Betrieb & Gewerkschaft
Gesundheitswesen
130.000 demonstrieren ihren Kampfwillen
Doch  welche Perspektive weist die verdi-Führung?

von Martin Suchanek

10/08

trend
onlinezeitung

Die wohl größte Demonstration gegen die Zumutungen der  „Gesundheits“politik der Bundesregierung fand am 25. September in  Berlin statt. Aus der gesamten Bundesrepublik waren Beschäftige mit über 800 Bussen und in zahlreichen Sonderzügen angereist – manche über 12 Stunden lang.

Das zeigt eindeutig: Der Wille, die Bereitschaft zum Handeln ist da –  nicht nur gegen die Deckelung der Kosten, sondern auch gegen die „Gesundheits“reform insgesamt, gegen Privatisierungen, Personalausdünnung, Lohnraub und ständig steigende Arbeitsbelastung. Die RednerInnen von der Hauptbühne wiesen darauf hin, dass der Staat  milliardenschwere Finanzspritzen für die ins Strudeln geratenen Großbanken zur Verfügung stellt, während bei der Gesundheit zu Tode gespart wird. Die 3 Milliarden, die Schmidt und Co für den
Gesundheitssektor bereitstellen wollen, decken die gestiegenen Kosten  des letzten Jahres nicht – und sollen obendrein von der Bevölkerung in Form höherer Versicherungsbeiträge bezahlt werden.

Eine konkrete Kampfperspektive mochten die KundgebungsrednerInnen aber  nicht zu geben. Nun ist diese sicher nicht von Vertretern der „Arbeitgeber“ im Gesundheitswesen zu erwarten. Dass Eigentümervertreter wie der Münchner Oberbürgermeister Ode als Vorsitzender des Städtetages damit nicht aufzuwarten hatten, darf nicht verwundern - schließlich will auch er „effiziente“, „moderne“ (sprich kapitalkonforme) Krankenhäuser und Klinika.

Auch die notorischen Lohndrücker von Diakonie und Charitas haben vor allem höhere Gewinne der christlichen Arbeitgeber im Auge, wenn sie gegen die Bundesregierung zu Felde ziehen. Verdi-Chef Bsirkse und andere Gewerkschaftsvertreter reihten sich in
diesen Chor ein. Man wolle ja „dasselbe“, „müsse jetzt zusammenstehen“  – und blieben daher nebulös, wenn es um weitere Kampf- und Handlungsperspektiven geht. „Die Kampagne geht weiter“, „Wir kommen wieder“ und „Wir können auch andere wählen“ – so „konkret“ wird es, wenn die Gewerkschaftsspitze „die Politik“ einschüchtern will. Dabei weiß jeder, dass so die neo-liberale Gesundheitspolitik, dass so die weitere Vermarktwirtschaftlichung des Gesundheitswesen nicht gestoppt werden kann.

Dabei hat die Demonstration gezeigt, dass ein riesiges Kampfpotential  durch verdi mobilisierbar wäre. Um das zu nutzen, bräuchte es aber erstens eine gesamtgesellschaftliche, an den Interessen der gesamten  Arbeiterklasse ausgerichtete Politik, die die Interessen der Beschäftigten und PatientInnen, also der Bevölkerung nicht jenen der Krankenhausbetriebe und ständischer ÄrztevertreterInnen unterordnet. Zweitens müssen auf eine Demonstrationen mit 130.000 – der größten aus dem gesamten Gesundheitssektor – nicht leere Sprüche, sondern klare Ansagen folgen: Die Vorbereitung und Durchführung einer bundesweiten Streikbewegung!

 

Arbeitermacht-Flugblatt zum 25. September
Massenstreik gegen Kostendeckelung und Fallpauschalen!

Das Gesundheitswesen kracht an allen Ecken und Enden. Es ist unterfinanziert. Es fehlen 10.000e Beschäftigte. Die Arbeitsverdichtung nimmt enorm zu - bei ständig sinkenden Einkommen der Beschäftigten
infolge von Lohnraub und Outsourcing.
Es wird - aufgrund von Gesundheitsreform, Privatisierungen,
Auslagerungen - nicht nur für die ArbeiterInnen und Angestellten immer
unerträglicher. Zugleich wird die Gesundheitsversorgung und -vorsorge
für die PatientInnen immer teurer.
Davon profitieren die Pharma- und Medizintechnikindustrie, private
Krankenhauskonzerne, Leiharbeitsfirmen u.a. Unternehmen, die z.B.
Kantinen oder Reinigungsdienste übernehmen. Es profitieren aber auch
die oberen Schichten der Ärzteschaft, die vom profitorientierten
Gesundheitswesen noch mehr als bisher schon absahnen wollen.
Gespielt und verlogen ist freilich das Entsetzen und der Protest der
kommunalen und staatlichen Krankenhausbetreiber, der Bürgermeister, der
Landes- und Bundespolitiker, die in den letzten Jahren ohne Wenn und
Aber die „Kosten im Gesundheitswesen“ abgesenkt - sprich auf
PatientInnen und Beschäftigte abgewälzt - haben. Dass diese nun
vorgeben, „im selben Boot“ wie Pflegepersonal, untere Ärzteschaft,
TechnikerInnen, Reinigungskräfte oder Küchenpersonal zu sitzen, ist
eine infame Lüge. Die öffentlichen „Arbeitgeber“ wollen keine Deckelung
ihrer Budgets - bessere Arbeitsbedingungen oder gar eine Rücknahme der
„Fallpauschalen“, welche einzelne Pflegeleistungen erst in „Waren“
verwandeln, lehnen sie natürlich ab. Auch höhere Löhne der
Beschäftigten oder eine radikale Arbeitszeitverkürzung auf 35
Stunden/Woche, sind diesen Herren (und wenigen Damen) ein Dorn im Auge.
Es ist höchste Zeit, dass ver.di eine bundesweite Demonstration gegen
die Misere im Gesundheitswesen organisiert, dass 10.000e in Berlin auf
die Straße gehen. Aber mit welcher Perspektive? Mit welchen
Verbündeten? Mit welcher Orientierung?
Welche Perspektive?
Die ver.di-Führung hofft, den Druck auf die Bundesregierung durch ein
Bündnis mit den öffentlichen „Arbeitgebern “ und den
Standesorganisationen der Ärzte, die unter Kontrolle der privilegierten
Großverdiener dieses Berufsstandes stehen, Verbesserungen zu erreichen.
Durch diese Vorgehensweise bleiben für die Beschäftigten und
PatientInnen entscheidende Fragen wie Privatisierung und Auslagerung,
Leiharbeit und immer größere Arbeitsverdichtung, sich verschlechternde
Versorgung für viele PatientInnen, das System der Fallpauschalen, die
Finanzierung und Kontrolle über das Gesundheitswesen außen vor.
Diese Strategie führt zu nichts, weil sie unsere Interessen als
Beschäftigte und PatientInnen jenen der Gegenseite, der „Arbeitgeber“,
unterordnet. Statt die Misere gesellschaftspolitisch zu hinterfragen,
statt auf ein Gesundheitswesen zu orientieren, das gemäß den
Bedürfnissen der großen Bevölkerungsmehrheit - Lohnabhängige,
Arbeitslose, MigrantInnen RentnerInnen, Jugendliche - ausgerichtet
ist, tut die ver.di-Führung so, als wollten die öffentlichen
Unternehmen im Gesundheitswesen dasselbe wie Beschäftigte und Kranke.
Diese Lüge erschwert eine breite gesellschaftliche Solidarisierung
aller Lohnabhängigen (als PatientInnen, GesundheitsarbeiterInnen,
BeitragszahlerInnen)!
So sehr eine bundesweite Demo auch zu begrüßen ist, darf sie aber nur
ein erster Schritt sein. Angesichts der „Bündnispartner“ und der
Politik der ver.di-Spitze ist zu befürchten, dass ein zweiter lange auf
sich warten lassen wird. Vielleicht folgen - wieder einmal - ein paar
Unterschriftenlisten und Veranstaltungen, aber sicher keine Kämpfe, die
den Regierenden weh tun.
Doch genau das ist notwendig, um nicht nur die Deckelung, sondern auch
andere Angriffe zurückzuschlagen: ein unbefristeter Massenstreik im
Gesundheitswesen!

Daher:
- Kein Schulterschluss mit den Arbeitgebern!
- Für sofortigen Stopp aller Entlassungen, für Neueinstellungen, für
die komplette Kostendeckung! Reduktion der Arbeitszeit auf 35 Stunden
bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Wiedereinstellung bereits
entlassener KollegInnen und Wiedereingliederung ausgesourcter
Betriebsteile zu tariflichen Bedingungen!
- Weg mit den Fallpauschalen, Rücknahme aller Privatisierungen!
- Ausreichende Bereitstellung und Finanzierung von Krankenhäusern u.a.
Pflegeeinrichtungen unter Kontrolle der Beschäftigten und NutzerInnen!

Ein Kampf für solche Forderungen bietet eine Perspektive zu einer
wirklichen Verbesserung. Wir können sie uns aber nur erkämpfen, wenn
wir in den Betrieben und Gewerkschaften das Zepter des Handelns nicht
mehr den TopfunktionärInnen überlassen. Wir brauchen an allen
Krankenhäusern und Kliniken regelmäßige Belegschaftsversammlungen, die
diskutieren, wie wir den Kampf organisieren und vorbereiten können, die
Aktionskomitees wählen und diese jederzeit abwählen können.
Vor allem brauchen wir eines: eine bundesweite Basis-Opposition in den
Krankenhäusern, im gesamten Gesundheitssystem, die gegen den
Schulterschluss der Gewerkschaftsbürokratie mit den „Arbeitgebern“ und
für eine klassenkämpferische Politik und Führung in den Betrieben und
Gewerkschaften kämpft!

Editorische Anmerkungen

Den Text  erhielten wir von

ARBEITERMACHT-INFOMAIL
Nummer 383
25. September 2008

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