Arbeiterklasse/arbeitende Klasse in Deutschland
Überlegungen zur Marxschen Klassentheorie nach 160 Jahren Manifest

von Ekkehard Lieberam

10/09

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1. Klassenkonzept und politische Handlungstheorie

Die Klassentheorie von Marx und Engels ist im besonderen Maße Geschichtstheorie und Revolutionstheorie. Sie ist zugleich Strukturtheorie und – bezogen auf die kapitalistische Gesellschaft - Handlungstheorie progressiver Gesellschaftsveränderung. Sie versteht sich, insofern sie den Kampf zwischen Ausbeuterklassen und ausgebeuteten Klassen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt, als Theorie der geschichtlichen Triebkräfte und hinsichtlich der kapitalistischen Gesellschaft als analytisches Instrumentarium zur Bestimmung der Aufgaben im Kampf der Lohnarbeiter um soziale und politische Verbesserungen und um eine neue Gesellschaft. Sie wendet sich damit gegen das in der Mitte des 19. Jahrhunderts (aber auch heute) herrschende Verständnis von Staat und Politik als primäre Triebkräfte der Geschichte. Sie versteht den Staat demgegenüber als etwas Abgeleitetes, als politisches Hauptinstrument der herrschenden Klasse und als Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft bzw. Verdichtung der Klassenmachtverhältnisse.

Klassenanalyse hat zum einen die Aufgabe, die gesellschaftlichen Interessenfronten, besonders auch die Strukturierung der Ausbeutungsverhältnisse zu bestimmen. Sie muss dabei die Frage beantworten, welche sozialen Großgruppen von ihrer Lebens- und Leidenslage her, auf der Grundlage einer objektiven Interessenallianz, in einem deutlichen Gegensatz zum Kapital und dessen Staat stehen bzw. zunehmend geraten. Sie kann zum anderen zur Beantwortung der Frage beitragen, welche Bewussteinsprozesse besonders in den damit einhergehenden Klassenkämpfen ablaufen, um welche Probleme sich politische Auseinandersetzungen anbahnen und welche Gruppen der Lohnarbeiter auf welche Weise mit dem Kapital konfrontiert sind und über besondere politische Machtmittel in den Auseinandersetzungen mit dem Kapital verfügen. Klassenanalyse zielt so insbesondere darauf ab, aus der Art und Weise, wie sich die in der ökonomischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft verankerten Widersprüche (im Kern der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit) als Interessenwidersprüche entfalten und zuspitzen, die Möglichkeiten progressiver Gesellschaftsveränderung aufzuzeigen. Sozialistische Politik und Programmatik haben vor allem den Sinn, ausgehend von der Dialektik von gesellschaftlichen Interessenwidersprüchen und den sich real entwickelnden Klassenauseinandersetzungen eine taugliche politische Handlungsorientierung zur Formierung der Klasse der abhängig Arbeitenden von einer Klasse an sich zur Klasse für sich selbst zu entwickeln.

2. Die ökonomische Struktur: Ausgangspunkt, aber nicht Endpunkt

Die sehr komplexe Klassentheorie von Marx und Engels, ihre entsprechenden philosophischen und historischen Überlegungen, auch zeitbedingte Irrtümer, sind nur zu verstehen, wenn man sie im Zusammenhang mit der philosophischen Debatte der Junghegelianer ,den theoretischen und politischen Debatten unter Kommunisten und Chartisten in Berlin, Köln, Paris und London auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen nach der französischen Revolution und mit der Industriellen Revolution in England sieht.

Karl Marx schrieb 1852 in seinem Brief an Weydemeyer, dass ihm „nicht das Verdienst“ gebühre, „weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben.“ (MEW, Band 28, S. 507) Mit seinem Hinweis im gleichen Brief, dass bürgerliche Ökonomen schon vor ihm, „die ökonomische Anatomie derselben“ dargestellt haben, schmälert er allerdings seine eigene theoretische Leistung wie auch die von Friedrich Engels. Zusammen mit Engels untersuchte er bereits 1846 in der „Deutschen Ideologie“ die Herausbildung und den viele Jahrhunderte währenden Emanzipationskampf der Bourgeoisie im Zuge der fortschreitenden Arbeitsteilung, der Veränderung der Eigentumsverhältnisse, der Ausdehnung des Handels, der Stellung zu den Produktionsbedingungen usw. Zehn Jahre später, im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“, präzisiert er seine Grundposition, die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der Ökonomie“ zu suchen (MEW, Band 13, S. 8): „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die die Menschen bestimmt, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft.“ Diese strukturiert die Klassen- und Ausbeutungsverhältnisse. Die „ Stellung im Produktions- und Reproduktionsprozess“ ist dabei das entscheidende „klassenbildende Merkmal“, die „Basis der jeweils konkret empirische(n) Mannigfaltigkeit der Klassenwirklichkeit“ (Helmut Steiner, Sozialökonomik und Klassenanalyse, in: Was ist Geschichte?, Sonderdruck der Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Berlin 2008, S. 237.) Das ist der Ausgangspunkt von Marx und Engels, der Bezugspunkt, auf den sie immer wieder zurückkommen, aber natürlich nicht ihr „Endpunkt“ (Max Koch, Vom Strukturwandel einer Klassengesellschaft, Münster 1998, S. 16) Der Marxsche Klassenbegriff basiert auf einem differenzierten Verständnis der ökonomischen Struktur und des Reproduktionsprozesses als Produktionsprozess, Verteilungsprozess, Zirkulationsprozess und Konsumtionsprozess. Und er hat nach Marx und Engels sehr wohl eine bedeutsame soziale und politische Dimension.

Die These von den beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft - Bourgeoisie und Proletariat/Fabrikarbeiterklasse bzw. ausbeutende Kapitalisten und ausgebeutete Lohnarbeiter - entwickelt Marx aus der Sicht des Produktionsprozesses als Einheit von Arbeitsprozess und Kapitalverwertungsprozess und, sich daraus ergebend, aus der Sicht der verschiedenen Einkommensquellen: Profit und Preis der Ware Arbeitskraft. Er begreift die Klassen so als gesellschaftliche Großgruppen und als gesellschaftliches Verhältnis. „Die kapitalistische Produktion ist nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. Der Arbeiter produziert nicht für sich, sondern für das Kapital. Es genügt daher nicht länger, dass er überhaupt produziert. Er muß Mehrwert produzieren. Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient.“ (MEW, Band 23, S. 532). Innerhalb des Produktionsprozesses gilt bei fortschreitender betrieblicher Arbeitsteilung: „Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt, Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehen.“ (ebenda) Demgegenüber werden im Distributionsprozess und im Zirkulationsprozess kein Wert und kein Mehrwert geschaffen. Es geht um unproduktive Arbeit und Dienst, insofern auch um eine weitere Untergliederung der Lohnarbeiter in vor allem kommerzielle Lohnarbeiter und private bzw. öffentliche Dienstleister. Ihre Einkommensquelle ist, „die ganze Kapitalistenklasse betrachtet“, ein „Abzug vom Mehrwert oder Mehrprodukt“ (MEW, Band 24, S. 150). Auch für sie ist, mit Abstufungen, der Warencharakter ihrer Arbeitskraft charakteristisch.

3. Klasse an sich / für sich und die Schaffung einer neuen Gesellschaft

Michael Vester hat jüngst im Band 7/1 des Kritischen Wörterbuchs des Marxismus darauf aufmerksam gemacht, dass Karl Marx, die Erfahrungen der englischen Klassenkämpfe verallgemeinernd, bereits 1847 im „Elend der Philosophie“ ein „methodisch stringentes Konzept der Klassenentwicklung, das die empirische Entwicklung der englischen Gewerkschaftsbewegung nach einem praxeologischen Theoriekonzept auf den Begriff bringt“. „Es gibt einen tragfähigen Rahmen für eine Theorie der Klassenbildung ab, auch wenn Marx und Engels die künftigen Schritte der Entwicklung erst nach 1848 hinreichend konkret voraussehen und wissenschaftlich zu fassen vermochten.“ (S. 739 f.) Der mittlerweile allgemein übliche Begriff der „Klasse an sich“ findet sich allerdings weder bei Marx noch bei Engels.

„Die Großindustrie“, so schreibt Karl Marx, „bringt eine Menge unbekannter Leute an einem Ort zusammen. Die Konkurrenz spaltet sie in Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemeinsame Interesse gegenüber ihren Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes – Koalition. …Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nun in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf. … Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein.“ (MEW, Band 4, S. 180 f.)

Karl Marx entwickelt hier ein tragfähiges Konzept der Klassentheorie als dialektische Einheit von Strukturtheorie und Handlungstheorie. Nach Michael Vester unterscheidet er dabei sieben Dimensionen: drei Dimensionen der Klasse an sich (bzw. der Klasse gegenüber dem Kapital): Stellung als Lohnarbeiter, gemeinsame Lage, gemeinsame Interessen; zwei Dimensionen der Konstituierung und Organisation als Klasse für sich selbst: Koalierung im gewerkschaftlichen Kampf und dann im politischen Kampf; zwei Dimensionen der Revolution: Eroberung der politischen Macht und Gestaltung einer neuen Gesellschaft. (vgl. a. a. O., S. 743) Marx geht im Elend der Philosophie davon aus, dass als Voraussetzung für eine Revolution und für eine neue Gesellschaft die „erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können.“ (a. a. O., S. 181) Die „arbeitende Klasse“ ist deshalb revolutionäre Klasse, weil sie die „größte Produktivkraft“ ist und inwieweit sie Akteur des Kampfes um eine neue Gesellschaft ist.

4. Fabrikarbeiterklasse als Subjekt einer bevorstehenden Revolution

Die Sicht auf die Zuspitzung des Klassengegensatzes in England und die daraus abgeleitete Naherwartung einer Revolution samt politischer Machtergreifung der Arbeiterklasse bestimmte maßgeblich die Klassentheorie von Marx und Engels in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts und in verschiedener Hinsicht auch darüber hinaus. Ihr Begriff des Proletariats bzw. der Arbeiterklasse als Fabrikarbeiterklasse (als „eigenstes Produkt“ der „großen Industrie“ – MEW, Band 4, S. 472), ihr Konzept der politischen Klassenbildung wie auch ihre Gegenmachtkonzeption gingen „auf die spezifische historische Zuspitzung der Klassengegensätze im England der 1840er Jahre zurück, auf eine anhaltende Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen, sinkende Qualifikationsstandards, scheiternde Streik- und Wahlrechtsbewegungen, und die Erwartung einer diese Ohnmacht beendenden gewaltsamen Revolution.“ (Michael Vester, a. a. O., S. 737) England war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Werkstatt der Welt geworden, in „einem Weltmarkt von hauptsächlich oder ausschließlich ackerbauenden Ländern“. (F. Engels, Vorwort zur zweiten Ausgabe der „Lage der arbeitenden Klasse“ in England, MEW, Band 22, S. 317) Im Kampf um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, um Koalitionsfreiheit und soziale Verbesserungen und um das Wahlrecht war bereits eine gewerkschaftlich und politisch kämpfende Arbeiterklasse entstanden. Im Jahre 1831 arbeiteten in England 3 Millionen der 7,2 Millionen Erwerbstätigen in der Industrie, im Bergbau und im Bauwesen (1851 waren es 4,1 von 9,7 Millionen). 1834 kam es zu schweren Niederlagen und zur Deportation von so genannten Rädelsführern. 1840 entstand mit der National Charter Assoziation die erste Arbeiterpartei der Welt, mit fast 50.000 Mitgliedern und 282 Ortsgruppen. Nach jahrzehntelangen Kämpfen trat 1847 das erste allgemeine Gesetz über die Festlegung der Arbeitszeit, das Gesetz über den Zehnstundentag, in Kraft.

Friedrich Engels schrieb 1844: „Daher auch der tiefe Groll der ganzen Arbeiterklasse von Glasgow bis London gegen die Reichen, von denen sie systematisch ausgebeutet und dann gefühllos ihrem Schicksal überlassen wird – ein Groll, der über gar nicht so lange – man kann sie fast berechnen – in einer Revolution ausbrechen muß, gegen die die erste französische und das Jahr 1794 ein Kinderspiel sein wird.“ (MEW, Band 2, S. 252) Später hat Engels derartige „Prophezeiungen“ mit „jungendliche(r) Hitze“ erklärt. (MEW, Band 22, S. 321). Marx sprach Ende 1843/Anfang 1844 bezogen auf das Proletariat von „einer Klasse mit radikalen Ketten“, an der „kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin … verübt wird“. (MEW, Band 1, S. 390). Von da aus schloss er auf eine radikale Revolution. Engels wie Marx beachteten dabei sehr wohl, dass die Klassenbildung in Deutschland in keiner Weise das Niveau der englischen Verhältnisse hatte. In seiner „Skizze der wichtigsten Klassen“ im Jahre 1848 sprach Engels davon, dass sich in Deutschland – parallel zur Entwicklung der Bourgeoisie und deren politische Machtergreifung erst ein „starkes, konzentriertes und intelligentes Proletariat“ bilden wird. (MEW, Band 8, S. 7 ff.) Im Kommunistischen Manifest erklären sie im Namen des „Bundes der Kommunisten“, die Bourgeoisie werde zunächst ihre Herrschaft „herbeiführen“ und die „Kommunistische Partei“ werde, „sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei“ auftreten. (MEW, Band 4, S. 492 f.) Ihre Erwartung war die einer anhaltenden materiellen Elendslage des Proletariats und die einer fortschreitend besonders durch den Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise organisierten Arbeiterklasse: „Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.“ (ebenda. S. 473) Fast 20 Jahre später prognostizierte Karl Marx im ersten Band des Kapital ein Anwachsen der „Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung , aber auch der Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse.“ (MEW, Band 23, S. 790 f.) Dieser Tendenz wirkten dann in den Klassenauseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem zwei andere sich gegenseitig beeinflussende Tendenzen im Bereich des Politischen entgegen: der erfolgreiche Kampf der Arbeiterbewegung für soziale, rechtliche und politische Verbesserungen und das Interesse der Bourgeoisie, mittels sozialer Zugeständnisse die Arbeiterklasse politisch ruhig zu stellen.

5. Produktivkraftschübe und Gesellschaftswandel

Im Kommunistischen Manifest schreiben Marx und Engels, die Bourgeoisie könne „nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.“ (a. a. O., S. 465) Darin eingeschlossen waren die Voraussage einer fortschreitenden Arbeitsteilung in den kapitalistischen Betrieben, aber auch der Arbeitsteilung in der Gesellschaft, die sie als ein „beständig im Prozeß der Umwandlung befindlicher Organismus“ (MEW, Band 23, S. 16) charakterisierten. Es gab in der Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus deutliche Produktivkraftschübe – wie im Zusammenhang mit der verstärkten „Verwissenschaftlichung“ der Produktion zu Beginn und der wissenschaftlich-technischen Revolution seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts - , aber auch in Deutschland keine nachlassende Tendenz der Produktivkraftsteigerung, im Gegenteil. Nach Jürgen Kuczynski stieg die Produktivität in der Industrie von 1850 bis 1899 um durchschnittlich 19 Prozent, bis 1949 um 20 Prozent, zwischen 1950 und 1959 um 22 Prozent und danach bis 1989 um jeweils mehr als 30 Prozent. (Was wird aus unserer Welt?, Berlin 1997, S. 32) Diese Tendenz einer mehr als 30-prozentigen Produktivitätssteigerung in der Industrie pro Jahrzehnt hält ganz offensichtlich an. „Kapitalistische Unternehmen wuchsen quantitativ und qualitativ, die Arbeitsteilung innerhalb der kapitalistischen Unternehmen wurde immer weiter vorangetrieben, neue Industriezweige entstanden durch neue naturwissenschaftliche Entdeckungen oder durch Abspaltung von bereits vorhandenen. Der kapitalistische Weltmarkt erforderte ebenfalls neue Spezialisierungen und die Erschließung moderner Produktionsmöglichkeiten, so dass ein immer verzweigteres, hochempfindliches Geflecht von miteinander kooperierenden kapitalistischen Industrieländern, Wirtschaftsbereichen, Industriezweigen, einer Vielzahl voneinander mittelbar oder unmittelbar miteinander verbundenen Betriebe und verschiedenster Betriebsteile, paralleler wie aufeinander folgender Abteilungen und Einzeltätigkeiten entstand.“ (Helmut Steiner, Soziale Strukturveränderungen im modernen Kapitalismus, Berlin 1967, S. 57)

Deutschland entwickelte sich in den letzten 160 Jahren von einer bäuerlich geprägten Agrargesellschaft zu einer hoch industrialisierten Gesellschaft. Der Anteil der damals in der Landwirtschaft Beschäftigten an den Erwerbspersonen insgesamt betrug Mitte des 19. Jahrhundert über 50 Prozent und heute etwa 2 Prozent. Der Anteil der im produzierenden Gewerbe Beschäftigten lag damals bei 25 Prozent, erreichte 1970 fast 50 Prozent und liegt heute unter 30 Prozent. Im Bereich der Dienstleitungen aller Art waren damals etwa 20 Prozent beschäftigt, heute um die 70 Prozent.

In der Landwirtschaft kam es auch in der BRD erst nach dem 2. Weltkrieg, mit einer Verzögerung von fast 100 Jahren zu einem „Nachholen der Industriellen Revolution“ (Jürgen Kuczynski), zur Umwandlung der Betriebe in kapitalistische Betriebe. Der Anteil der ausländischen Mitbürger stieg con 1,2 Prozent im Jahre 1961 auf derzeit etwa 9 Prozent. Besonders mit der Ausprägung der wissenschaftlich-technischen Revolution als mikroelektronische Revolution veränderte sich die gesamte Arbeitswelt ganz erheblich. Typisch dafür waren qualitative Wandlungen der Berufsprofile und der Arbeitsweise in der Wirtschaft und der Staatsverwaltung, die Entwicklung neuer Wirtschafts- und Dienstleistungsbereiche, eine regelrechte Bildungsrevolution, die unter anderem darin zum Ausdruck kommt, dass die Zahl der Studierenden in der BRD von 100.000 im Jahre 1950 und 500.000 1970 auf fast 2 Millionen im Jahre 2004 gestiegen ist. Arbeitsteilung und Vergesellschaftung beschleunigten sich und waren in neuer Weise mit einer Durchkapitalisierung und einem Umbau der gesamten Gesellschaft verbunden, führten zur Entstehung bzw. zum Anwachsen solcher Wirtschaftszweige wie dem Medienbereich, dem Sicherheitssektor, der Werbeindustrie. „Längst ist das private Eigentum an Dienstleistungsmitteln umfangreicher als das an Produktionsmitteln.“ (Harry Nick, ND vom 22. 8. 08) Es kam, wie Ernest Mandel bereits vor fass 40 Jahren schrieb, zur Lostrennung ganzer Produktionsbereiche wie der Fleischverarbeitungsindustrie und der Konservenindustrie von der Landwirtschaft. An die Stelle des privaten Schneiders trat die Massenkonfektionsindustrie, an die Stelle der Köchin die Massenproduktion von Fertiggerichten in spezialisierten Betrieben der Nahrungsmittelindustrie. Reparatur-Großbetriebe ve3rdrängten tendenzielle den individuellen Klempner. Die Vermittlerfunktionen zwischen Produktion und Distribution, die Transport- und Verteilungsnetze wurden ausgebaut. Das Kapital drang massiv in die Zirkulationssphäre, in nicht produktive, nicht mehrwerterzeugende Gebiete ein. Die Zirkulationssphäre wurde ebenso industrialisiert wie die Produktionssphäre, „der Konsum ebenso wie die Erzeugung, die Freizeitgestaltung ebenso wie die Arbeitsorganisation. … Man beginnt, die ‚Rentabilität’ von Hochschulen, Musikakademien und Museen genauso zu berechnen, wie man vorher die Rentabilität von Ziegelwerken oder Schraubenproduktion kalkulierte.“ (Der Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1972, S. 353, Vgl. ebenda, S. 347 ff.) Die technischen und gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte, zunehmende Arbeitsteilung, Computerisierung, Verwissenschaftlichung, Rationalisierung, die Privatisierung von Staatsaufgaben veränderten die Arbeitsweise wie auch die Strukturen der staatlichen Institutionen.

6. Eine veränderte Arbeiterklasse als Kern der abhängig Ausgebeuteten

Erhebliche Strukturveränderungen vollzogen sich in der Industriearbeiterklasse selbst, als der mehrwerterzeugenden Klasse, und hinsichtlich der anderen abhängig Arbeitenden, die Marx in dem nach eineinhalb Seiten abgebrochenen 52. Kapitel des Kapital (MEW, Band 25, S. 892 f.) als „Eigentümer von bloßer Arbeitskraft“ bzw. als „Lohnarbeiter“ bezeichnete. Der analytische Befund von Karl Marx, dass es die beständige Tendenz und das Entwicklungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise ist, die Produktionsmittel mehr und mehr von der Arbeit zu scheiden und die zersplitterten Produktionsmittel mehr und mehr in große Gruppen zu konzentrieren, also die Arbeit in Lohnarbeit und die Produktionsmittel in Kapital zu verwandeln“ (ebenda, S. 892), erwies sich als zutreffend. Die Masse der Beschäftigten wurde von den Produktionsmitteln getrennt. Die Zahl der Lohnarbeiter bzw. der abhängig Beschäftigten wuchs an: 1882 – 61 Prozent, 1925 – 66,1 Prozent, 1971 (BRD) - 83,7 und 2006 88,7 Prozent (wobei allerdings die Herausbildung einer lohnabhängigen Mittelschicht unter den Lohnarbeitern und einer kleinen Gruppe der lohnabhängigen Bourgeoisie unberücksichtigt bleibt).

Rückläufig war der Anteil der produktiven Arbeiter an den Lohnarbeitern insgesamt. Betrug er 1882 etwa 90 Prozent, so lag er im Jahre 1985 bei 57 Prozent. Die Abgrenzung von Arbeiterklasse und anderen Lohnarbeitern war insofern auch in den letzten Lebensjahren von Friedrich Engels noch ein Randproblem, heute nicht mehr. Die absolute Zahl der produktiven Lohnarbeiter war und ist rückläufig. Erheblich verschoben hat sich der Anteil der Arbeiter, Angestellten und Beamten an den abhängig Beschäftigten. Lag der Anteil der Arbeiter 1895 noch bei 87 Prozent (Angestellte: 7,2 Prozent, Beamte 4,9 Prozent), so lag er im Jahre 2005 bei 33,6 Prozent (Angestellte: 59,5 und Beamte 6,9 Prozent). Ein Merkmal der letzten Jahrzehnte ist die außerordentliche Zunahme des arbeitslosen Teils der Lohnarbeiter, von 0,7 Prozent und 3,8 Prozent in der Alt-BRD in den Jahren 1970 und 1980 auf 13 Prozent im Jahre 2005.

In der Industriearbeiterklasse gab es weitere Veränderungen. Es findet zwar eine Schrumpfung der Arbeiterklasse statt, aber keine Auflösung, Die Arbeiterklasse von heute ist in wesentlichen Teilen eine hochqualifizierte Klasse. Bemerkenswert ist auch, dass der Anteil der prekär Beschäftigten und überhaupt der „Lazarusschicht der Arbeiterklasse“ erheblich anwächst. Bis zum Jahre 1907 war der Anteil der Arbeiter, die in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten arbeiteten, von 20 Prozent im Jahre 1882 und 29,7 Prozent im Jahre 1895 auf 37,3 Prozent gestiegen. Die Zahl der Arbeiter, die in Betrieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten arbeiteten, erhöhte sich in diesen Jahren von 213.000 (2,9 Prozent) auf 449.000 (4,4 Prozent) und 955.000 (6,7 Prozent). Trotz eines deutlichen Rückgangs der Zahl der Großbetriebe (1991: 930; 2001: 760) lag die Zahl der in diesen Betrieben Beschäftigten 2001 immer noch bei etwa 2,5 Millionen und ihr Anteil an den in der Industrie und im industriellen Handwerk Beschäftigten bei 12 Prozent. Grundlegend gewandelt hat sich die Arbeiterklasse als „größte Produktivkraft“. Es kam zu einem sich über viele Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erstreckenden „Prozeß der Verlagerung von geistiger Arbeit in den Bereich der Arbeiterklasse.“ (Andre Leisewitz, Klassen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M 1977, S. 59) Der Anteil der qualifizierten Arbeiter erhöhte sich. Eine größere Gruppe der anwachsenden wissenschaftlich-technischen Intelligenz (Chemiker, Physiker, Ingenieure), die mit dem Produktions- und Forschungsprozess verbunden ist, gehört heute objektiv zur Arbeiterklasse, ebenso wie die Mehrzahl der in der Produktion beschäftigten Angestellten.

Seit den fünfziger Jahren gibt es unter den Marxisten eine anhaltende Diskussion um den Begriff der Arbeiterklasse, um das Verhältnis der in der materiellen Produktion Beschäftigten Arbeiter zu den Angestellten, deren beider Verhältnis zu den kommerziellen Lohnarbeitern und anderen in der Distributions- und Zirkulationssphäre Beschäftigten, zur Stellung der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in der Produktion, zur Herausbildung von lohnabhängigen Mittelschichten im gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess, zur Arbeiterelite u. a. m. Neben der nach wie vor dominierenden Position, dass alle Lohnabhängigen, deren Warencharakter ihrer Arbeitskraft voll entwickelt ist, zur Arbeiterklasse gehören (Andre Leisewitz, a. a. O., S. 60), gab und gibt es andere Positionen. Der Begriff der Arbeiterklasse als Industriearbeiterklasse wurde mit der Gesamtheit der manuellen Arbeiter bzw. der Maschinenarbeiter gleichgesetzt. Es wurde von der Arbeitnehmerklasse (Arbeiter, Masse der Angestellten, kleinere Beamte) gesprochen.

Eine größere Verbreitung hat der Begriff der abhängig arbeitenden Klasse bzw. der arbeitenden Klasse gefunden, der alle im Produktions- und Reproduktionsprozess Ausgebeuteten umfasst. Für diesen letzten Begriff spricht m. E. sehr viel. Er berücksichtigt die erheblichen strukturellen Veränderungen und Differenzierungsprozesse innerhalb der „Eigentümer von bloßer Arbeitskraft“. Er hat nicht zuletzt den Zweck, wirklichkeitsnah und verständlich die heute der Bourgeoisie gegenüberstehenden Klasse der ausgebeuteten Beschäftigten zu kennzeichnen, „deren einzige Einkommensquelle die Veräußerung ihrer Arbeitskraft an die Inhaber der wirtschaftlichen Verfügungsgewalt bildet“ (Wolfgang Abendroth, Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie, Programmentwurf 1959), wobei deren Kern nach wie vor die veränderte Industriearbeiterklasse ist.

7. Klassenfronten und Bündnisfrage

Zusammen mit dem aufsteigenden und sich wandelnden Kapitalismus, einer „Kette von tiefgreifenden und immer neuen Revolutionen – Umwälzungen der Produktion, des Handels, des Verkehrs, des Alltagslebens“ (Eric Hobsbawn, in: Das Manifest – heute, Hamburg 1998, S. 32.) veränderten sich die Strukturierung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters, die Eigentumsverhältnisse, die Relationen zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit und die Klassenstrukturen. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit bleibt der „grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft“. (Programm der DKP, 8. April 2006). Klassenantagonismus und die Klassenfronten sind dabei in ständiger Bewegung, „als instabile, aber beständige, sich immer wieder erneuernde sozialstrukturelle Gliederung im Reproduktionsprozess“, wobei die soziale Strukturierung „mit einer neuen Qualität der Ungleichheit und zugleich einem höheren Grad der Differenzierung und Dynamik“ geschieht. (Helmut Steiner, Sozialökonomik und Klassenanalyse, in: Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften. Berlin 2008. S. 236 und 232)

Die Bourgeoisie, namentlich die Großindustriellen, hatte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Feudaladel zurückgedrängt und die politische Macht schrittweise in ihren Besitz gebracht. Seit mehr als 100 Jahren steht sie unter Führung der Finanzoligarchie, einer kleinen Schicht von Finanzgewaltigen und Konzernherren, die sich im Verlaufe der Konzentration und Zentralisation des Kapitals, einer immer „innigeren Beziehung zwischen Bankkapital und industriellen Kapital“ herausgebildet hatte. (Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, Berlin 1947, S. VIII.). Heute ist sie eine in sich selbst hierarchisch gegliederte Klasse, deren aus einigen tausend Mitgliedern bestehende Spitze zusammen mit den Führungsspitzen des Staates und der mit diesem verflochtenen Parteien die Machtelite der Bundesrepublik stellt. Größere und mittlere Kapitalisten machten im Jahre 2001 etwa 0,5 Prozent der Erwerbstätigen aus. Für die Alt-BRD der siebziger und achtziger Jahre wird die Zahl der Arbeitgeber mit 700.000 bis 750.000 angegeben. 1978 setzte sich die etwa 920.000 Personen umfassende Kapitalistenklasse (etwa 3,5 Prozent der Erwerbspersonen) aus 650.000 „fungierenden Kapitalisten“, 120.000 Gehalt empfangenden Managern sowie 150.000 „nichterwerbstätige Kapitaleignern“ zusammen. (vgl. Max Koch, a. a. O., S. 44)

Grundlegend verändert haben sich die Mittelschichten, d. h. die sozialen Schichten mit einer Sowohl-als-auch-Stellung zwischen Kapital und Arbeit. Der Anteil der gewerblichen Mittelschichten bzw. des Kleinbürgertums ging von 34 Prozent im Jahre 1907 auf 8,3 Prozent im Jahre 1985 zurück. Wal Buchenberg berechnete für das Jahr 2004 den Anteil der der „selbst arbeitenden Eigentümer“ mit 7 Prozent. (www.kommunistische-Debatte.de/klassen) Nahezu vollständig verschwand die Klasse der werktätigen Bauern. Ein großer Teil der Kleinbetriebe war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts zu Hilfsbetrieben von Großbetrieben geworden. Diese Tendenz setzte sich fort. Neue Kleinunternehmen bildeten sich vor allem im Bereich vielgestaltiger Dienstleistungen im Reparaturbereich, im Bereiche der juristischen, steuerlichen, ökonomischen und technischen Beratung von Betrieben, Organisationen und Bürgern neu. Umstritten ist nach wie vor der Begriff der lohnabhängigen Mittelschichten bzw. Mittelklassen. Zum einen wurde diesem Begriff, im Rahmen des Projekts Klassenanalyse des IMFS, im Wesentlichen der Sinn gegeben, den bei Marx der Begriff der „zahlreichen Klasse der industriellen und kommerziellen Dirigenten“ (MEW, Band 25, S. 402) bzw. der Begriff der „sich in stets größerem Umfang, größtenteils von der Revenue direkt fed (ernährenden – E. L.) Mittelklassen“ hat. (MEW, Band 26. 2, S. 576) Bezeichnet wird damit das Aufsichts-, Leitungs- und Spezialistenpersonals unterhalb der Ebene des kapitalistischen Managements in der kapitalistischen Wirtschaft und im Staat. „Ihrer konkreten Arbeitsfunktion entspringt ein Gegensatz zu den Lohnarbeitern der materiellen Produktion, während sie gleichzeitig mit ihnen durch ihre Interessen als Lohnabhängige, und damit ebenfalls Ausgebeutete, verbunden sind. (Andre Leisewitz, a. a. O., S. 56 f.) Grundlage für die Charakterisierung des Leitungspersonals als „Klasse“ bei Marx ist deren zwiespältige Funktion im Produktionsprozess als Einheit von Arbeitsprozess und Kapitalverwertungsprozess und deren Entlohnung in Form eines „Verwaltungslohns“. Für das Jahr 1970 gab Andre Leisewitz für die Alt-BRD die Größe der lohnabhängigen Mittelschichten mit 1.048.000 Erwerbstätigen und 3,9 Prozent der Erwerbspersonen an (1961: 4,4 Prozent), wobei 79,8 Prozent auf die kapitalistische Wirtschaft und 20,2 Prozent auf den Staat entfallen. (a. a. O., S. 173)

Das Berliner Projekt Klassenanalyse kannte eine derartige Interpretation des Begriffs der lohnabhängigen Mittelschichten nicht. Zu den Mittelschichten bzw. zur „lohnabhängigen Mittelklasse“ wurden große Teile der Staatsbeschäftigten und der Beschäftigten in gesellschaftlichen Organisationen gezählt, bezogen auf das Jahr 1985 immerhin 23,9 Prozent der Erwerbspersonen. (Vgl. Max Koch, a. a. O., S. 45)

Nicht überzeugend ist die Aussage zu den derzeitigen Klassenfronten zwischen Kapital und Arbeit im DKP-Programm von 2006: „Auf der einen Seite steht eine kleine Gruppe von Konzernherren, Bankchefs und Multimillionären. Auf der anderen Seite steht die überwältigende Mehrheit der Arbeiter, Angestellten und Beamten, der in der Landwirtschaft Beschäftigten, der Intelligenz, der Freiberufler und auch kleinere und mittlere Unternehmer, die alle der ökonomischen und politischen Herrschaft des Monopolkapitals unterworfen sind.“ (a. a. O., S. 33) In den realen Klassenauseinandersetzungen der letzten 100 Jahre zumindest war eine derartige Konstellation nicht erkennbar. Tatsächlich ist der „herrschende Block“ offenbar größer als diese kleine Gruppe. Die Bourgeoisie ist immer noch die ökonomisch herrschende Klasse. Zu unterscheiden ist überdies zwischen der gegebenen Herrschaftsstruktur und den sehr vielschichtigen Klassen-, Interessen- und Machtstrukturen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft. Zur vielschichtigen Klassenstruktur gehören eben auch jene sozialen Schichten, die objektiv eine Zwischenstellung zwischen Kapital und Arbeit einnehmen. Die Klassenfronten verlaufen zwischen der Masse der ausgebeuteten Beschäftigten mit ihrem Kern, der Industriearbeiterklasse, und der Bourgeoisie. Die herrschende Klasse ist bemüht, die Mittelschichten (aber auch Teile der arbeitenden Klasse) politisch auf ihre Seite zu bringen. Anliegen der arbeitenden Klasse muss es sein, die Mittelschichten als Bündnispartner zu gewinnen.

8. Das Auf und Ab der politischen Klassenbildung

Die Erfahrungen von gut eineinhalb Jahrhunderten der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sind vielgestaltig. Eine bloße Stufenfolge von Eigentumslosigkeit, Verelendung, Empörung, Gegenmachtbildung, politischer Machteroberung und gesellschaftlicher Umgestaltung, wie sie Friedrich Engels noch 1845 vermutete (so Michael Vester, a. a. O., S. 747), gab es nicht. Aber es sind durchaus Grundzüge politischer Klassenbildung erkennbar, auch Zusammenhänge zwischen sozialer Polarisierung und politischem Protest. Ohne Phasen der Aufklärung über gesellschaftliche Zusammenhänge und längere Klassenauseinandersetzungen gab es keine Fortschritte bei der politischen Klassenbildung. Spontane Erbitterung und Aktionen blieben weitgehend folgenlos, wenn sie sich nicht zu organisierter politisch-geistiger Gegenmacht verdichteten. Gewerkschaftliche und politische Organisationsformen der Arbeiterbewegung entwickelten ein eigenständiges Leben und eigenständige Interessen, auch die Tendenz zu Anpassung und Integration an bzw. in die bürgerliche Gesellschaft. Und es zeigte sich, dass auch die dem Kapital ergebenen Parteien im größeren Umfang Massen der Lohnarbeiter und der Mittelschichten organisieren können. Es gab Phasen einer engen Verbindung von Arbeiterbewegung und Marxismus und die Erfahrung, dass im Falle einer deutlichen Verschärfung der Widersprüche des Kapitalismus das Interesse an der marxistischen Theorie und der Schaffung einer neuen Gesellschaft sich immer wieder deutlich verstärkte. Die Geschichte der letzten 160 Jahre hat auch gezeigt: „Ohne die Arbeiterklasse bleibt der Sozialismus eine interessante Theorie. Ohne den Sozialismus erlangt die Arbeiterklasse kein eigenständiges gesellschaftspolitisches Gewicht.“ (Heinz Jung, Klassen und Geschichte, in: Z., Nr. 28, S. 21)

Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung macht „die Widersprüchlichkeit und den zyklischen Charakter sozialer Entwicklungen und Kämpfe, in denen Aufschwünge und Abschwünge einander ablösen“, deutlich (Michael Vester, a. a. O. S. 747). Der Erfolgsstory der SPD im deutschen Kaiserreich folgte 1914 die Zustimmung der großen Mehrheit der SPD-Führer zur Vaterlandsverteidigung im 1. Weltkrieg. Aber dieser Zusammenbruch war vorübergehend und keineswegs total. Viereinhalb Jahre später spielte die Arbeiterklasse eine maßgebliche Rolle in der Novemberrevolution, prägte ganz wesentlich den Charakter der Weimarer Verfassung. Teile der Arbeiterklasse nahmen, wenn auch vergeblich, auf Reichsebene und in verschiedenen Landesteilen (Berlin, Bayern, Bremen, Braunschweig, Mitteldeutschland, Ruhrgebiet) den Kampf um die politische Macht auf, kämpften erfolgreich für eine fortschrittliche Arbeits- und Sozialgesetzgebung. In der Weimarer Republik entstanden starke Strukturen einer Gegenmacht gegen das Kapital, die aber infolge einer tiefen politischen und organisatorischen Spaltung der Arbeiterbewegung nicht in der Lage waren, die Zerschlagung der gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Arbeiterbewegung (der reformistischen wie der revolutionären Organisationen) mit der Errichtung der nazifaschistischen Diktatur zu verhindern, zumal ein nicht geringer Teil der Klasse in ihrer Verzweiflung und Perspektivlosigkeit zu den Nazis überging.

Dem Neubeginn nach der Zerschlagung des Nazifaschismus von außen durch die Antihitlerkoalition folgte nach 1945 eine sehr unterschiedliche Entwicklung in den Westzonen und in der sowjetischen Besatzungszone. Dabei war zunächst für ganz Deutschland (mit allerdings erheblichen Unterschieden) bis 1948 ein Aufschwung der Arbeiterbewegung und ein beachtliches eigenständiges politisches Gewicht der Arbeiterklasse charakteristisch. In der sowjetischen Besatzungszone ging die aus der Vereinigung der Arbeiterparteien KPD und SPD im April 1946 hervorgegangene SED den Weg der Übernahme der politischen Macht und der Gestaltung einer neuen Gesellschaft unter außerordentlich schwierigen Bedingungen. Am 7. Oktober 1949 erfolgte die Gründung der DDR, 41 Jahre Bestand hatte Die Westzonen konstituierten sich bereits vorher, am 23. September 1949 als Bundesrepublik Deutschland. Unter den Bedingungen des Systemwettbewerbs und des kalten Krieges gab es in der BRD einen Zerfall der zunächst nach 1945 erreichten Fortschritte bei der Entwicklung der Arbeiterklasse zu einer Klasse für sich selbst und zugleich eine politisch-soziale Entwicklung in Richtung eines Klassenkompromisses zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse unter den Bedingungen der Herrschaft des Monopolkapitals. Die SPD bejahte 1959 in ihrem Godesberger Programm die kapitalistische Marktwirtschaft. Die KPD wurde 1956 verboten und strafrechtlich verfolgt. Die 1968 sich neu konstituierende Deutsche Kommunistische Partei spielte politisch eine bescheidene Rolle. Eine Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen das Kapital und dessen Politik fand nur punktuell statt. Nur hin und wieder, in den Streikaktionen für die Mitbestimmung Anfang der fünfziger Jahre, in der Bewegung gegen die Notstandsgesetze Anfang der sechziger Jahre, 1968 im Bündnis von Teilen der Intelligenz mit jungen Arbeitern, betraten Teile der Arbeiterklasse selbst die politische Bühne.

9. Die DDR als Erfahrungsobjekt einer neuen Gesellschaft

Von den Regierenden der Bundesrepublik wird die Geschichte der DDR auf Kriminalgeschichte reduziert. Sozialisten und Kommunisten sollten sie, im Interesse der Zukunft der Bewegung, in ihrer ganzen Differenziertheit und gerade auch als Erfahrungsobjekt sozialistischer Gesellschaftsgestaltung studieren. Ihre Geschichte bereicherte ganz wesentlich das Wissen um die komplizierten Probleme, mit denen die Arbeiterklasse bei der Schaffung einer neuen Gesellschaft konfrontiert ist, auch das Wissen um die Art und Weise, wie eine Reihe dieser Probleme zu lösen sind und andere Probleme offensichtlich nicht gelöst werden können.

Im Osten Deutschlands, in der sowjetischen Besatzungszone, hatte sich nach 1945 die reale Möglichkeit ergeben, den seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts geführten Kampf der deutschen Arbeiterklasse als Kampf um die politische Macht und um die Gestaltung einer neuen Gesellschaft fortzusetzen. Die KPD und führende Sozialdemokraten nahmen diese Chance war. Dafür waren insofern Voraussetzungen gegeben als die Sowjetunion, jener Teil der Menschheit, der 1917 den Ausbruch aus dem kapitalistischen Weltsystem gewagt hatte, in Ostdeutschland die Macht inne hatte und gewillt war, sie gegen die Nazi- und Kriegsverbrecher und das Großkapitals einzusetzen. Der Kapitalismus war enorm geschwächt und befand sich in einer tiefgreifenden Legitimationskrise. Mit der Vereinigung der Arbeiterparteien SPD und KPD war im April 1946 eine Massenpartei von 1,8 Millionen Mitgliedern entstanden, offen zunächst für alle politischen Richtungen der Deutschen Arbeiterbewegung, einschließlich SAP, KPO, Leninbund usw. Im Zusammenhang mit der Bodenreform und der Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher war es 1945/46 gelungen, eine breite, von der Arbeiterklasse getragene Bewegung für grundlegende demokratische Reformen zu entwickeln. Die Sowjetunion war als Besatzungsmacht „der große Bruder“ und Klassenverbündeter beim Aufbau einer von der Arbeiterklasse getragenen Staatsmacht von unten, bei der Schaffung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Sie war aber auch Zuchtmeister mit politischer Richtlinienkompetenz, der mit der vollen Entfaltung des kalten Krieges, ab 1948, auf eine Politik der harten Hand gegen tatsächliche und angebliche Abweichler setzte und wesentliche Strukturen des in der UdSSSR unter Stalin entstandenen politischen Systems der DDR aufzwang. Ein wesentliches Merkmal dieser Strukturen war eine weitgehende Mediatisierung der Arbeiterklasse durch ein bürokratisch-administratives System (gemildert durch das Eingabensystem, gesellschaftliche Formen der Rechtspflege, demokratische Formen an der Basis, genossenschaftliche Strukturen im Handwerk und in der Landwirtschaft). Ein generelles Problem war der Rückstand der Produktivkraftentwicklung, die objektive Unreife des Niveaus der Produktivkräfte für die Schaffung einer neuen Gesellschaft, eine „(relative) Armut der Gesellschaft, unter der die Bedürfnisse der Individuen restriktiv behandelt werden müssen.“ (Heinz Jung, a. a. O., S. 16) Für die gesamte Geschichte der DDR, auch in ihrer Endphase, galt die „führende Rolle“ der KPdSU. Vor allem unter Nikita Sergejewitsch Chruschtschow gab es zwischen 1956 und 1964 eine Phase größerer politischer Eigenständigkeit für die DDR, die – dann zunehmend abgeschwächt – bis 1970 andauerte. Unter Walter Ulbricht wurde sie genutzt für eine auch heute noch beachtenswerte Politik der Überwindung der Unreife dieses Frühsozialismus, des Suchens nach tauglichen ökonomischen Mechanismen für die sich entwickelnde neue Gesellschaft im Systemwettbewerb und nach Formen einer schrittweisen Demokratisierung. Das bereits 1963 in den Grundzügen konzipierte „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL/NÖS) beinhaltete ein Verständnis des Sozialismus als lange andauernde, selbständige Gesellschaftsordnung und des sozialistischen Betriebes als Kollektiv von Werktätigen und als Wirtschaftseinheit (Betrieb, Kombinat), „die im ökonomischen System des Sozialismus im Rahmen und zur Verwirklichung der volkswirtschaftlichen Gesamtstrategie eigenverantwortlich ihre Geschäftstätigkeit als sozialistische Warenproduzenten ausarbeitet und realisiert und die Mittel der erweiterten Reproduktion selbst erwirtschaftet.“ (Uwe-Jens Heuer, Artikel 41, in: Verfassung der DDR, Dokumente, Kommentar, Band 2, Berlin 1969, S. 185) In den sechziger Jahren gab es eine positive Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR und erfolgversprechende Großversuche mit dem NÖS. Unter Erich Honecker folgte die Wirtschaftspolitik der DDR wieder der der Sowjetunion. Die DDR wie die gesamte sozialistische Staatengemeinschaft fiel im ökonomischen Wettbewerb zurück. Mit dem sich daraus ergebenden Zusammenbruch der Sowjetunion entfielen auch die Grundlagen für die Existenz der DDR.

Der Versuch der Gestaltung einer neuen Gesellschaft in der DDR war verbunden mit beachtenswerten Ergebnissen gesellschaftlicher Zukunftsbewältigung in einer nicht vom Profitprinzip bestimmten Gesellschaft hinsichtlich solcher Bereiche wie des Bildungssystems, des Gesundheitswesens und der Kultur. Die Ergebnisse der Großexperimente zur Erprobung des NÖS in den sechziger Jahren bedürfen ebenso der Verallgemeinerung wie die positiven Erfahrungen mit dem genossenschaftlichen Eigentum oder den negativen Erfahrungen mit einem politischen System, das kaum fähig war, zwischen kritischen Bürgern und wirklichen Gegnern zu unterscheiden und „Demokratie von unten“ nicht als Bedrohung, sondern als Wesenselement sozialistischer Demokratie zu nutzen. Die Erfahrungen der DDR und der anderen Staaten des Realsozialismus machten deutlich, dass die politische Machtergreifung zwar eine Ende der kapitalistischen Klassengesellschaft, aber zumindest mittelfristig kein Ende der Klassengesellschaft überhaupt zur Folge hat. Die in der DDR übliche Kennzeichnung der Gesellschaft als eine solche von „befreundeten Klassen und Schichten“ (der Arbeiterklasse, der Klasse der Genossenschaftsbauern, der Schicht der Intelligenz, der Gruppe der kleinen Gewerbetreibenden) war der Versuch einer Verallgemeinerung dieser Erkenntnis. Sie bedarf nicht nur der Präzisierung, sondern unbedingt insofern der Ergänzung, da hier die enorme Bedeutung des wirtschaftlichen und politischen Leitungspersonals (als Klasse oder Schicht) für die Klassengesellschaft des Realsozialismus und deren Staat ausgeklammert wird.

10. Die „zwei feindlichen Lager“ und der sozialstaatliche Klassenkompromiss

Weder die skizzierten Entwicklungen der Klassenstruktur noch die politische Wirklichkeit der Klassengesellschaft in Westdeutschland/Deutschland nach 1945 entsprach der von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest vermuteten fortschreitenden Spaltung der „ganze(n) Gesellschaft … in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ (a. a. O., S. 463) Der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit löste sich keineswegs in einer Mittelstandsgesellschaft auf, aber die Fortexistenz der gewerblichen wie das Anwachsen einer lohnabhängigen Mittelschicht waren wichtige Merkmale dieser Gesellschaft. Von außerordentlicher Bedeutung war zudem eine ideologische und politische Integration großer Teile der abhängig arbeitenden Klasse in die bestehende Gesellschaft. Grundlage dafür war sowohl ein prosperierender Kapitalismus (mit einigen konjunkturellen Dellen) und die Massenproduktion von Konsumgütern als auch ein asymmetrischer sozialstaatlicher Klassenkompromiss zwischen Bourgeoisie und arbeitender Klasse und ein Konsens der Führungen der etablierten Parteien, dass ein solcher Kompromiss notwendig sei. Nicht zuletzt unter dem Druck der Systemkonkurrenz mit dem Realsozialismus war die herrschende Klasse zu erheblichen realen Lohnerhöhungen sowie sozialen und arbeitsrechtlichen Kompromissen bereit. Die sozialen und politischen Verbesserungen wurden im Wesentlichen ohne größere Kampfaktionen gewährt. Gewerkschaftlicher und politischer Klassenkampf spielte sich vor allem in den Grenzen des gesetzlich Erlaubten ab. Bei Lohnverhandlungen z. B. war die DDR immer als dritter Tarifpartner dabei. Gegen diejenigen, die die Systemfrage stellten, wurde von den bürgerlichen Medien die öffentliche Meinung mobilisiert bzw. Berufsverbote angedroht oder verhängt. Die parlamentarische Demokratie entwickelte sich in neuer Qualität zu einer Konvention der Klassenzusammenarbeit, die die Herrschaft des Kapitals gerade dadurch festigte, das sie den abhängig Arbeitenden gewisse Möglichkeiten bot, ihre Interessen nicht nur zu artikulieren, sondern auch partiell zur Geltung zu bringen.

Seit Mitte der siebziger Jahre, angesichts zunehmender Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals und mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz auch auf deutschem Boden bekamen es die abhängig Arbeitenden mit einer anderen Gangart des Kapitalismus zu tun. Im Rahmen eines entfesselten Kapitalismus ging das Kapital zur Offensive, zu einer Art Gegenreformation über, kam es zur sukzessiven Demontage des sozialstaatlichen Gebäudes. An die Stelle von Reallohnerhöhungen traten für die Masse der abhängig Beschäftigten reale Lohnkürzungen. Der Klassengegensatz trat wieder deutlicher in Erscheinung. Im Falle von Widerstand gegen Sozialkürzungen, verlangsamten die Regierungen das Tempo des Sozialabbaus, um im Falle des Nachlassens von Widerstand, dieses Tempo wieder zu verschärfen. Zum einen gehört ein Mindestniveau des sozialstaatlichen Klassenkompromisses (wenn auch immer wieder bedroht und umkämpft) augenscheinlich zur Existenzweise der kapitalistischen Klassengesellschaft im 21. Jahrhundert (zumindest unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie). Zum anderen kann die arbeitende Klasse offenbar die sozialen Leistungen nicht verteidigen und grundlegende Verbesserungen nicht erkämpfen, ohne den gewerkschaftlichen wie den politischen Kampf entschieden zu verstärken.

11. Klassenmachtverhältnisse und sozialistische Politik

Politik als Kampf um die Durchsetzung von unterschiedlichen und entgegen gesetzten Klasseninteressen ist in der kapitalistischen Klassengesellschaft kontrovers. Sie ist zudem keine autonome Sphäre und deshalb auch keines Willensfrage. Das in der Partei Die Linke (PDL) sehr einflussreiche Konzept einer sozialistischen „gestaltenden“ Politik auch mittels Regierungsbeteiligung wird unweigerlich illusionär und in Schwierigkeiten kommen, da es die durch die derzeitigen kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse gegebenen Grenzen verkennt. Es negiert vor allem, dass diese Grenzen nur im Klassenkampf verschoben werden können. Progressive Reformen gegen Kapitalinteressen sind nur im Falle günstiger Klassenmachtverhältnisse für die arbeitende Klasse möglich. Diese sind derzeit nicht gegeben.

Die arbeitende Klasse in der Bundesrepublik (und in den meisten anderen kapitalistischen Industriestaaten) ist mit einer „stabile(n) hegemoniale(n) Herrschaftskonstellation“ zu Gunsten des Kapitals“ konfrontiert. (Frank Deppe, Widerstand, soziale Bewegungen und Gewerkschaften in Kapitalismus der Gegenwart, in: Z. Nr. 61, S. 10) Anders formuliert: Das Kapital sitzt politisch recht fest im Sattel; das Subjekt zukünftiger Gesellschaftsveränderung, die arbeitende Klasse, ist politisch schwach und setzt der Kapitaloffensive infolge dieser gewerkschaftlichen, geistig-kulturellen und politisch-organisatorischen Schwäche nur geringen Widerstand entgegen. Nach wie vor befindet sie sich in einer „historischen Defensivposition, in der die Infragestellung des kapitalistischen Systems nur partiell eine Rolle spielt und nicht hegemonial ist.“ (Heinz Jung, a. a. O., S. 19) Die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften gehen zurück. Die Gegenwehr mittels Streiks und Massendemonstrationen ist bisher nicht stark genug, um die Klassenmachtverhältnisse zu verändern. Eine Verbindung von arbeitender Klasse und Marxismus ist gering; eine marxistische Partei mit Masseneinfluss ist nicht vorhanden. Die Stärkung der PDL gerade auch in Westdeutschland bei Wahlen ist beachtlich. Ihr programmatisches Bekenntnis ist eindeutig im Rahmen des Verständnisses von Demokratie als Vertreterdemokratie: „Wir gehen von den Interessen abhängig Arbeitender in Deutschland und im europäischen Maßstab aus.“ (Programmatische Eckpunkte, in: Gründungsdokumente der Partei DIE LINKE, S. 8) Ihre Politik dagegen ist zwiespältig, entspricht weitgehend dieser programmatischen Aussage, soweit sie sich in Opposition befindet, bedient aber wie im Land Berlin als Regierungspartei konträr dazu Kapitalinteressen. Ihr politisches Schicksal in zukünftigen Klassenauseinandersetzungen ist somit sehr ungewiss. Die PDL, die als Ausdruck des Kampfes der abhängig Arbeitenden für ihre Interessen entstanden ist, steht unweigerlich unter dem Einfluss dieses Kampfes. Nicht zu übersehen ist aber auch, dass sich in ihr (wie zuvor in der SPD und bei den Grünen) eine Sozialschicht von Parlamentariern, Parlamentsmitarbeitern, Parteiangestellten und politischen Beamten herausbildet, deren Interessen sich von denen der Lohnarbeiter und Arbeitslosen unterscheiden, die weniger für die Interessen abhängig Arbeitender leben als mehr von dem im heutigen Kapitalismus sehr einträglichen Geschäft mit der Politik.

12. Die reale Klasse ist die mobilisierte Klasse

Ziel sozialistischer Politik, will sie denn Erfolg haben, muss es sein, dass die abhängig arbeitende Klasse im Kampf für ihre Interessen selbst die politische Bühne betritt. Einen anderen Weg, um die Klassenmachtverhältnisse und damit die Voraussetzungen für politische Erfolge zu verbessern, gibt es nicht. Die von Karl Marx skizzierten Wege und Stadien des Klassenkampfes und der politischen Klassenbildung im Kapitalismus („Klasse gegenüber dem Kapital“: Lohnarbeiter, gemeinsame Situation, Schaffung gemeinsamer Interessen, „Klasse für sich selbst“: Koalierung, gewerkschaftlicher Kampf, politischer Kampf) hat sich grundsätzlich im Verlaufe von 180 Jahren Klassenkampf bestätigt. Von Pierre Bourdieu wurden die Erfahrungen dieses Klassenkampfes auf die einprägsame Formel gebracht: „Von der nur auf dem Papier existierenden Klasse zur ‚realen’ Klasse kommt man nur um den Preis einer politischen Mobilisierungsarbeit. Die ‚reale’ Klasse … ist immer nur die realisierte, d. h. mobilisierte Klasse“. (Praktische Vernunft, ur Theorie des Handelns, Frankfurt/M 1998, S. 25)

Die arbeitende Klasse mit ihrem Kern der Arbeiterklasse ist derzeit als „Klasse gegenüber dem Kapital“ in der Situation einer merklichen Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen. In einer historisch außerordentlich kurzen Zeit von zehn bis 15 Jahren ist es mit ihrer sozialen Lage bergab gegangen. Die abhängig Arbeitenden mussten zwischen 2000 und 2007 Reallohneinbußen von mindestens 6 Prozent hinnehmen. Die tatsächlichen Arbeitslosenzahlen schwankten zwischen 8 und 5 Millionen. Die Zahl der Niedriglohnverdiener erreichte die Marke von etwa 7 Millionen. Der Anteil der prekär Beschäftigten (Leih-, Teilzeit- und Niedriglohnarbeit, befristete Arbeit, Scheinselbständigkeit) erhöhte sich von 32,5 Prozent im Jahre 1994 auf 48,2 Prozent im Jahre 2005. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sank (bei einem Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen) von 1997 bis 2007 um 1,5 Millionen. Die Lohnquote, d. h. der Anteil des Lohneinkommens am Gesamteinkommen (einschließlich Einkommen aus Gewinn und Vermögen) fiel von 43,1 Prozent im Jahre 2000 auf 38,1 Prozent im 1. Halbjahr 2006. Die Armutsquote (unter 60 Prozent des Durchschnittseinkommens) stieg von 12,3 Prozent im Jahre 200 auf 18,3 Prozent im Jahre 2006. Für die gesamte arbeitende Klasse, einschließlich ihres arbeitslosen Teils kam es zu einer allgemeinen Verunsicherung der Lebensverhältnisse.

Als Klasse „für sich selbst“, als „mobilisierte Klasse“, die den Kampf gegen die Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen aufnimmt, ist die arbeitende Klasse nur punktuell in Erscheinung getreten. Ausdruck einer allgemeinen Erbitterung über die Politik der Agenda 2010 und der mit ihr verbundenen Förderung von Armut und Prekarität per Gesetz waren die Massendemonstrationen im Jahre 2004. Im Jahre 2007 erreichte das Streikniveau mit 580.000 ausgefallenen Streiktagen wieder etwa das Niveau von 1993 (593.000 Stunden). Im gleichen Jahr ließ der GDL-Streik bei der Bahn in einigen Momenten ahnen, wie eine kämpferische Gewerkschaftsbewegung den Neoliberalen das Fürchten lehren könnte. Auf die widersprüchlichen politischen Auswirkungen des sozialen Niedergangs wurde bereits verwiesen. Nicht zu übersehen ist eine anhaltende Glaubwürdigkeitskrise besonders der neoliberal agierenden SPD und der Aufstieg der PDL. Die arbeitende Klasse in Deutschland bewegt sich im Bereich des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes in Richtung einer „Klasse für sich selbst“, aber sehr widersprüchlich, in einem bescheidenen Maße, nicht ohne regressive Tendenzen.

Ein Ersatz für den eigenständigen Kampf um grundlegende Veränderungen und vor allem um die Schaffung von Gegenmachtstrukturen wird auch die Stärkung der PDL nicht sein können. Der Kampf ums Parlament und um Einflussnahme auf die Staatspolitik wird nur dann nicht zur politischen Sackgasse, wenn dem gewerkschaftlichen und politischen Kampf das Primat zukommt, eine kämpferische Gewerkschaftsbewegung, linke Medienmacht eine neue Qualität politischer Organisiertheit und Kampfbereitschaft entsteht. Eine grundsätzlich richtige Handlungsorientierung ist nach wie vor das, was Karl Kautsky 1891 in das Erfurter Programm der SPD hineingeschrieben hat: „Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf. … diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen – das ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.“ (Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf dem Parteitag in Erfurt 1891, in: Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, Berlin 1967, S. 83 f.) Eine Aktualisierung könnte lauten: Gegen Kriegsführungspolitik und neoliberale Kapitaloffensive im täglichen Ringen um die Erhaltung und Verbesserung der Lebenslage der abhängig Arbeitenden deren Kampf zu einem bewussten und einheitlichen politischen Kampf zu gestalten, ist die Aufgabe aller Sozialisten, Kommunisten und antikapitalistischen Linken. Es geht um einen Kampf für solche Forderungen, die die verschiedenen Fraktionen der arbeitenden Klasse und der Arbeitslosen zusammenführen und an die Eigentums- und Machtfrage heranführen, um eine erneute Vereinigung der arbeitenden Klasse mit dem Marxismus, d. h. gerade auch um die Vermittlung von Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge und geschichtliche Erfahrungen. Dies erfordert nicht zuletzt die Durchsetzung der Erkenntnis im Alltagsbewusstsein, das die wachsende soziale Unsicherheit der Existenz ihre Ursache ganz wesentlich im Modus der Kapitalakkumulation hat und es nicht nur darum gehen kann, die sozialen und politischen Folgen der kapitalistischen Produktionsweise zu bekämpfen, sondern eine neue Gesellschaft zu schaffen.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel spiegelten wir von der Debattenseite der Marx-Engels-Stiftung. Dort finden sich noch weitere Beiträge zum "Diskussionsthema Arbeiterklasse".