt? Einige Passagen in dem (von ihm zusammen mit Max Horkheimer und Leo Löwenthal verfaßten) Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ in der „Dialektik der Aufklärung“ legen nahe, daß das nicht der Fall war. Doch ich will mich hier nicht als Adorno-Exeget betätigen.

Die Gegenthese, die ich gegenüber den impliziten Voraussetzungen für Kurz‘ Argumentation vertrete, ist folgende: Das Existenzrecht Israels bzw. dessen Existenz schlechthin steht gegenwärtig real nicht zur Disposition, der Staat schwebt derzeit keineswegs in existentieller Gefahr (und wurde bzw. wird derzeit auch nicht vom Westen fallengelassen); die Frage wäre allenfalls, inwieweit ein Thema, das Kurz in seinen Texten nicht bzw. nur am Rande angeschnitten hat und das am ehesten dafür geeignet wäre, sich um den Weiterbestand Israels zu sorgen, nämlich das iranische Atomprogramm, hier zwangsläufig zum gegenteiligen Schluß führt. Seitens „antideutscher“ Kreise und über sie hinaus wurde ja in Deutschland und Österreich eine groß angelegte Kampagne namens „Stop the bomb“ durchgeführt, bei der das Argument eine entscheidende Rolle spielt, die schiere Existenz Israels sei bedroht, wenn den vom Iran mal geleugneten, dann aber doch wieder versteckt angedeuteten Bestrebungen, in Zukunft über eine Atombombe zu verfügen, nicht rechtzeitig Einhalt geboten werde. Und welche Drohkulisse der Iran gegenüber Israel in immer neuen Varianten aufbaut, ist ja allgemein bekannt, was die geäußerten Befürchtungen zu untermauern scheint.

Auch zu Beginn des islamistischen Regimes vor gut dreißig Jahren war ja bereits propagiert worden, man wolle den Staat Israel vernichten, um so Jerusalem „zu befreien“ – seither wird alljährlich der „Al-Quds-Tag“ gefeiert – , wozu dann der Krieg gegen den gottlosen iraqischen Nachbarn gewissermaßen ein erster Schritt sei. Damals gab es allerdings auf solche Äußerungen hin vergleichsweise wenig Proteste. Kurzfristig wurde wegen der Waffenlieferungen Israels an den Iran und gegen den Iraq die Anti-Israel-Stimmung dann dort wieder erheblich gedrosselt. Diese klare Unterstützung des islamistischen Staates seitens Israels zeigt nebenbei, daß auch damals dessen Interessen mit denen der USA nicht synchron liefen. Die BRD versorgte bei jener Gelegenheit übrigens ausschließlich den Iraq mit Waffen. Schon lange ist sie ein äußerst gewichtiger Handelspartner des Iran. Um auf das Drohpotenzial zurückzukommen: Ich habe bereits dargelegt, daß so oder so letztlich der Iran über die Bombe nicht verfügen wird; und das nun aber keineswegs, weil eine „Stop-the-bomb“-Kampagne der westlichen Politik ihren Willen aufzwingen müßte und damit auch erfolgreich ist.

6. Unterschiedliche Subjektkonstitutionen und Ungleichzeitigkeiten

Die Weltwirtschaftskrise und der schon vorher weit vorangeschrittene – wohlgemerkt unfreiwillige – Abkopplungsprozeß ganzer Weltregionen vom globalen Markt werden trotz ihrer unbestrittenen Relevanz hinsichtlich der (zumal ideologischen) Auswirkungen hier nicht im Zentrum stehen. So eine Sichtweise entspräche im Sinne einer Ausschließlichkeit der Deutung einem objektivistisch eingefärbten „Nicht mehr“ bzw. einem „Nicht mehr möglich“. Nun ist das zwar auch nicht einfach falsch, würde aber ausnahmslos alle ideologischen oder quasiideologischen Phänomene nur als Ausdruck von Krisenideologien auffassen.

Demgegenüber möchte ich auf traditionale und insofern auch bedingt vormoderne Momente verweisen, die einerseits abgeschwächt in alter Form weiterwirken – was also eher einem „Nicht“ bzw. „Noch nicht“ entspräche – und andererseits unter der globalen Glocke des kapitalistischen Weltsystems und der unterschiedlichen, in unterschiedlichem Grad ausgeprägten, zumindest aber damit einigermaßen kompatiblen Konstitution der Subjekte eine ganz neue Qualität annehmen, die sich nicht allein auf islamistische Manifestationen der Barbarei unter dem Eindruck der Krisenhaftigkeit bzw. als Resultat der Krise zurückführen lassen und als „kulturalistische Krisenideologie“ (Kurz) zwar nicht ganz unzutreffend, aber eben auch nicht hinreichend beschrieben werden können.

Auch außerhalb der westlichen kapitalistischen Kernregionen ist das Agieren innerhalb des globalen Wertverwertungszusammenhangs nicht etwa nur ein objektiver Imperativ, sondern dort ebenfalls in die Köpfe und das Selbstverständnis der Individuen eingedrungen. Insofern ist es durchaus möglich und angebracht, auch für die kapitalistische Peripherie bis zu einem gewissen Grad von Wertvergesellschaftung zu sprechen. Auch bei diesen Individuen handelt es sich also um Wertsubjekte; die Fetischisierung des Wertes drückt sich in einer immer wieder neu hervorgebrachten und affirmierten Dynamik aus, woran auch der weitaus höhere Grad von Armut und existenzieller Not nichts ändert. „Sie können ja nicht anders und müssen sich dem westlichen Diktat beugen“ ist ein immer wieder zu hörendes argumentatives Grundschema, das in dieser Vereinfachung durch vielfache Wiederholung nicht richtiger wird. Insofern ist die „One World“ eine reale Gegebenheit, und zwar sowohl auf der objektiven wie auf der subjektiven Ebene. Die Menschen in der sogenannten Dritten Welt werden heute nicht etwa systematisch ökonomisch ausgebeutet, sondern – je nach Region – viele wünschen sich eher solch eine Ausbeutung (zurück), da sie auf den globalen Märkten mangels „Produktivität“ und „Rentabilität“ ignoriert werden; hinzu tritt dann der Umstand, daß die Peripherie in den wenigen ihr verbliebenen Möglichkeiten der Teilnahme am Weltmarkt noch zusätzlich beschnitten werden; es sei denn, es handelt sich dabei um für die Warenproduktion unerläßliche Rohstoffe.

Daß es aber auch eine Reihe von Unterschieden gibt, wird beispielsweise schon daran sichtbar, daß sich eine Arbeitsmentalität nie in derselben Breite und demselben Maße wie im Westen und schon gar nicht eigenständig entfaltet hat – mit der beschränkten Ausnahme des (ursprünglich ausschließlich im religiösen Fetisch verankerten) Konfuzianismus als geeigneter Ausgangsplattform, die – entgegen der Annahme Max Webers über seine mangelnde Eignung – schließlich auch genutzt wurde, als sich im Krisenprozeß der Wertverwertung die Chance dazu bot. Vor allem aber ist hier selten eine ausgesprochene Arbeitsideologie anzutreffen, wie sie in so unsäglicher Form die westlichen Subjekte charakterisiert. Das hat nichts mit der Faulheit zu tun, wie sie immer wieder in vorwurfsvollem bzw. abschätzigem Ton Leuten außerhalb des bürgerlich-kapitalistischen Kernbereichs von Vertretern des letzteren nachgesagt wird, obwohl im Grundsatz sehr zurecht einmal von Paul Lafargue das „Lob der Faulheit“ angestimmt worden ist. Vielmehr arbeiten auch diese Leute, sollten sie denn einen sogenannten Arbeitsplatz haben, zum Teil bis zum Umfallen, nur daß sie es in erster Linie tun, weil sie es aus Gründen des Überlebens tun müssen, deshalb nun aber nicht den Gedanken abstrakter Arbeit als geradezu sinnstiftend verinnerlichen und ideell überhöhen.

Wertfixierung und Arbeitsideologie sind also nicht in derselben Weise und in demselben Umfang aufeinander abgestimmt; und das gilt natürlich keineswegs nur für die letzten Jahre und Jahrzehnte, als der schleichende Prozeß der Abkopplung ganzer Weltregionen vom Weltmarkt sich immer mehr zuspitzte und die postkolonialen Modernisierungsdiktaturen, die sie zumeist auch und vor allem waren, in ihrer – nun bedingt eigenständigen – Imitation des westlichen Warenproduktionsmodells größtenteils sukzessive scheiterten; mehr noch gilt es für die Zeit solcher Modernisierungsversuche selbst und schließlich ebenso für die dieser vorausgegangene Kolonialzeit, zumal im Stadium eines im Westen bereits recht stabil verankerten bürgerlichen Selbstverständnisses im Laufe des 19. Jahrhunderts. Im Inneren der Kolonialstaaten war allerdings die Arbeiterbewegung zunächst noch keineswegs gänzlich auf den Kurs solch eines Selbstverständnisses eingeschwenkt; sie hatte sich erst nach einer konfliktreichen Übergangsphase – Stichwort: Luddismus – aufgestellt und verinnerlichte nun aber schon sehr bald das Prinzip der (abstrakten) Arbeit, mit der entsprechenden Heroisierung der Gestalt des Arbeiters (und hier galt übrigens immer die maskuline Form!), dem nur sein mühsam erwirtschafteter Wert in Form eines adäquaten Lohnes von der Kapitalistenklasse verweigert werde.

Anders in den kolonisierten Regionen: Zwar waren deutliche Bemühungen der Kolonisatoren zu verzeichnen, den Menschen dort das Prinzip selbstverleugnender Arbeit gewissermaßen ins Hirn zu prügeln; auch die Kirche, die zunächst einmal zu Missionierungszwecken vor Ort war und immer wieder teilweise in Gegensatz zu den nichtkirchlichen Kolonisatoren geriet, übernahm in diesem Belange mehr und mehr eine wichtige ergänzende Funktion: So etwas wie eine „protestantische Arbeitsethik“ – selbst wenn die katholische Kirche am Werk war – sowie Disziplin, sprich: Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung, sollten von ihr bald den als Wilde und Unzivilisierte Betrachteten über den „Umweg“ des Glaubens eingetrichtert werden; diese Unternehmung der Sozialdisziplinierung gelang hinsichtlich der Verinnerlichung der gepredigten Kriterien nur unzureichend.

Auch im Bereich der islamisch geprägten Länder und Regionen wurden diesem flankierenden Versuch, den „Wilden“ die für erfolgreichen Kapitalismus (in wessen Diensten auch immer) notwendigen subjektiven Dispositionen einzuimpfen, bescheidene Erfolge zuteil, ja ihre Realisierung war dem Westen zum Teil nur bedingt in Form direkter Einflußnahme möglich. Das hat im Falle etwa des Osmanischen Reiches, Persiens oder von weiten Teilen des heutigen Saudi-Arabiens damit zu tun, daß diese in ihrem territorialen Kern formal nie oder so gut wie nie unter westlicher Kolonialherrschaft standen. Etwas anderes ist es dann wiederum, inwieweit sehr wohl diese Nicht- bzw. Noch-nicht-(National-)Staaten moderner Prägung bei ihren Bestrebungen nachholender Modernisierung von westlichen Interessen konditioniert waren, was aber bei der hier vorliegenden Fragestellung – also der Frage nach den Rahmenbedingungen für Ideologiebildung in unterschiedlichen Kontexten – keine Rolle spielt.

Auch Robert Kurz hatte sich dem Problem, das ich hier beschreibe, einmal angenähert, wenn er etwa 2003 schrieb, daß die (von ihm vereinseitigt als Opfer bezeichneten) Menschen der sogenannten Dritten Welt „nie ganz in die Form des Wertsubjekts hineingekommen sind“ („Die antideutsche Ideologie“, S.190); davon nahm er nur die dortigen „verwahrlosenden Eliten“ aus, die (als eigentlich dominant männliche, westliche und weiße Subjekte) nun zumindest das Sub-MWW mimen dürften und die Paten des Terrors, der Plünderung und des Wahnsinns“ darstellten. Ganz unabhängig von der in dieser Form fragwürdigen säuberlichen Aufteilung in Opfer einerseits und nun mehr und mehr durchdrehende (ehemalige?) Komplizen des Westens andererseits (und wie es scheint, würde mir Kurz hier ja mittlerweile mehr als zustimmen, wie zumindest sein Text KmG – nicht aber KgJ – zeigt): Im Laufe der Zeit sind über kurz oder lang sehr wohl alle in die Form des Wertsubjekts hineingekommen; ja sie sind zunächst geradezu hineingerissen worden. Der Kapitalismus ist auch ihnen nicht nur äußerlich.

Doch besteht das Subjekt ja nicht nur aus dieser (wenn auch zentralen) Facette – auch wenn Kurz in dem Zitat „Wertsubjekt“ vermutlich als Oberbegriff benutzt – , sondern aus weiteren solchen (als „bürgerlich“ zu kennzeichnenden), die hinzutreten: Verrechtlichung, Abwesenheit rein personaler Herrschaft, die, soweit doch noch gegeben, nur Ausdruck und Umsetzung der sachlichen Herrschaft ist, religiöses Selbstverständnis, das fast vollständig (wenn auch nur fast) per Säkularisierung abgedrängt ist, konkurrentes Verhalten auf allen Ebenen, Erfüllung in der abstrakten Arbeit usw.

Für die Peripherie dagegen stellt sich alles mit diesen Stichpunkten Verbundene nicht ansatzweise so klar dar. Wie steht es zum Beispiel, über das bereits genannte Arbeitssubjekt hinaus, mit dem (außerhalb des „klassischen“ Westens oft nicht oder nur teilweise vorhandenen) bürgerlichen Rechtssubjekt westlichen Zuschnitts? Wie ist es zu erklären, daß in der Peripherie der westliche Demokratismus nur bedingt oder gar nicht als abstrakte Herrschaftsform umgesetzt wurde und wird? Gab und gibt es tatsächlich überall in der Peripherie so etwas wie einen abstrakten Gleichheitsgrundsatz, der die Gleichheit vor dem „automatischen Subjekt“ proklamiert? Letzteres betrifft auch die autoritäre Komponente in diesem peripheren Raum, die eben nicht nur auf „postmoderne“ Zersetzungserscheinungen oder – vorher – auf die gleichsam objektive Notwendigkeit einer nachholenden (ökonomischen) Modernisierung zurückzuführen ist, sondern auch mit Überresten personaler Herrschaft bzw. entsprechenden Dispositionen zu tun hat. Auch das Problem der häufig nur gering ausgeprägten oder gar nicht existierenden Trennung von Staat und Kirche wäre hier zu nennen, die übrigens auch im Westen oft nicht vollständig bzw. nur bedingt besteht.

Es ist in den (und innerhalb der) kapitalistischen Randregionen (noch?) eine deutlichere, in der Regel mit dem Stadt-Land-Gefälle einhergehende Ungleichzeitigkeit festzustellen, die sich in entsprechenden Differenzen ausdrückt; diese Form historischer Ungleichzeitigkeit ist nun aber keineswegs nur hinsichtlich des kapitalistischen Modernisierungsprozesses gegeben, sondern auch bezüglich einer nur teilweisen Inkorporation der Individuen in die so paßgenaue bürgerliche, die aufklärerische Subjektform. Damit ist grundsätzlich auch eine anteilig größere abstrakte Disposition zu modifizierten, der kapitalistischen Moderne gleichsam angepaßten Modellen traditionaler personaler Herrschaft gegeben, also selbstverständlich ohne daß der alte vormoderne Rahmen agrarischer Produktionsformationen erhalten geblieben wäre. Hier knüpfen in letzter Zeit sowohl die diversen Warlords als auch generell islamistische Gruppen an; das Resultat ist ein rückwärtsgewandter Gestus, ein extrem gewaltbereiter und -tätiger „Antiimperialismus“, soweit er sich überhaupt als solcher zu artikulieren sucht, der sich in Wirklichkeit so von gar nichts befreien kann. Er taumelt hin und her zwischen den Rahmenbedingungen einer nur noch unter größten Schwierigkeiten herzustellenden Reproduktion unter (auch dort) weder durchschauten noch angezweifelten kapitalistischen Bedingungen – mit dem Resultat einer mehr und mehr praktizierten „Plünderungsökonomie“ – und dem Versuch, innerhalb der globalen kapitalistischen Realität den alten Fetisch scharfzumachen.

Dieser ist aber längst schon zu einer Sonderideologie herabgesunken und in seiner weit zurückliegenden Hegemonie nicht mehr herstellbar; unter den Vorzeichen von moderner Produktion und Reproduktion bleibt die verstärkte Zuflucht bei der Religion ohnmächtig, allerdings mit verheerenden Auswirkungen. Die religiöse Metaphysik ist zwar in ihrem Wirken als Sonderideologie nie verschwunden; dennoch ist sie nur noch in – modifizierten – Teilen in der Denkform vorhanden, die sich ihrerseits zwar noch in Spannung zum modernen Wertfetisch und der entsprechenden Realmetaphysik befinden, sich diesem aber zugleich weitgehend anverwandelt haben. Eine ähnliche Konstellation, allerdings in vergleichsweise abgeschwächter Form, ist übrigens auch für den Westen gegeben; ich habe bereits auf meinen diesbezüglichen Aufsatz „Benedikts Eiertanz“ verwiesen.

Natürlich wäre in diesem Bereich genauer zu differenzieren, wie so etwas jeweils an verschiedenen Orten historisch verlief und sich heute darstellt; es gibt da ein erhebliches Gefälle, das man als Subjektgefälle bezeichnen kann. Um recht willkürlich einige Beispiele zu nennen: Argentinien ist nicht Guatemala, die Philippinen sind nicht Uganda usw. Ohnehin ist es offensichtlich, daß im Falle etwa des erstgenannten Staates, der seine (formale) Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Spanien bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlangte (damals geißelten Teile der Eliten geradezu die „Rückständigkeit“ der ehemaligen Kolonialmacht), die Situation eine andere war und ist als im Fall des letzten Beispiellandes, wo dieser Zeitpunkt erst Mitte des 20. Jahrhunderts gekommen war.

Eine Reihe der genannten Subjekt-Aspekte sind also in der „Dritten Welt“ je nach Ort und historischem Kontext nicht zur Gänze gegeben oder in abgewandelter Form anzutreffen. Insofern würde ich Kurz, die oben zitierte Passage zur Subjektform betreffend, in modifizierter Weise dann doch wieder (oder, für meinen Teil, auch weiterhin) zustimmen: In der Tat sind die Individuen der kapitalistischen Peripherie bis auf die (zentrale) Wertsubjektkomponente nicht auf allen Ebenen vollständig in die Subjektform eingerückt. Es handelt sich also in dieser Hinsicht um hybride Identitäten und insofern gewissermaßen um „hybride Verhältnisse“. Auch innerhalb des jeweiligen Landes oder der Region wären graduelle Unterschiede zu berücksichtigen, je nachdem, ob jemand zu den – am meisten „verwestlichten“ – (Funktions-)Eliten zählt oder nicht, und auch hinsichtlich des schon erwähnten, dort zumeist noch eine Rolle spielenden Stadt-Land-Gefälles usw.

Selbst wenn in peripheren Regionen die Menschen keineswegs in den bürgerlichen Verkehrsformen aufgehen – natürlich gilt das mit dieser Formulierung Bezeichnete grundsätzlich auch für die westlichen Individuen, allerdings auf einer ganz anderen Abstraktionsbene, so zeigt sich doch, daß real existierende personale Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse mittlerweile weitgehend gesprengt sind und nur noch bedingte Gültigkeit in Form von mikrogesellschaftlichen Loyalitäten (Großfamilie, Clan) haben; doch in Zeiten immer prekärer werdender Staatlichkeit gewinnen diese tendenziell wieder an Bedeutung. Die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre wiederum ist zumeist sehr weit fortgeschritten; das hat nicht zuletzt für das Geschlechterverhältnis Konsequenzen, wo ein modernes Abspaltungsverhältnis eine ganz spezifische – und allerdings im Zuge der Krise immer explosivere – Symbiose mit nie ganz verschwundenen Überresten eines vormodernen Verständnisses des Geschlechterverhältnisses eingeht.

In politischer und ökonomischer Hinsicht ist rein personale Herrschaft sukzessive durch Formen des (Neo-)Patrimonialismus mit der entsprechenden Patronage und Klientelismus weitgehend abgelöst worden. Dabei knüpft letzterer zum Beispiel zwar noch häufig, aber eben längst nicht mehr ausschließlich an Verwandtschaftsverhältnisse an. Solche hybriden Strukturen befinden sich inzwischen oft und immer mehr in prekärer Koexistenz und / oder im Konflikt mit Elementen und Gruppen der Plünderungsökonomie und des damit einhergehenden blanken Terrors, wo ebenfalls auf solche paternalistischen Muster zurückgegriffen und an entsprechende Dispositionen angeknüpft wird.

Somit ist die Wertvergesellschaftung eine globale und in allen Individuen verankerte Realität (die auch für die Ideologiebildung generell erhebliche, ja dominierende Bedeutung hat); das festzustellen ist zwar unabdingbar, aber es ist nicht ausreichend. Parallel dazu und damit in der einen oder anderen Weise verschränkt existiert in westlich-nördlichen Regionen – mit meist christlichem historischem Hintergrund – etwas, das mit hochgradiger „Subjektvergesellschaftung“ gut zu umschreiben wäre. Diese ist aber außerhalb des „westlichen“ Kernbereichs nur bedingt bzw. in verschiedenen Abstufungen anzutreffen, wenn man vom (allerdings zentralen) Faktor „Wertsubjekt“ absieht. Die Abspaltung ist wiederum – gerade auch im Hinblick auf das damit verbundene Geschlechterverhältnis – ein mit beiden Vergesellschaftungskomponenten verschränktes Phänomen, das insofern auch graduell unterschiedlich in den Regionen der Wertperipherie ausgeprägt ist.

Es gilt daher, die kapitalistischen Kernländer in einer konzeptionellen, Konsequenzen mit sich bringenden Weise (im Gegensatz zur „hybrid-kapitalistischen Peripherie“) in „bürgerlich-kapitalistische Kernländer“ umzutaufen – Gemeinsames und genauer zu Differenzierendes. Die „bürgerliche“ Komponente dabei ist also auch nicht einfach aus der kapitalistischen, quasi aus dem „automatischen Subjekt“ abzuleiten, ebenso wenig wie die „hybride“. Ansätze zu solch einem „Nicht-Ableitungsweg“ gab es vor etwa sechs bis sieben Jahren gerade bei „Exit!“ durchaus, vor allem im Zuge einer vehementen Aufklärungs- und der damit einhergehenden Subjektkritik; doch sind diese Theoriebestandteile bzw. die entsprechenden ersten Ansätze in der letzten Zeit leider wieder weitgehend in der Versenkung verschwunden.

Auch wenn es nichts am erbarmungslosen, global hegemonialen Wirken dieses Wertfetischs ändert, haben wir es also unterhalb dieser Ebene mit einer recht komplexen Situation zu tun. Für den hier zur Debatte stehenden, historisch allmählich gewordenen Raum ist das gut an den Denkströmungen abzulesen, die etwa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – im Rahmen der Kolonialherrschaft – immer auch eine Abwehrreaktion auf die Moderne waren, allerdings ohne daß dabei deren Hauptbestandteil der Wertverwertung als solcher zurückgewiesen worden wäre); damit sind sie sowohl Teil von dieser als auch gegen sie und außerhalb von ihr stehend. Sie daraufhin als eine rein ideologische Manifestation unter vielen einzuordnen würde der Komplexität des Sachverhalts nicht gerecht werden.

Um ein Beispiel zu nennen: Der Wahhabismus ist nicht etwa auf eine rein moderne und nur insofern spezifisch antimoderne Gegenreaktion gegenüber der Aufklärung zu reduzieren, die damals im Westen ihren Siegeszug bereits anzutreten sich anschickt, wie das etwa in Europa für die Romantik gilt, denn dieses Aufklärungsdenken richtet in der Peripherie in der Breite nur wenig aus, selbst wenn europäische gegenaufklärerische Elemente, welche hinsichtlich ihrer Entstehung ebendieser europäischen Aufklärung gedankt sind, auch damals schon teilweise in die abseits vom aufklärerischen Westen vorhandenen Denkformen insbesondere der dortigen Eliten eingesickert sind. Aufklärung wurde schon vom äußeren Rahmen her in der Regel mit Kolonialherrschaft, mit Rassismus und Exklusion verbunden – und das auch grundsätzlich durchaus zurecht.

Im Zuge des Wiedererstarkens islamistischer Ideologie unter gewandelten Voraussetzungen nahm allerdings im Laufe der letzten Jahrzehnte in einem widersprüchlichen Prozeß die funktionale Rezeption bzw. Teilübernahme vermeintlich geistesverwandter westlicher Ideologieströmungen erheblich zu, die in einer anderen historisch-sozialen Konstellation und mit entsprechend anders gelagerten Zielen auf autoritäre Modelle drängten. So schossen aus der konkurrent aufgefaßten Situation gegenüber dem (in der Tat dominanten) Westen die entsprechenden, mittlerweile primär kulturalistischen Bestrebungen des Islamismus, eine weitgehende Reislamisierung durchzusetzen und sich unter anderem zu diesem Zwecke ausgerechnet (aus ihrem spezifischen Kontext herausgerissene) westliche Vorbilder dienstbar zu machen, mit einer heterogenen Subjektivität zusammen, die auch weiterhin in einem vergleichsweise höheren Ausmaß als im Norden / Westen Relikte eines vormodernen und der Moderne partiell angepaßten Verständnisses (und der entsprechenden gesellschaftlichen Realität) weitergetragen hatte.

In jedem Falle wurden und werden damit die Realität der Wertvergesellschaftung und deren Handlungsbedingungen natürlich in keiner Weise angetastet; vielmehr sind solche Bestrebungen Ausdruck der gebrochenen Subjektvergesellschaftung, woraufhin man sich unter dem Eindruck der Krise nur um so mehr auf die zu einer Sonderideologie herabgesunkenen Religion wirft, bei der es sich eben nicht um eine reine (und insofern auch nicht um eine beliebige und austauschbare) Legitimationsideologie handelt. Am Rande sei hier auch erwähnt, daß es bestimmte Überschneidungen etwa zu evangelikalen („christianistischen“) und auch zu jüdisch-orthodoxen Manifestitationen gibt; das festzuhalten heißt aber eben keineswegs, daß diese Phänomene daraufhin identisch seien.

Al Wahhab als Gegen-Kant (oder gar als „arabischer Kant“), der Wahhabismus als Gegen-Kantianismus – so geht die Gleichung nicht auf. Wahhabismus befindet sich in keiner Entsprechung zur Aufklärung; und er ist nicht etwa immer schon modern, sondern vielmehr – und zwar zunächst dadurch, daß die Moderne den Menschen dort aufgezwungen wurde – allenfalls in seiner letztlich ohnmächtigen Abwehrbewegung immer auch modern, aber damit eben nicht nur modern. (Daß von seiten der Kolonialmächte, im konkreten Beispielsfall also seitens Großbritanniens, versucht wurde, aus strategischen Erwägungen heraus – Schwächung des Osmanischen Reichs – diese Strömung zu stärken, steht auf einem anderen Blatt, konnte allein aber natürlich überhaupt nicht ihren Einfluß, Zuwachs und ihre Festigung erreichen, geschweige denn ihre Entstehung.)

Spätestens seit dem Einmarsch Napoleons in Ägypten ist fast in der gesamten Region außerdem ein permanentes Pendeln zwischen einem modernen, häufig panarabisch ausgerichteten Nationalismus und einem religiösen Panislamismus zu beobachten, was immer wieder auch zu Mischformen aus beidem führen konnte; erst mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs gewann ersterer für eine längere Periode die Oberhand. Auch (aber nicht nur) unter dem Eindruck der Krisenzuspitzung – und häufig auch aufgrund der damit einhergehenden prekärer gewordenen Staatlichkeit – ist diese Dominanz des Nationalen gegenüber dem Islamfundamentalistischen, Panislamischen erneut erheblich erschüttert.

All das zur partiell unterschiedlichen Subjektkonstitution Gesagte kann allerdings nur für eurozentrische Fortschrittsmetaphysiker, für Aufklärungsbewegte, „antideutsche“ Ideologen und andere affirmativ-bürgerliche Kreise bedeuten, diesem Raum nun ruhigen Gewissens Ummasozialismus zuschreiben zu sollen, ihn als „nichtzivilisatorisch“ einzuordnen und insofern bekämpfen zu müssen bzw. zu können. Aber ganz gleich wie sich (mal mehr, mal weniger mit der Sonderideologie Religion einhergehende) Fetischkonstellationen ausnehmen: Sie sind allesamt in ihrem wie auch immer im einzelnen zu gewichtenden Fetischcharakter einer konsequenten Kritik zu unterziehen und zu bekämpfen; und das hat selbstverständlich auch weiterhin den Westen mindestens einzuschließen, der keineswegs nun als das vermeintlich kleinere Übel eine Schonfrist eingeräumt bekommen oder gar platt gegenüber dem „eigentlichen Gegner“ affirmiert werden darf.

Die Moderne nahm im Westen ihren Ausgang, und im Verlauf dieser denkbar zweifelhaften Erfolgsgeschichte konnte dort auch eine erfolgreichere Integration aller Bevölkerungsteile in das bürgerliche Subjektdasein, sprich: in die entsprechende Denkform erreicht werden. Als „Meilenstein“ kann dabei die Wegbereitung durch die bis heute weiterwirkende, ja heute mehr denn je beschworene Aufklärung gelten; und daß auch die Arbeiterschaft schließlich in dieses Modell integriert werden konnte, ja: sich letztlich selbst integrieren wollte, war dann wohl der (endgültig) letzte „Erfolg“. Die Aufklärung als solche, das ist gewissermaßen „phänomenologisch“ richtig, hat in der Peripherie nicht stattgefunden, schon gar nicht in einem westlichen Format und Umfang, und ein alle integrierendes Erfolgsmodell war nie in Reichweite gewesen noch jemals ernsthaft gesucht worden, weder in materieller noch in ideeller Hinsicht, und ist heute unter den Bedingungen ebendieser Aufklärung vollends als Schimäre erkennbar.

Das entscheidende Problem ist aber, daß im Westen so viele Leute die seltsame Gewißheit haben, damit sei dort gleichsam eine Nicht-Zivilisation gegeben, die es daraufhin zu bekämpfen gelte; oder aber es ist von Mittelalter (oder gar von der Steinzeit) die Rede, und das vor dem Hintergrund und in Anwendung der altbekannten Fortschrittsmetaphysik, in der das Durchlaufen der Aufklärungsetappe eine zentrale Rolle spielt und und als unhintergehbare Voraussetzung für vielversprechendes Zukünftiges gedacht wird.

Die Schlußfolgerung liegt dann auf der Hand: All diese „unzivilisierten“ Regionen seien historisch zurückgeblieben und rückständig; im Grunde eine ideologische Neuauflage der Konstellation Ende des 18. Jahrhunderts: Nicht zuletzt in Form einer Legitimationsideologie – war damals postuliert worden, man müsse den „Wilden“ die „zivilisatorischen Neuerungen“ bringen und nahebringen. Heute dagegen überwiegt ideologisch der defensive Impuls. Das hat natürlich viel mit den Migrationsströmen in die Zentren des Kapitalismus zu tun, die von diesen möglichst unterbunden oder wenigstens eingedämmt werden. Daß diese defensive Vorgehensweise dann um die denkbar offensive der Weltordnungskriege – im Sinne einer Vorwärtsverteidigung – mehr als nur ergänzt wird, steht wiederum auf einem anderen Blatt; Indiz der unauflösbaren Widersprüchlichkeit des Gesamtprozesses unter ökonomischen, politischen und ideologischen Vorzeichen.

In bezug auf die kapitalistische Peripherie läßt sich also zweierlei sagen: Die mal (erheblich) mehr, mal weniger prekäre materiale Realität und der entsprechende Vollzug der Wertverwertungstautologie sind allen geographischen Räumen gemeinsam und strahlen auch auf die Denkform der Akteure ab. Dennoch nimmt die mentale Umsetzung – gerade auch nach der formalen Entkolonisierung – nicht nur tendenziell je nach Grad der Krisenrealität, sondern auch je nach „historischem Gewordensein“ (Roswitha Scholz) und Kontext unterschiedliche Formen an, gerade auch innerhalb des postkolonialen Raumes. Das wiederum führt zu ideologischen Ausformungen, die von denen des klassisch-bürgerlichen Westens hinsichtlich ihrer Herkunft, Konstellation und Absicht sowie in ihren Auswirkungen gegebenenfalls zu unterscheiden und auch darüber hinaus in sich weiter zu differenzieren wären. Vor diesem Hintergrund nehmen viele Akteure, je mehr die gesellschaftliche Praxis, den Wertfetisch in klingende Münze umzusetzen, scheitert, umso mehr Zuflucht bei der Sonderideologie Religion, der alten, nie ganz erloschenen Metaphysik als Überbleibsel des alten Fetischs, die insofern einen hervorragenden Anknüpfungspunkt darstellt; mit den bekannten blutigen Folgen.

Handlungsleitend, oder besser: handlungsrelevant werden die Differenzen hinsichtlich der (hybriden) Subjektkonstitution über einige lebensweltliche – und insofern auch sozial relevante – Aspekte hinaus „nur“ über den Umweg von spezifischen Formen und Bedingungen der Ideologiebildung in ihrem Einfluß auf das Handeln. Und um Ideologie und ihre Auswirkungen ging es ja auch Robert Kurz, wenn er meinte, das damalige spezifische zu Auschwitz führende Denken könne „auch anderswo auf anderer Grundlage und in einer anderen kulturell-ideologischen Konfiguration ausgebrütet“ werden (KmG 216f.); die Ideologie des deutschen NS-Antisemitismus könne sich also hinsichtlich ihrer eliminatorischen Konsequenzen im Rahmen der aktuellen Ideologiebildung in den arabischen bzw. generell islamisch mitgeprägten Regionen gerade auch hinsichtlich des Vernichtungscharakters wiederholen. Angesichts von Differenzen, die ich hinsichtlich der Subjektkonstitution thesenhaft zu skizzieren versucht habe, wäre es nun von nicht geringem Interesse, wenn Kurz seine Argumentation von einem zumindest wahrscheinlichen neuen Auschwitz im Nahen Osten, sollte er sie auch weiterhin verfolgen, in bezug auf besagte andere „kulturell-ideologische Konfiguration“ genauer erläutern würde. Daß ich selbst diese (also erst noch im einzelnen zu erläuternde) Argumentation in ihrer Stoßrichtung nicht teile und solche Anzeichen nicht erkennen kann, ist ja längst deutlich geworden.

7. Die linke Nabelschau unter besonderer Berücksichtigung der Deutschen

manche meinen /lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum!“ heißt es in Ernst Jandls bekanntem Sprachspielgedicht mit dem Titel „lichtung“. Am Ende kann man also tatsächlich links und rechts verwechseln, heute mehr denn je.

Das häufig und von vielen im Munde geführte Wort „Restlinke“ sollte in einem doppelten Sinn verstanden werden: im herkömmlichen, da der (zahlenmäßige) Abschmelzungsprozeß in den letzten Jahrzehnten – und eben nicht nur in Israel – nicht unerheblich war, und in dem Sinne, daß bei Leuten, die sich weiterhin der Linken zurechnen, von einer inhaltlich einigermaßen konsistenten, emanzipatorischen Position immer weniger die Rede sein kann, wobei ich von den vielen Grabenkämpfen vergangener Jahrzehnte, ja fast Jahrhunderte einmal ganz absehe; ein deutliches Indiz des Verfalls des alten Links-Rechts-Schemas, wenngleich es immer noch in vielen Köpfen verankert ist (vielleicht vor dem Hintergrund der Krise sogar zusätzlich als Abwehrposition durch das identitäre Sich-Klammern an diese Begrifflichkeit) und emotional – gerade auch bei „Exit!“ – noch erhebliche Wirkungen ausübt.

Ebendas gilt es in dem anzustrebenden Ablösungsprozeß von solch einer überkommenen Aufteilung zu berücksichtigen, um so von dieser – viele Biographien (auch meine eigene) prägenden – Bindung und einer heute oft in eine obsessive Haßliebe und ambivalente Fixierung mündenden Haltung zu „der Linken“ loszukommen, wie sie gerade auch bei Robert Kurz und insbesondere in dessen „Kindermörder“-Polemik angesichts dieser immer unschärfer werdenden und verlöschenden Linken exemplarisch zu erkennen ist. (Wer will, möge sich bei der Lektüre von KmG einmal auf die vielen unterschiedlichen und zum Teil in sich widersprüchlichen Adjektive konzentrieren, die Kurz dem Wort „Linke“ voranstellt.) Das heißt auch, daß es einmal ein Ende damit haben muß, daß fast ausschließlich die noch verbliebene Linke oder die sich so bezeichnenden Personen und Gruppen als Ansprechpartner und Adresse wütend-enttäuschter Kritik dient.

Stattdessen wäre eine selbstkritische kritische Theorie anzustreben, welche zugleich die Tatsache einer immer irrelevanter werdenden Trennungslinie zwischen Rechts und Links trotz der entsprechenden eigenen biographischen Prägung auch emotional bewältigt und damit endgültig hinter sich lassen kann. Da aber kritische Theorie selbstverständlich keinesfalls zu einem jeglicher inhaltlichen Verankerung baren Glasperlenspiel verkommen darf – ganz im Gegenteil! – , gilt es auch weiterhin klar zu unterscheiden; nun aber zwischen beharrend-affirmativen Positionen und solchen, die – wie bedingt auch immer – zumindest emanzipative Anteile aufweisen. (Und die sind allerdings nicht nur bei „Antideutschen“ und „Antizionisten“ bezüglich des hier behandelten Themas schwerlich auszumachen.) Es lohnt sich jedenfalls entschieden mehr, darüber zu streiten, welche Positionen in welchem Umfang als emanzipativ anzusehen sind oder nicht, als der Streit darum, was (noch) links sei und was nicht.

Vor allem im nationaldeutschen, im deutschneurotischen Kontext, der bei der Traditionslinken, der Ex-Linken, der „antideutschen“ Linken (?) in diesem Land in vieler Hinsicht den gemeinsamen Nenner bildet, aber nicht nur dort, gibt es handfeste Gründe zur Genüge, die alte Kardinaleinteilung der Welt in Links und Rechts als Konsequenz aus der Sitzordnung im französischen Parlament der bürgerlichen Revolution fallenzulassen: Da ist einmal das antideutsche „Irgendwie-noch-Linkssein“ im Selbstverständnis einiger Akteure, das ausgerechnet durch das Linke-Bashing seine (soweit noch links gedachte, klassisch links-progressive) Eigenständigkeit gewinnen will; dabei bedurfte es eines negativen Abstoßungspunktes der deutschen Nationalität, womit das traumatisch erfahrene eigene Nationalverständnis und die damit einhergehende eigene Verhaftetheit in nationaldeutschem Denken Dreh- und Angelpunkt waren und nur scheinbar gewendet wurden. Nicht umsonst sprach Ulrich Enderwitz in diesem Zusammenhang verschiedentlich von deutlichen Anzeichen einer „negativen Deutschtümelei“.

In der erweiterten Fassung des „Antideutschtums“ (Enderwitz) schließlich wird ein ums andere Mal das uralte sogenannte „bürgerliche Glücksversprechen“ beschworen, als sei es gerade vorgestern abend ausgesprochen worden, wodurch verständlicherweise die Zeit zu seiner Einlösung nicht gereicht habe. Grotesk das vermeintliche „Rücke vor bis auf Los“ im Monopoly der historischen bürgerlichen Aufklärung, die nun als Rückkehr zum alten „point of no return“ zelebriert wird, um so die kläglichen Reste eines beschworenen Mindeststandards zu verteidigen gegen eine „Nicht-Zivilisation“, die ohnehin nie eine gewesen sei, weil sie nicht die hehren bürgerlichen Standards der Aufklärung (vollständig) assimiliert und übernommen und so zur Barbarei wie von selbst sich prädestiniert gezeigt habe, was sich nun – im Sinne der islamistischen Barbarei und der entsprechenden Gleichsetzung – auch eindeutig für den gesamten islamischen Raum zeige. So ist der Weg zu einem neuen, sich antiislamisch definierenden, hinsichtlich der Stoßrichtung quasikulturellen Rassismus geebnet und wird auch längst schon wacker beschritten.

Zum anderen ist da aber auch das immer grusligere „Querfront“-Treiben, wo rechtes und linkes Selbstverständnis auf ein gemeinsames Feindbild einschwenken: Dem nationalen Rahmen gilt es trotz bzw. wegen aller gegenläufigen Tendenzen der Globalisierung seine „Gestaltungskraft“ zurückzuerobern, gegen die (meist mit dem dem internationalen Finanzkapital gleichgesetzte) Globalisierung gleichsam einzuklagen; eine Tendenz, die „lechts und rinks“ (Jandl) gänzlich ununterscheidbar macht. (Parallelen, die der Terminus „Querfront“ suggeriert, nämlich zu nationalbolschewistischen Strömungen im Vorfeld der nationalsozialistischen Machtübernahme, sind zwar wohl bis zu einem gewissen Maß gegeben, aber hinsichtlich einer historischen Engführung des damit verbundenen Vergleichs dennoch mit Vorsicht zu genießen und wären einer eigenen Erörterung wert.) Und bei solch einer Fixiertheit auf Staat und Nation gilt es dann auch, in immer obsessiverer Weise den nationalen, den staatlichen Aspirationen auch der Palästinenser zum Sieg zu verhelfen; und wenn das dann schon mal, nicht zuletzt zu Zwecken der projektiven Schuldabwehr, mit dem Einsatz (klassisch westlicher) antisemitischer Versatzstücke einhergeht: Wen stört‘s schon? – so der Tenor.

Bei den „Antideutschen“ geht es also im Resultat um die übernationale „Wertegemeinschaft des Westens“; bei den „Querfrontlern“ dagegen (denen gegenüber Teile der Antiglobalisierungsbewegung durchaus sich als anfällig erweisen, ohne daß hiermit pauschalierend die gesamte entsprechende Bewegung in diesem Sinne zwangseingeordnet werden soll) soll es der alte Nationalstaat sein, der bisweilen geradezu wieder zu einer nationalen Volksgemeinschaft aufgeladen wird, wie es auf der alt- und neunazistischen Seite in (West-)Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein nie ganz abgerissener Brauch gewesen war. Vielleicht rächt sich ja nun, daß „Vordenker“ der Antiglobalisierungsbewegung wie etwa Pierre Bourdieu, den aber an dieser Entwicklung keine unmittelbare Schuld trifft, ganz defensiv und mit bitter-nostalgischer Wehmut diese nationalsouveräne Komponente indirekt wieder starkgeredet hatten.

Um an dieser Stelle in einem kurzen Exkurs noch einmal auf Robert Kurz und dessen Text „Die Kindermörder von Gaza“ zurückzukommen: Er bezieht sich in seiner ideologiekritischen Polemik einmal in Form eines Gedankenspiels auf die Internationalen Brigaden des spanischen Bürgerkriegs, wo die internationale Solidarität die bewaffnete Parteinahme sehr wohl begründet habe erscheinen lassen, wenn auch mittlerweile der „klassische Träger“ – ist hier der Nationalstaat oder der sowjetische (damals pur stalinistische) Staatssozialismus bzw. Staatskapitalismus gemeint? – verlorengegangen sei. Diese Art der Frontstellung sei nun auch mit der Unterstützung für die israelische bzw. die palästinensische oder – in Gaza konkret – die hamas-islamistische Sache gegeben, und wer da in „agnostische[r] oder relativistische[r] Haltung“ beiseitestehe – was bei Kurz natürlich bedeutet: wer nicht ohne Wenn und Aber für Israel Stellung beziehe – , werde „zurecht von beiden Seiten unter Feuer genommen“ (KmG 241).

Dieses Gedankenspiel, einmal genauer betrachtet, impliziert nun eine ganze Menge. Es ging in den hier evozierten spanischen Bürgerkriegsjahren von 1936 bis 1939 um die blutige Auseinandersetzung von Rechtskonservatismus, Klerikalfaschismus (die „Nationalen“ Spaniens) mitsamt dem damals dieses Lager unterstützenden deutschen Nationalsozialismus und dem faschistischen Italien einerseits und andererseits der „republikanischen“ Seite in Form einer hochexplosiven „Ad-hoc-Koalition“ zwischen bürgerlich-demokratischen Strömungen und einer Palette von linken Kräften, von den Anarchosyndikalisten über die Linkssozialisten und (die sich damals allerdings noch nicht so nennenden) Trotzkisten und bis zur zunächst eher unbedeutenden Kommunistischen Partei, die nicht zuletzt aufgrund der Abhängigkeit von militärischer und finanzieller Hilfe durch die stalinsche Sowjetunion im Verlaufe des Bürgerkriegs aber recht bald erheblichen Einfluß – und Mitglieder – gewann.

Im nachhinein betrachtet (Gedankenspiel) war die damals wohl am ehesten zu unterstützende Fraktion die der – in bestimmten Regionen des Landes sehr starken – Anarchosyndikalisten und der kleinen Gruppe von „Trotzkisten“ (POUM), die einander damals auch mit gewissen Sympathien begegneten; doch letztere waren – und zwar im Zuge der Formierung besagter, strenger militärischer Disziplin unterworfener Internationaler Brigaden zuungunsten der (ebenfalls bereits mit vielen nichtspanischen Kämpfern besetzten) Milizen der Kriegsanfänge – bald einer skrupellosen Repression und Eliminierungsaktion durch stalinistische Kräfte ausgesetzt, und zwischen den Anarchosyndikalisten und dem bürgerlich-stalinistischen Lager gab es zeitweise Straßenschlachten, die schon fast einem „Bürgerkrieg im Bürgerkrieg“ gleichkamen und so, nebenbei gesagt, auch zur Schwächung des „republikanischen“ Lagers beitrugen, das bekanntlich den Krieg schließlich verlor.

Nun ist es sicher bis heute ein mit gewisser Nostalgie und Heroismusträumen verbundener und hartnäckig sich haltender Mythos der westlichen Linken, daß damals in Spanien eine klar identifizierbare Situation gegeben gewesen sei, wo die (eben auch internationale) Solidarität und eine entsprechende, auch in den Krieg eingreifende Parteinahme auf der Hand gelegen hätten. Doch die (viel zu) kurze Schilderung der verwickelten Zustände macht vielleicht deutlich, daß die Angelegenheit ganz so einfach und eindeutig eben gerade nicht war. War man gegen den Faschismus, so war damit noch lange nicht geklärt, wo man sich im anderen Bürgerkriegslager einordnete. (Die Hilfe der Sowjetunion war ja nicht zuletzt deshalb so wichtig geworden, weil Staaten wie Großbritannien und Frankreich allenfalls zeitweise im besten Falle symbolische Hilfe leisteten und Lippenbekenntnisse zugunsten der „Republikaner“ abgaben, während die USA beide Seiten mit Kriegs- oder kriegsrelevantem Material versorgten. Nur Mexiko unterstützte im Rahmen seiner Möglichkeiten auf allen Ebenen die Republikaner. Großbritannien und Frankreich griffen bekanntlich erst einige Monate nach Beendigung des spanischen Bürgerkrigs gegen den Nationalsozialismus und Faschismus ein, womit endgültig der Zweite Weltkrieg begann.)

Es ist bei der Analogie, die Kurz zum Zwecke des Einklagens einer klaren Parteinahme zwischen dem Nahen Osten 2009 und Spanien 1936 herstellen will, auch ein besonderer Gesichtspunkt, daß zu Beginn des Bürgerkrieges nicht nur in Nazideutschland sich die Situation für die deutschen Juden schrittweise verschärfte (etwa mit den Nürnberger Gesetzen), sondern auch in der Sowjetunion innerhalb der KP eine „Säuberungs“-Aktion großen Stils begann, die sich eindeutig antisemitischer Mittel bediente; Trotzki ging darauf bereits 1937 in seiner Schrift „Thermidor und Antisemitismus“ ein. In der zweiten Säuberungswelle nach dem Weltkrieg trat der antisemitische Aspekt noch deutlicher zutage, und Juden wurden als „wurzellose Kosmopoliten“ angegriffen sowie in einem widersprüchlichen Verlauf – Staaten des sowjetischen Einflußbereichs hatten ja (wie auch Jugoslawien) das neugegründete Israel gegen die arabischen Nachbarstaaten zunächst unterstützt – schließlich umstandslos mit (zu bekämpfenden) Zionisten gleichgesetzt.

Diese Vorgänge zeigen, in welchem Maße die antisemitische Ideologie auch in dem Staat verankert war, der damals das leuchtende Vorbild für die Mehrheit aller westeuropäischen Linken war. (Daß die Manifestationen dieses Antisemitismus allerdings nicht in der eliminatorischen Ungeheuerlichkeit großdeutscher Ausprägung gipfelten, steht dann wieder auf einem anderen Blatt.) Aber das ist es ja gerade: Es handelt sich im Falle des Antisemitismus von links heute doch nicht um eine vom Himmel gefallene Premiere. Vielmehr ist gerade auch in der Geschichte der Linken Antisemitismus immer wieder anzutreffen, was schon bei Leuten wie Proudhon und Bakunin seinen Lauf nimmt und nicht einmal vor jemandem mit jüdischem Hintergrund wie Karl Marx gänzlich Halt macht; übrigens auch nicht vor der Linken in der BRD vor der Vereinigung mit der DDR. Sich das bei der Beurteilung der aktuellen Situation vor Augen zu halten wäre ausgesprochen angebracht.

Da im Zuge des kurzschen Vergleichs erneut das Wort „Parteinahme“ gefallen ist, noch ein letzter Punkt: Auch im Falle einer klaren Positionierung gegen Weltordnungskriege in Somalia 1992, in Ex-Jugoslawien 1999, in Afghanistan 2001 und im Iraq 2003 konnte damit doch nie verbunden sein, nun für diese Staaten Partei zu ergreifen. Die alte Gesamt-„Krisis“ hat das ja damals aus guten Gründen auch nicht getan. Partei ergreife ich für meinen Teil nun gegen beide Lager, gegen (idealtypisch bezeichnet) das „antideutsche“ und das „antiimperialistische“, ebenso gegen das westliche aufklärungsfundamentalistische wie gegen das islamfundamentalistische. Wer das nun als unzulässige Äquidistanz brandmarken will und angesichts solcher Lager auf einem „Which side are you on?“ bestehen will, soll das tun; ich werde mich angesichts dieses Koordinatensystems jedenfalls nicht entsprechend „parteiergreifend“, sondern weiterhin in beide Richtungen ablehnend und kritisch verhalten. Die Suche nach dem kleineren Übel ist meine Sache nicht, und dabei ist es mir egal, ob das nun als „dritte Kraft“ oder als „dritte Position“ (die womöglich gar keine sei, wie es in einer Kapitelüberschrift von KmG heißt) rubriziert wird.

8. Plädoyer für eine selbstkritische kritische Theorie jenseits von Links und Rechts

Neben einer wieder zunehmenden eurozentrischen Perspektive sind linke und deutsche Nabelschau Hemmschuhe für eine Positionsbestimmung jenseits der maroden Gemäuer von Politik, Staat und Nation. Das gilt gerade auch für die Wertabspaltungskritik wie überhaupt für die (mehr oder minder) kritische Theorie, die eindeutig ein Produkt des Westens sind, wo deutliche Defizite bei der Betrachtung und analytischen Durchdringung der Realität der übrigen Welt zu verzeichnen sind. Die Klage darüber ist übrigens nicht neu; dieses Manko wurde beispielsweise, wenngleich in einem etwas anderen Zusammenhang, schon vor dreißig Jahren Leo Löwenthal gegenüber in einem „Mitmachen wollte ich nie“ betitelten Gespräch mit Helmut Dubiel von diesem auch schon konstatiert, was der letzte damals noch lebende Vertreter der Kritischen Theorie damals auch zumindest teilweise als deren Defizit einräumte.

Doch blieb und bleibt dieses Manko trotz einiger zeitweise vorhandener Ansätze gerade auch bei „Exit!“ bestehen; das Feld wird meist irgendwelchen eher paternalistisch agierenden und ebenfalls, nur mit anderer Akzentsetzung uneingestandermaßen ein westlich-bürgerliches Selbstverständnis mit sich herumtragenden „Dritte-Welt“-Gruppen, zumeist ganz konform westlich-kapitalistisch agierenden NGO‘s oder eben auch den schon erwähnten Restgruppen des neu aufgegossenen „Antiimperialismus“ überlassen. Mein Beitrag konnte da sicher nur sehr wenig verbessern, außer zumindest eine erste Annäherung zu vollziehen und damit den Finger in die Wunde zu legen. Daß diese „übrige Welt“ nicht einfach auf ominösen kulturellen Unterschieden gegenüber dem sogenannten Westen beruht, ist zunächst einmal nicht mehr als eine Binsenweisheit. Einer Darstellung, die der Fetischverfaßtheit (wie komplex auch immer, was den zeitlichen Verlauf, Ungleichzeitigkeiten, Mischformen und generell historisch bedingte, geographisch unterschiedliche Ausprägungen und Gewichtungen betrifft) bzw. den fetischisierten interpersonellen Beziehungen eine zentrale Bedeutung beimißt, stünde es gut an, nie aus dem Auge zu verlieren, daß die Realität eben nicht nur eine Totalität darstellt, sondern diese zugleich in sich mehrfach gebrochen ist; allein schon das Vermittlungsverhältnis zwischen Wert, Subjekt und Abspaltung ist für sich genommen ein ausgesprochen verschlungenes und teilweise in sich widersprüchliches.

So ist es auch nicht einfach, begrifflich inhaltliche Linien aufzunehmen, ohne das nicht in ihnen Aufgehende darüber zu vergessen oder allenfalls für eine „quantité négligeable“ zu halten. Wo etwa fängt Kulturelles an und hört Soziales auf? Hilft der Begriff „soziokulturell“ hier oder vernebelt er nur? Wann ist es gerechtfertigt und sinnvoll, von kulturalistischer Ideologie zu sprechen, und wann nicht? Wann können wir von einem Fetisch, von einem Fetischverhältnis „in Reinkultur“ sprechen und wann „nur“ von Ideologie (mit der Übergangsstufe „Sonderideologie“) vor dem Hintergrund eines in Gang gesetzten und wirkenden Fetischs (oder gar, in unterschiedlicher Gewichtung, mehrerer gleichzeitig wirkender)? Und wäre es nicht auch angebracht, das konstellative Denken Adornos, das Denken in Konstellationen für die Wert-Abspaltungskritik neu fruchtbar zu machen, wie es jüngst Roswitha Scholz in ihrem Aufsatz „Gesellschaftliche Form und konkrete Totalität“ bereits angeregt hat?

Das sind nicht etwa nur rhetorische Fragen. Im vorstehenden Text ist es sicher deutlich geworden: Ich hielte es in jedem Falle nicht für richtig, wenn alles, was sich dem Horizont der eigenen Theoriebildung entzieht bzw. widersetzt, von vornherein umstandslos in einen großen Topf mit der Aufschrift „kulturalistische Krisenideologie“ geworfen würde. So eine Einordnung ist im Grunde genommen nur und erst dann möglich und angebracht, wenn dem eine ausführliche Beschäftigung mit der Region, von der die Rede ist, vorausgegangen ist, im Zuge derer allen möglichen Wirkkräften und entsprechenden Vermittlungen nachgegangen wurde. Das gilt unter anderem auch für einen islamistischen Antisemitismus, wie ich oben zumindest in Umrissen und eher thesenhaft darzustellen versucht habe.

Theorie ist im Grunde genommen nur deshalb da und auch wichtig, weil eine das Bestehende überwindende Praxis nicht gelingen will, bislang nie gelang. Damit ist Theorie auch keine Praxis im engeren Sinne; das schönzureden ist nicht möglich, auch nicht mit integralen Paradoxformulierungen wie der von der „theoretischen Praxis“, wie es Althusser einmal formuliert hat und wie dieser Begriff jenseits seines (sich in letzter Konsequenz immer der staatssozialistischen, „sowjetischen“ Praxis unterordnenden) Urhebers in immer neuen Definitionen verwandt worden ist. Theorie kann zwar unter Umständen einer zukünftigen Praxis zuarbeiten, ihr den Weg bereiten, doch sie kann sie weder ersetzen – auch nicht partiell – noch herbeiformulieren oder herbeidefinieren.

Zu erwähnen bleibt an dieser Stelle trotz bzw. neben dringend notwendiger kritischer Distanz das Petitum einer theoretisch-kritischen Perspektive im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung (ohne damit auf die schon bestehende Definition auf dem Feld der Soziologie zurückgreifen zu wollen), die den Gegenstand ihrer Analyse und Kritik nicht zum Objekt macht, über das man beliebig verfügen zu können glaubt, da man ein für alle Mal bescheid wisse, weshalb man die einzelnen Personen, Personengruppen und Positionen mit strafendem Blick und zürnendem Gestus vor den allbekannten „Richterstuhl der Vernunft“ zitiert; das ist der dahinterstehenden Grundhaltung nach nur ein Wiederaufguß der (gar nicht) guten alten Aufklärung. Vielmehr wäre es anzustreben, daß Theorietreibende im Rahmen einer selbstkritischen kritischen Theorie ihre eigene Bedingtheit mitreflektieren, was dann auch durchaus schon einmal in Form von entsprechenden Formulierungen nach außen dringen darf.

Und um ganz zum Schluß noch einmal auf das zentrale Problem zurückzukommen, dem sich dieser Aufsatz hier in der Hauptsache verdankt: Es bleibt zu beobachten, wohin im weiteren bei „Exit!“, deren Positionen ich grundsätzlich weitgehend teile oder zumindest bislang geteilt habe, und bei deren Autor Robert Kurz die Reise geht. Es wäre aus meiner Sicht extrem bedauernswert, wenn der partielle Kurswechsel, den ich hier kritisch nachzuzeichnen versucht habe, sich verstetigen oder gar noch akzentuieren sollte.

Einen Anlaß zur Hoffnung, daß dem nicht so ist, stellt ein kürzlich auf der Homepage der Gruppe veröffentlichter Text von Daniel Späth (ehemals „Karl Abraham“) dar, der den Titel „Der europäische Rassismus“ trägt und in dem von „antideutschen Anfälligkeiten“ und eurozentrischer Perspektive nichts zu sehen ist; ein Eindruck, der allerdings schon wieder zu relativieren ist, wenn es um den jüngsten Text desselben Autors geht: „Die ‚Hilfsflotte‘ von Gaza und der prekäre Status des Staates Israel in den Reaktionen der deutschen Linken". Darin wird deutlich, daß viele der Reflexe, die ich hinsichtlich der beiden Publikationen von Kurz kritisch beleuchtet habe, in leicht modifizierter Form weiterhin bei „Exit!“ am Werke sind. Doch das im einzelnen auszuführen käme dem Verfassen eines neuen Textes gleich und soll an dieser Stelle unterbleiben.

Zitierte / verwendete Literatur:

Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik; Frankfurt / Main 1975 (zuerst 1966)

Bräker, Hans: Islam – Sozialismus – Kommunismus. Zur ideengeschichtlichen Grundlage der Sozialismus und Kommunismus-Diskussion innerhalb des Islams; Köln 1968

Dubiel, Helmut: Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel; Frankfurt 1980

Enderwitz, Ulrich: Konsum, Terror und Gesellschaftskritik; Münster 2005

Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung; Frankfurt / Main 1969 (zuerst 1944)

Kurz, Robert: Weltordnungskrieg; Bad Honnef 2003

Ders.: Die antideutsche Ideologie; Münster 2003

Ders.: Blutige Vernunft; Bad Honnef 2004

Ders.: Grau ist des Lebens goldner Baum und grün ist alle Theorie; in: EXIT! 4 / 2007, S. 15-106

Kurz, Robert: Die Kindermörder von Gaza. Eine Operation „Gegossenes Blei“ für empfindsame Herzen; in: EXIT! 6 / 2009, S. 185-242

Lohlker, Rüdiger: Islam. Eine Ideengeschichte; Wien 2008

Rodinson, Maxime: Die Araber; Frankfurt 1981

Tibi, Bassam Vom Gottesreich zum Nationalstaat: Islam und panarabischer Nationalismus; Frankfurt / Main 1987

Volkov, Shulamit: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert; München 1990

Zuckermann, Moshe: Zweierlei Israel?; Hamburg 2003


Internet:

Bruhn, Joachim (2003): Jede Kritik an Israel ist antisemitisch.

Claussen, Detlev (1987): Vom Judenhass zum Antisemitismus

Enderwitz, Ulrich (2009): Dem Zins gezinstes Lob

Esch, Reinhart Pablo (2007): Benedikts Eiertanz

Focus / AFP (2008): Mahmud Ahmadinedschad: Die Herrschaft der Diebe ist vorbei

Grigat, Stephan (2006): Befreite Gesellschaft und Israel

Kurz, Robert (2001): Mudschahidin des Wertes

Ders. (2002): Die Jubelperser der Weltpolizei

Ders.(2003): Geld und Antisemitismus

Ders. (Januar 2009): Der Krieg gegen die Juden, zuerst erschienen in der brasilianischen Zeitung „Folha de São Paulo

Osten-Sacken, Thomas von der (2009): Was nun bedeutet dieses?

Scholz, Roswitha (2001): Identitätslogik und Kapitalismuskritik

Naetar, Franz (2003): Welche politische Bedeutung hat der Antisemitismus heute?

Späth, Daniel (2010): Der europäische Rassismus

Ders. (2010): Die „Hilfsflotte“ von Gaza und der prekäre Status des Staates Israel in den Reaktionen der deutschen Linken

Trotzki, Leo (1937): Thermidor und Antisemitismus

 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.