Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

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Kultur [lat] - bedeutet Pflege und Vervollkommnung eines der Verbesserung und Veredelung fähigen Gegenstandes durch den Menschen, besonders seiner eigenen Lebenstätigkeit.

Das Wort «Kultur» leitet sich von dem lateinischen Wort «colere» her, d. h. pflegen, hegen, anbauen. Ursprünglich wurde es zur Bezeichnung des Zweckes der Bodenbearbeitung benutzt. Den Boden menschlichen Bedürfnissen dienstbar zu machen, hieß agricultura. Später wurde auch die Pflege, Ausbildung und Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten und Anlagen durch «Seelen-und Geistesbildung» mit dem Ausdruck «cultura» bezeichnet. Bei cicero finden wir erstmals diese Verwendung: «Cultura ... animi philosophia est...» In der weiteren Folge verschwand die Einengung auf «philosophia», und «culturaanimi» wird zur Bezeichnung der Geistesbildung durch Philosophie, Wissenschaft, Ethik und Kunst gebraucht.

 Im 17. und 18. Jahrhundert wird der Begriff «cultura» wesentlich erweitert und in ihm all das zusammengefaßt, was der Mensch sowohl der Umwelt als auch in seiner eigenen Entwicklung dem natürlichen Zustand hinzufügt und wodurch er zur Vervollkommnung seiner selbst gelangt. In diesem Sinne wird der Begriff «cultura» von pufkndorf (De iure naturae et genlium libri octo 1672), Adelung (Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts 1782) und herder verwendet und bildet eines der wesentlichen Elemente des bürgerlich-humanistischen KulturbegrifFs.

Je nachdem, worin die entscheidenden Faktoren für die Vervollkommnung des Menschen gesehen werden (in der Geistesbildung durch Philosophie, Wissenschaft, Künste usw. oder in der schöpferischen Umweltgestaltung und Rückwirkung dieses Prozesses auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Wesens des Menschen sowie dem Einfluß seiner Ideologie auf diesen Prozeß), umfaßt der Kulturbegriff engere oder weitere Gebiete der gesellschaftlichen und individuellen Lebenstätigkeit der Menschen einer ökonomischen Gesellschaftsformation.

Der Marxismus-Leninismus geht davon aus, daß der Charakter der Kultur einer jeden Gesellschaftsformation bestimmt wird durch die Art und Weise der Teilnahme der verschiedenen Klassen und Schichten an der Produktion, Verteilung und Aneignung geistiger Werte, was wiederum abhängig ist von der ökonomischen Basis und der sozialen Gliederung der Gesellschaft. Die Funktion und die Wirkung der weltanschaulich-ethischen und ästhetischen Werte hinsichtlich der Steuerung sozialen Verhaltens sind nicht a priori in der Persönlichkeit des Menschen gegeben, sondern von dem Kampf der Klassen um die Beherrschung der Produktionsweise materieller und geistiger Werte abhängig. So kommt es, daß jede ökonomische Gesellschaftsformation eine ihr entsprechende Kultur hervorbringt, diese zu ihrer Vollendung benötigt und die Kultur in der klassengespaltenen Gesellschaft Klassencharakter trägt.

In der marxistisch-leninistischen Philosophie wird die Kultur als eine Seite der gesellschaftlichen Lebenstätigkeit aufgefaßt, die zwar allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens immanent ist, ohne mit ihnen identisch zu sein. Die Entwicklung und allseitige Herausbildung des menschlichen Wesens im Ringen um die Beherrschung der Naturkräfte und ganz besonders des eigenen gesellschaftlichen Zusammenlebens wird als der eigentliche Inhalt aller Kulturentwicklung aufgefaßt. Daher drückt der Kulturbegriff des dialektischen und historischen Materialismus den Prozeß der Vervollkommnung des Menschen als eines durch seine schöpferische Tätigkeit gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen sowie den Entwicklungsgrad der praktischen, intellektuellen, moralischen und ästhetischen Fähigkeiten sowie Bedürfnisse der Menschen einer gegebenen Gesellschaftsformation aus.

Kultur ist demnach nicht einfach die Summe aller materiellen und geistigen Werte, die der Höherentwicklung des Menschen dienen, sondern das System einander wechselseitig beeinflussender Beziehungen, Prozesse und Verhaltensweisen. Ein solches System besteht in der Beziehung zwischen dem Entwicklungsgrad menschlichen Schöpfertums, dem Prozeß der Vervollkommnung des Menschen selbst, der ideologischen Widerspiegelung und Steuerung dieser Beziehung sowie der darin angesetzten Formung des geistigen Lebens sozialer Menschengruppcn (Klassen, Völker, Nationen) und der erreichten Stufe der Übereinstimmung menschlichen Tuns mit den Gesetzen der objektiven Realität.

Dieser objektiv existierende dialektische Systemzusammenhang macht das Spezifikum der Kultur aus. Nicht das eine oder andere Moment, sondern die Systemwirkung dieser Elemente, die sozial und weltanschaulich determinierte Gesamtwirkung dieser sich bedingenden und beeinflussenden Faktoren bildet die Kultur einer gegebenen Gesellschaftsordnung.

Der Inhalt der Kultur der sozialistischen Gesellschaftsordnung ist der reale Humanismus, der dem Wesen des Gesamtsystems des Sozialismus entspricht. Hierin liegt die Quelle des Kulturfortschritts im Sozialismus. Die Anwendung der menschlichen Schöpferkräfte mit dem sittlichen Streben nach Vervollkommnung des Menschen zu vereinen und diese Einheit als oberstes Prinzip des demokratischen gemeinschaftlichen Handelns zu realisieren, führt zur harmonischen Wechselbeziehung und gegenseitigen Durchdringung von technisch-ökonomischer und kulturell-sozialer Entwicklung, ist eine Gesetzmäßigkeit des Werdens der sozialistischen Menschengemeinschaft.

Editorische Anmerkung

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 629f
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