Im 17. und 18. Jahrhundert wird der Begriff «cultura»
wesentlich erweitert und in ihm all das zusammengefaßt, was der
Mensch sowohl der Umwelt als auch in seiner eigenen Entwicklung
dem natürlichen Zustand hinzufügt und wodurch er zur
Vervollkommnung seiner selbst gelangt. In diesem Sinne
wird der Begriff «cultura» von pufkndorf (De iure naturae et
genlium libri octo 1672), Adelung
(Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen
Geschlechts 1782) und herder verwendet und bildet eines der
wesentlichen Elemente des bürgerlich-humanistischen
KulturbegrifFs.
Je nachdem, worin die entscheidenden Faktoren für die
Vervollkommnung des Menschen gesehen werden (in der
Geistesbildung durch Philosophie, Wissenschaft, Künste usw. oder
in der schöpferischen Umweltgestaltung und Rückwirkung dieses
Prozesses auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Wesens des
Menschen sowie dem Einfluß seiner Ideologie auf diesen Prozeß),
umfaßt der Kulturbegriff engere oder weitere Gebiete der
gesellschaftlichen und individuellen Lebenstätigkeit der
Menschen einer ökonomischen Gesellschaftsformation.
Der Marxismus-Leninismus geht davon aus, daß der Charakter
der Kultur einer jeden Gesellschaftsformation bestimmt wird
durch die Art und Weise der Teilnahme der verschiedenen Klassen
und Schichten an der Produktion, Verteilung und Aneignung
geistiger Werte, was wiederum abhängig ist von der ökonomischen
Basis und der sozialen Gliederung der Gesellschaft. Die Funktion
und die Wirkung der weltanschaulich-ethischen und ästhetischen
Werte hinsichtlich der Steuerung sozialen Verhaltens sind nicht
a priori in der Persönlichkeit des Menschen gegeben, sondern von
dem Kampf der Klassen um die Beherrschung der Produktionsweise
materieller und geistiger Werte abhängig. So kommt es, daß jede
ökonomische Gesellschaftsformation eine ihr entsprechende Kultur
hervorbringt, diese zu ihrer Vollendung benötigt und die Kultur
in der klassengespaltenen Gesellschaft Klassencharakter trägt.
In der marxistisch-leninistischen Philosophie wird die Kultur
als eine Seite der gesellschaftlichen Lebenstätigkeit aufgefaßt,
die zwar allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens immanent
ist, ohne mit ihnen identisch zu sein. Die Entwicklung und
allseitige Herausbildung des menschlichen Wesens im Ringen um
die Beherrschung der Naturkräfte und ganz besonders des eigenen
gesellschaftlichen Zusammenlebens wird als der eigentliche
Inhalt aller Kulturentwicklung aufgefaßt. Daher drückt der
Kulturbegriff des dialektischen und historischen Materialismus
den Prozeß der Vervollkommnung des Menschen als eines durch
seine schöpferische Tätigkeit gesellschaftlichen, d. h.
menschlichen Menschen sowie den Entwicklungsgrad der
praktischen, intellektuellen, moralischen und ästhetischen
Fähigkeiten sowie Bedürfnisse der Menschen einer gegebenen
Gesellschaftsformation aus.
Kultur ist demnach nicht einfach die Summe aller materiellen
und geistigen Werte, die der Höherentwicklung des Menschen
dienen, sondern das System einander wechselseitig
beeinflussender Beziehungen, Prozesse und Verhaltensweisen. Ein
solches System besteht in der Beziehung zwischen dem
Entwicklungsgrad menschlichen Schöpfertums, dem Prozeß
der Vervollkommnung des Menschen selbst, der
ideologischen Widerspiegelung und Steuerung dieser Beziehung
sowie der darin angesetzten Formung des geistigen
Lebens sozialer Menschengruppcn (Klassen, Völker, Nationen) und
der erreichten Stufe der Übereinstimmung menschlichen
Tuns mit den Gesetzen der objektiven Realität.
Dieser objektiv existierende dialektische
Systemzusammenhang macht das Spezifikum der Kultur aus. Nicht
das eine oder andere Moment, sondern die Systemwirkung dieser Elemente,
die sozial und weltanschaulich determinierte
Gesamtwirkung dieser sich bedingenden und beeinflussenden
Faktoren bildet die Kultur einer gegebenen Gesellschaftsordnung.
Der Inhalt der Kultur der sozialistischen
Gesellschaftsordnung ist der reale Humanismus, der dem Wesen des
Gesamtsystems des Sozialismus entspricht. Hierin liegt die
Quelle des Kulturfortschritts im Sozialismus. Die Anwendung der
menschlichen Schöpferkräfte mit dem sittlichen Streben nach
Vervollkommnung des Menschen zu vereinen und diese Einheit als
oberstes Prinzip des demokratischen gemeinschaftlichen Handelns
zu realisieren, führt zur harmonischen Wechselbeziehung und
gegenseitigen Durchdringung von technisch-ökonomischer und
kulturell-sozialer Entwicklung, ist eine Gesetzmäßigkeit des
Werdens der sozialistischen Menschengemeinschaft.
Editorische Anmerkung
Der
Text wurde entnommen aus:
Buhr,
Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 629f
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