Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

„Aktivierung der Sozialausgaben“
 auch in Frankreich
HARTZ IV-GESETZ A LA FRANCAISE“ in Bälde unter Dach & Fach

10/08

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Einen hochtrabenden Titel trägt Martin Hirsch, früherer Vorsitzender der christlichen Wohltätigkeitsorganisation ‚Emmaüs’, seit anderthalb Jahren. Denn seitdem er damals in das Regierungskabinett von François Fillon (unter den Fittichen des „OmniPräsidenten“ oder allgegenwärtigen Präsidenten Nicolas Sarkozy) aufgenommen  worden ist, lautet sein offizieller Titel, wörtlich übersetzt: „Hoher Kommissar für die aktiven Solidaritäten gegen Armut“. Kurz, mit anderen Worten ausgedrückt: Martin Hirsch fungiert als soziales Gewissen der französischen Bourgeoisie, nachdem er erfolgreich in die Rechtsregierung integriert worden ist.

Seit seiner Aufnahme ins Kabinett verfolgte Hirsch vor allem ein Projekt, das nun kurz vor seiner Realisierung steht, und das er all eine Art von Patentrezept (oder Allzweckwaffe) im „Kampf gegen die Armut“ betrachtet. In der Nacht zum vorigen Donnerstag verabschiedete die Nationalversammlung - das Unterhaus des französischen Parlaments - den Gesetzentwurf zur Einführung des RSA oder ‚Revenu de solidarité active’. Ende Oktober wird die Gesetzesvorlage nun in den Senat oder in das französische „Oberhaus“ zur Beratung kommen. Danach kann es dann voraussichtlich zügig definitiv verabschiedet werden. 

Qu’est-ce que c’est, le RSA? Übersetzt bedeutet dessen Titel so viel wie „Aktives Solidaritätseinkommen“. Dieses soll ab 2009 in Frankreich flächendeckend eingeführt werden, nachdem bislang in 33 von insgesamt 100 französischen Départements damit „experimentiert“ worden ist. Schon ab 2004 war seine – stufenweise – Einführung intensiv debattiert und vorbereitet worden. Es soll auf die Dauer die bisherige Sozialhilfe, den RMI (Revenu minimum d’insertion), und anderen staatlich gesetzte „Minimalia“ oder Mindest-Überlebenshilfen (minima sociaux) ablösen und ersetzen. Zu Letzteren zählen 1. die französische Entsprechung zur früheren deutschen „Sozialhilfe“, also der RMI (siehe unten),  2. das ASS – eine Art Arbeitslosengeld II –, sowie 3. die soziale Absicherung für Alleinerziehende (Allocation de parent isolé, „Leistung für alleinerziehendes Elternteil“). 

Das Ganze heibt also „Aktives Solidaritätseinkommen“. Aktiv soll dabei aber, wohlgemerkt, nicht das Einkommen ausfallen, sondern der oder die Bezieher/in von Sozialleistungen soll (im Reich der abhängigen Arbeit) „aktiv“ bleiben, damit sie oder er auch ja nicht einrostet. „Glückliche Arbeitslose“ oder eine „Hängematte für Faulpelze“ soll es jedenfalls mit dem RSA nicht geben: Sprüche, die man auch aus anderen Ländern irgendwoher kennt... 

Verquickung von Sozialleistungen und Niedriglöhnen: Eine Mischung aus „Ein-Euro-Jobs“ und „Kombilohn“prinzip

In Wirklichkeit handelt es sich beim demnächst frankreichweit eingeführten RSA um eine Art Zwischenstufe zwischen den deutschsprachigen Institutionen der „Ein-Euro-Jobs“ einerseits, der „Kombilöhne“ für die niedrigsten Lohngruppen - zur Aufstockung von Armutslöhnen - andererseits. Der RSA soll insbesondere als komplementär (also als Ergänzung) zum französischen Äquivalent der früheren deutschen „Sozialhilfe“, also dem 1988 geschaffenen RMI oder ‚Revenu minimum d’insertion’ (ungefähr: Mindest-Eingliederungs-Einkommen), dienen. Ähnliches wie für diese „Sozialhilfe“ gilt auch für das französische Quasi-Äquivalent zum deutschen „Arbeitslosengeld II“, den ASS. Bei Letzterer handelt es sich um die „Spezifische Arbeitslosen-Leistung“ (Allocation spécifique de solidarité), die von früher einmal lohnabhängig beschäftigten Langzeitarbeitslosen nach Ausschöpfung ihrer Ansprüche gegenüber der Erwerbslosenversicherung - d.i. in der Regel nach spätestens zwei Jahren - bezogen wird und nur rund 20 Euro über dem RMI liegt. Im Gegensatz zu den Voraussetzungen für RMI-Empfänger/innen muss man, um ein Anrecht auf die ASS – rund 450 Euro im Monat – zu haben, zuvor bereits einmal einen Anspruch auf „normales“ Arbeitslosengeld (also Leistungen aus der Arbeitslosenkasse aufgrund vorausgeganger sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung) PLUS  mindestens 5 Jahre lohnabhängig gearbeitet haben. 

Nun zurück zu den Modalitäten, nach denen das neue „Aktivie Solidaritätseinkommen“ funktionieren wird. Konkret bedeutet dies Alles, dass, wer als Empfängerin oder Empfänger durch lohnabhängige Arbeit 100 Euro zusätzlich zum RMI – der knapp über 400 Euro (plus Mietzuschuss) beträgt - hinzu verdient, davon zukünftig dann „nur“ 38 Euro von dieser Sozialhilfe abgezogen bekommt. Großzügig wird ihm oder ihr also „ermöglicht“ respektive „erlaubt“, 62 Euro von den einhundert zusätzlich zu beziehen. Bislang galt nämlich die vorherige Regelung, wonach sämtliche Arbeitseinkünfte vom RMI oder anderen Sozialleistungen abzuziehen waren, als „abschreckendes Hindernis zur Annahme einer (schlecht bezahlten) Arbeit“. Laut den vorliegenden Berechnungen wird ein/e RMI-Empfänger/in, der oder die mutmablich eine Teilzeitbeschäftigung antreten wird, im Durchschnitt mit dieser Kombination aus „Eigenverdienst“ in lohnabhängiger Arbeit und weiterhin ausbezahlter „Sozialhilfe“ auf rund 750 Euro monatlich kommen.

 Die neue Regelung wird aber nicht allein für RMI-Bezieher/innen gelten. Generell sollen die Empfängerinnen und Empfänger von Armutslöhnen ihre Einkünfte aus Sozialleistungen, bis zu einer Obergrenze von (kombiniert) 1.200 Euro pro Monat, behalten dürfen. Genauer, es gilt eine Obergrenze von 1.200 Euro pro Person, oder 2.150 Euro pro Paar mit zwei Kindern und nur einem einzelnen Haushaltseinkommen.  

Dadurch erweist sich das neue Instrument als eine Art „Kombilohn“. Das Wesen des Kombilohns besteht darin, dass das zum Leben bitter Notwendige nicht mehr vom Arbeitgeber zu zahlen ist, sondern auf den von ihm ausbezahlten Hungerlohn zusätzlich eine vom Steuerzahler finanzierte Zulage oben draufgelegt wird.

Eine der wichtigsten Fragen wird darin bestehen, ob aufgrund der Einführung des RSA zukünftig die Empfänger/innen von „sozialen Minima“ einfacher zur Annahme einer geringfügig bezahlten Tätigkeit gezwungen werden können. Denn auch eine buchstäblich zu einem Hungertarif entlohnte Tätigkeit kann ja künftig schwerer mit dem Argument abgelehnt werden, dass sie nicht das zum Überleben notwendige Einkommen sichert, weil sie durch das Kombinationsprinzip aufgestockt wird werden können. Schwarz auf weiß wird zwar bislang in der Gesetzesvorlage nicht affirmiert, dass es einen solchen expliziten Zwang geben könnte. Ausdrücklich wird allerdings gleichzeitig einer schärferen „Bekämpfung von Sozialbetrug“, also der so genannten Erschleichung von Sozialleistungen, das Wort gesprochen. Wer aber künftig Sozialleistungen beantragt, aber auf ein Aufstocken seiner Bezüge durch Niedrigstlöhne „verzichtet“, wird zweifelsohne leichte ins Visier der „Sozialbetrugsfahnder“ geraten. Denn besteht denn bei ihm oder ihr wirklich noch „Bedürftigkeit“? Harharhar... 

Kernfrage: Wer finanziert den Arbeitgebern die Drauflage auf ihre Hungerlöhne?

Eine heftige Diskussion innerhalb der regierenden Rechten, die das Gesetz mit den Stimmen ihres Lagers annahm, löste der Finanzierungsmodus aus. Denn zusätzlich zu den bisher rund 6,5 Milliarden Euro jährlicher Ausgaben für „soziale Minimalleistungen“ (RMI und ASS) müssen nun weitere 1,5 Milliarden Euro für die Kombinations-Draufgabe finanziert werden. Dazu möchte der konservativ-liberale Bürgerblock, um einen Teil der zusätzlichen Kosten abzudecken, nun eine neue Steuer auf Kapital- und Mieteinkünfte in Höhe von 1,1 % einführen. Das wird bedeuten, dass deren Besteuerungssatz von bislang 11 Prozent auf 12,1 % steigt. Was aber wiederum zu einer heftigen Polemik innerhalb des Bürgerblocks führte, denn einige von dessen Politikern sind gegen jegliche zusätzliche Besteuerung - konsequentes Steuersenkerpack eben.

Bei den parlamentarischen Beratungen setzte sich die Kontroverse nun fort. Dies hatte zum Ergebnis, dass letztlich ein inner-rechter „Kompromiss“ angenommen wurde: Zwar wird die neue Steuer auf Kapitaleinkünfte in Höhe von 1,1 % beibehalten. Aber sie entfällt faktisch bei vielen Steuerpflichtigen dadurch, dass sie unter den so genannten ‚Bouclier fiscal’ („steuerliches Schutzschild“) fallen. Dieser stellt eine Obergrenze für solche Steuerzahler dar, die gleichzeitig unter den Spitzensteuersatz und unter die spezielle Großvermögens-Abgabe ISF (Impôt de solidarité sur la fortune) fallen. Ihnen wird garantiert, dass sie auch bei Fälligwerden dieser beiden nur für Höchstverdiener oder Kapitaleigentümer geltenden Spitzensätze INSGESAMT - alle Steuern und staatlichen Abgaben zusammengezählt - grundsätzlich nicht mehr als 50 % ihrer Einkommen aus der obersten Kategorie zu versteuern haben. 

Dadurch, dass auch die künftige Sondersteuer zur Finanzierung des RSA unter diese Regelung fällt, wird sie jedoch für eine Reihe von Größtverdienern faktisch unwirksam. Dies führte kurzzeitig zu einer Polemik anlässlich der Parlamentsdebatte. Nun beschloss die regierende Rechte „im Gegenzug“ eine Absenkung der besonderen Steuer-Nachlässe, auch als „Steuernischen“ bezeichnet, die für bestimmte Berufsgruppen mit starker Lobby gewährt worden waren. Schon seit einem Jahr, also seitdem die Steuer-Oberbegrenzung für Höchstverdiener beschlossen worden ist, hat sich ein Teil des Bürgerblocks auf die Jagd nach solchen „Sonderrechten“ begeben. 

Der Streit um die Finanzierung führte dazu, dass die französische Sozialdemokratie sich in der Parlamentsdebatte letztendlich ihres Votums bei der Abstimmung über das RSA-Gesetz enthielt: Grundsätzlich begrüßte sie zwar die Einführung des „Aktiven Solidaritätseinkommens“, doch kritisierte sie die Verschonung von Höchstverdienern bei seiner Finanzierung. Die KP hingegen votierte gegen die Gesetzesvorlage. Die Abgeordneten des Bürgerblocks stimmten ihm überwiegend zu, bis auf circa zehn Parlamentarier, die vor allem aufgrund des Disputs um Finanzierungsfragen verärgert blieben. 

Die richtige Position lautet hingegen, wie die anarchosyndikalistische CNT-AIT es ausdrückt: „Selbst/Sogar wenn er durch das Kapital finanziert wird, bleibt ein sozialer Rückschritt ein Rückschritt!“ (Vgl. http://www.collectif-rto.org/spip.php?article672

Dabei wird der neue RSA aber keineswegs ALLEIN durch das Kapital, also durch eine spezifische Steuer auf Kapital- und Mieteinkünfte, finanziert. Denn nur ein Teil der „Kosten des RSA“  wird auf diesem Wege finanziert werden. 

Ein weiterer bedeutender Teil der (Zusatz)finanzierung für den RSA wird nämlich durch die französischen Départements aufzubringen sein. Diese Verwaltungsbezirke sind bislang schon für die Finanzierung der staatlichen Sozialhilfe, des RMI, zuständig gewesen. Nun werden sie mit Mehrausgaben aufgrund der Aufstockung des RMI zum RSA, also aufgrund der aus öffentlichen Mitteln finanzierten Subventionierung von Tiefst- und Hungerlöhnen, konfrontiert werden. In diesem Falle werden es eben nicht die Eigentümer von Kapitalien und Mietwohnungen, sondern sämtliche Steuerzahler/innen (inklusive der „sozial Schwächeren“ unter ihnen) sein, die auf diesem Wege die Lohnsubventionierung mit finanzieren. 

Zudem wird durch die Einführung des RSA eine neue Konkurrenz unter Lohnabhängigen, bzw. zwischen den unteren Rängen der Lohnarbeiterschaft (oder Working Poors) einerseits und anderen Armen – in Gestalt der bislang vom Arbeitsmarkt „Exkludierten“ oder „Ausgeschlossenen“ – andererseits, eröffnet. Denn dank des früheren sozialliberalen Wirtschaftsministers Laurent Fabius (er amtierte in den Jahren 2000 bis 02) gab und gibt es seit Anfang dieses Jahrzehnts einen Steuerkredit, eine Art „negativer Steuer“ für Geringverdiener: Wer in einem Lohnarbeitsverhältnis steht, aber nicht über eine bestimmte Schwelle bei den Einkünften hinauskommt, kann dafür eine bestimmte Summe vom Finanzamt erstattet bekommen. Es handelt sich um die so genannte ‚Prime pour l’emploi’ oder (ungefähr) „beschäftigungsfördernde Prämie“. Die Idee zu einem solchen Steuerkredit respektive einer „Negativsteuer“ hatte ursprünglich der wirtschaftsliberale Ökonom Milton Friedman ausgeheckt. 

Diese ‚Prime pour l’emploi’ wird nun ebenfalls im neuen RSA aufgehen. Damit wird a        ber der Kuchen, der bislang den unteren Lohngruppen der (hauptsächlich) von Erwerbsarbeit in abhängiger Beschäftigung – und nicht (überwiegend) von Sozialleistungen lebenden „Arbeitnehmer“schaft vorbehalten blieb, unter einem gröberen Personenkreis aufgeteilt. Denn hinzu kommen nun auch die bisherigen (hauptsächlichen) Bezieher/innen so genannter Sozialleistungen in Gestalt der ‚minima sociaux’. Dadurch werden, einmal mehr, Lohnabhängige und vom Arbeitsmarkt „Ausgeschlossene“ in ein  potenzielles Konkurrenz- und Rivalitätsverhältnis zueinander gesetzt: Beide müssen sich nun denselben Kuchen untereinander teilen. 

Die wichtige  Frage bleibt, ob die Einführung des RSA nicht die Ausbreitung von prekären, Teilzeit- und Niedrigstlohn-Arbeitsverhältnissen fördert. Dazu heibt es bspw. seitens des Wirtschaftsministeriums, aber auch in einer ausführlichen Darstellung des neuen RSA-Mechanismus in der Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’  Ende September lapidar: „Um dies festzustellen, ist es noch zu früh, da die Ergebnisse der Untersuchungen zu den ‚Experimenten’ mit dem RSA in bisher 33 Départements dazu noch nicht vorliegen.“ Ohne Kommentar.. 

Ausländerdiskriminierung 

Einen weiteren, höchst problematischen Aspekt des neuen Gesetzes zum RSA bilden die diskriminierenden Bestimmungen für Ausländer/innen, bezüglich derer Vereinigungen und Solidaritätsinitiativen wie der GISTI (eine Rechtsberatungsgruppe für Immigrant/inn/en) im September schon die Alarmglocke läuteten. Denn für Einwander/innen - „legal“ in Frankreich lebende Zuwanderer – wird es künftig schwerer ausfallen, den RSA zu beziehen, als bislang schon den RMI oder die staatliche „Sozialhilfe“. 

So bleiben, mit Ausnahme bestimmter Kategorien (anerkannte politische Flüchtlinge, Staatenlose), alle Ausländer/innen vom Anspruch ausgeschlossen, die nicht mindestens schon eine abgelaufene legale (!) Aufenthaltsdauer von fünf Jahren aufweisen. Bislang konnte man in der Regel nach drei Jahren „gesetzeskonformen“ Aufenthalts den RMI beantragen. Zusätzlich werden aber künftig auch alle Ausländer/innen, die mit Aufenthaltstiteln ohne Berechtigung zur Arbeitsaufnahme ausgestattet sind (etwa in Gestalt einer Art Entsprechung zum deutschen „Duldungs“status, in Form von drei- oder sechsmonatigen befristeten Aufenthaltspapieren), vom Bezug des neu geschaffenen RSA ausgeschlossen. Dies schafft, im Zuge der Abschaffung des bisherigen RMI (Sozialhilfe) zugunsten des neuen „Aktiv-Mindesteinkommens“ RSA,  zusätzliche Kategorien von vollständig „Anspruchslosen“. Im Sinne des Gesetzes, nicht in dem Sinne, dass sie zum Leben nichts bräuchten...

Editorische Anmerkungen

Den Text  erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.