re/visionen.
Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland besprochen
 

besprochen von Birgit v. Criegern

10/08

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onlinezeitung

Wenn rechtspopulistische Kundgebungen, wie neulich in Köln, scheitern, ist das erfreulich, aber natürlich kein Grund zum Zurücklehnen, vor allem, wenn man/ frau sich bewusst macht, dass der eigentliche Motor für den rechten Chauvinismus alltäglich wieder neu politisch angeheizt wird.

Dass rassistische Ausgrenzungen im medialen und politischen Konsens, und in der sozialen Situation in der BRD weiterhin an der Tagesordnung sind, zeigen die Autorinnen und Autoren des Buches "re/visionen" (Herausgeber: Kien Nghi Ha, Nicole Laure al-Samarai, Sheila Mysorekar) im Unrast-Verlag, 2007. Mit den "postkolonialen Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland" haben sie ein umfassendes Dokument von Rassifizierungen und "kolonialem Wohlwollen" sowie von Selbstorganisation und Selbstermächtigung der betreffenden afro-deutschen und/ oder migrantischen Bürger/innen und Communities gegen die repressiven Entwicklungen in der deutschen Gegenwart vorgelegt. 

Hintergründe zum herrschenden Konsens werden in den zahlreichen Beiträgen auf gender- und kulturwissenschaftlicher wie sozialpolitischer Ebene geliefert. Dabei geht es um weitaus mehr, als Brand-Sätze anzuprangern. Rassistische Arbeitsmarktpolitik und europäische Aufklärungs-Allüren werden ebenso erörtert wie Selbst- und Fremddefinitionen in der Kultur, die oft mit Sprechverhalten und Rollenaufteilungen sowie mit Konstruktionen von Schwarz-Sein, Deutsch-und-Weiß-Sein, Migrantin/ Migrant, ablaufen. Mit den Essays über Entstehung und Tätigkeit der Bewegungen "The Voice Refugee Forum" und "Karawane für die Rechte der Migrantinnen und Migranten", die sich seit den neunziger Jahren formierten, ist das Buch zudem wichtiges Grundlagenwerk zum Stand der Organisierungsprozesse gegen die rassistische Migrationspolitik heute.   

Beispielsweise im medialen Mainstream ist neuer Biedermeier und, weitaus schlimmer, ein Rückschritt in Richtung Volksgemeinschaft schwer zu übersehen seit der blond-blauäugigen "Du-bist-Deutschland"- Beschwörung der ganz großen Kanäle mit Hilfe von Mediengigant Bertelsmann. Auch die Lage des langjährigen Berliner Radiosenders Multikulti, der nun dem Rotstift des Senats zum Opfer fällt, zeigt, dass Kulturvielfalt in den öffentlichen Institutionen nichts Gesichertes ist. Siehe: http://www.multikulti.de/presse/pressemitteilungen/radiomultikulti_endet.file.pdf

Übrigens regte der rechtskonservative Innenminister Brandenburgs Jörg Schönbohm vor Jahren an, eben diesen Sender in "Radio Schwarz-Rot-Gold" umzubenennen, und tat damit seinen Missfallen gegen die Intention des Senders kund. Gewissermaßen zeitgeistgemäß. Die neue Welle von "Integrations"-Forderungen und "Leitkultur" seit 2004, bei der sogenannte "Parallelgesellschaften" als Bedrohung angeführt wurden, erörtert der Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha in "re/visionen" als ein Modell von "Stigmatisieren und Strafen" am Objekt der migrantisch geprägten und/ oder Schwarzen Deutschen. "Merkwürdige Formen des Realitätsverlustes und der Amnesie" hätten sich in 2004 in der Presse breitgemacht, wobei die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh den Anlass gab, "obwohl dieses Ereignis in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Einwanderungssituation in Deutschland stand"(S. 121). Der Multi-Kulti-Ansatz in der Gesellschaft wäre gescheitert, die "Tücken der Toleranz" hätten sich gezeigt, wurde damals schwadroniert. So untermauerte man die politisch geforderte "Leitkultur". Die "Integrationsverordnung" diene einem neuen "Dualismus von innen und außen, Subjekt und Objekt, gut und böse", so Ha (S. 122), der das entsprechende Kapitel "Deutsche Integrationspolitik als koloniale Praxis" übertitelt.

Seit Has Kritik an der "Integrationsverordnung", seit Erscheinen des Buches haben sich die Verhältnisse nicht gebessert. So forderte in diesem Jahr der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky im Tagesspiegel-Interview "mehr Repression" für seinen Stadtteil mit hohem migrantischem Anteil, und benannte etwa Trägerinnen des Ganzkörperschleiers und Schwarze auf der Straße in einem Zusammenhang mit "Verwahrlosung".  

Die genderwissenschaftlichen Beiträge im Buch, kaum zu überschätzen, geben Aufschluss von der machtfeindlichen und emanzipativen Kraft, die sich unter dem rassistischen Zwang entwickelt, und die in den nächsten Jahren noch mehr zum Ausdruck kommen könnte. Ohne einem vormals in den 70-er Jahren praktizierten Fehler der Linken von rascher Identifizierung von Frau-Sein mit Schwarz-Sein und mit Kolonialisiert-Sein zu verfallen, lassen sich aus den Beiträgen unübersehbar Strategien der Selbstermächtigung im Angesicht von Herrschaft sammeln, die – und das bezeichnet die Nähe des Antirassismus zum Antisexismus – wortlos ausgeübt wird, und die ihre Benennung braucht. So geht es etwa im Essay von Maureen Maisha Eggers um "Kritische Überschreitungen" von als selbstverständlich erlebten Grenzen durch die täglich vorgeführten Machtstrukturen, und um Dekonstruktionsarbeit am verinnerlichten eigenen Handeln. Mit der Arbeit "gegen die eigene Selbst-Unterwerfung" ruft die Genderwissenschaftlerin einen wichtigen Punkt in Erinnerung, der Befreiungstheoretikern möglicherweise schon aus dem Blickfeld geraten ist. Natürlich geht es einerseits immer noch darum, verlogene Kategorien der herrschenden Klasse, so die tendenziöse Wortdenkmäler "China und Menschenrechte", oder "Afrika und Menschenrechte", mit den ihnen  innewohnenden kolonialen Projektionen anzuprangern. Aber Eggers weist auch, damit ist sie subversiv, ohne es herauszukehren, von solchen politischen Gegebenheiten fort und zeigt an, was an eigener Entschlossenheit, an Strategien des Eigensinns zu tun ist, weil "gesellschaftliche Strukturen mit unseren subjektiven Taten als Unterworfene verbunden bleiben", und führt zum Beispiel den Film "Moolaadé"  des senegalesischen Autors und Regisseurs Ousmane Sembéne an. In dem Film ist die Beschneidung in einem afrikanischen Dorf ein Zeichen der "Unterwerfung aller" unter die gesellschaftliche Verordnung. Daraus bricht die Figur der Collé Gallo Sy aus, die sich weigert, ihre Töchter beschneiden zu lassen - nicht weil sie eine Heldin sei, sondern "aus Reflexion der eigenen Erfahrungen". Erst daraufhin folgen ihr andere Dorfbewohner/innen nach. Eigensinnige Handlung eröffne die Möglichkeit kollektiver Widerständigkeit. Den Bogen, den Eggers schlägt, muss erstmal eine arrangierte bürgerliche Autorin unter dem Konsens von freiheitlicher westlicher Kultur wagen: Eggers fordert letztlich zu ebensolchem Eigensinn von People of Color im rassistischen deutschen Alltag auf, wobei es natürlich nicht um Beschneidung, sondern um andere Formen der Unterwerfung geht. Zu der Befreiung aus "Verstrickungen" gehören bewusste Entgegnungen vor primitivsten Beschimpfungen im Alltag, wie auch noch vor rassistischen Festschreibungen in Wissenschaftskreisen. Dass das nicht von heute auf morgen geschafft wird, ist in Eggers`Aufsatz eine eher ermutigende Feststellung, denn es geht hier nicht um Sieges-Beschwörungen, sondern um handfeste Anregungen.  

Jeder der zahlreichen Essays ist für sich unverzichtbar, weil er am Konsens Weißer Lebensart einen Teil der medialen Verleugnungsstrategien bezüglich der Realität abträgt. Pure Logik wendet etwa im kulturellen Bereich Julio Mendívil auf die deutsche Gesellschaft an, und da kann man/ frau leicht auf Granit stoßen. Im Essay "Das zivilisierte Denken" berichtet er von einem Versuch ethnologischer Feldforschungen über die deutsche Kultur. Zunächst als traditioneller Musiker in Peru tätig, wandte sich Mendívil in Deutschland auch der Musikethnologie zu und arbeitet als Dozent in Köln. "In Deutschland mutierte ich bei meiner Ankunft zum Indianer". Wie er zeigt, war das ethnologische Arbeiten über deutsche Kultur, speziell: ihre Volksmusik, nicht einfach. Anders als frühere westliche Feldforscher bekam er in der hiesigen Stammeskultur "keinen besonderen Platz zugewiesen". Denn der Westen, der "das Zivilisierte (repräsentiert)", wolle nicht als Objekt betrachtet werden. Was sich für Mendìvil, der auf Konzerten Schlagerfreaks anredete, oder TV-Produzenten anschrieb, in der Sprödigkeit der Antworten zeigte. Überspitzt gesagt: "Weder 10-Euro-Scheine noch Glasperlen halfen mir, Heino oder Dieter Thomas Heck zu einem Interview zu überreden" (S. 142). Selbstbewußt-deutsch wollten sich Angeredete mit Persönlichkeitsrechten gegen jegliches wissenschaftliche Zitieren rüsten. So geht es bei Mendívils Bericht gar nicht mal um eine rassistische Tendenz der Schlagerkreise an sich – bei einem Schunkel-Erlebnis stellte er gar fest, dass es da keinen Hautfarben-Rassismus gebe, nur die Trennung "Schlagerfreund- ja oder nein". Es geht um das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft, die eine Objektivierung rundum ablehnt. Doch zugleich wurde der Autor, so sein Statement, auch kritischer zur Tätigkeit der Ethnologie, die das Objekt des "Anderen" zu Grunde legt. 

Rassifizierte Arbeitsteilung ist ein ausführlich behandeltes Thema des Buches in der Gliederung "Rassismus und Politik". Und es zeigt, dass heute, nach Ankündigung des Projekts "Zirkuläre Migration" durch die EU-Kommission, sich Verhältnisse nicht gebessert haben, sondern vielmehr altbekannte Fehler und Verwertungsmechanismen am Objekt migrantischer Arbeiter/innen wieder ins Haus stehen. "Nach Schätzungen des Migrationsforschers Friedrich Heckmann konnten während der 60-er und 70-er Jahre etwa 2,7 Millionen Deutsche in der BRD durch die gezielte Benachteiligung der Migrant/innen sozial aufsteigen", schreibt Ha im Beitrag "Arbeitspolitik in Imperial Germany" (S. 70). Ein Beispiel dafür liefert Maggi W. H. Leung in ihrem Kapitel über die chinesischen Einwanderer/innen "Warum sind die so chinesisch? Dekonstruktionen von Chinesisch-Sein in Deutschland". Chines/innen wurden und werden als "Chop-Souey-Meister" eingestuft, und seit jeher hierzulande zur Aufnahme eines gastronomischen Betriebes in Deutschland genötigt, da sich die allgemeine Arbeitslosigkeit sowie mögliche Diskriminierungen der Arbeitgeber zugleich begrenzend auf die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze für chinesische Studierende auswirkten. 

Auch die drei Kapitel über die koreanischen Krankenschwestern in Deutschland liefern ein Zeugnis über den öffentlich marginalisierten bis totgeschwiegenen Sachverhalt der Bevormundungen per Arbeitsmarktpolitik: Seit den 60-er Jahren waren rund 18 000 Krankenschwestern sowie Bergarbeiter für die Arbeit in Deutschland angeworben worden – immer wieder mit Fehlinformationen über den niedrigen Stand ihrer Tätigkeiten, die ihre Qualifikation unterschritt. So mussten die koreanischen Schwesternschülerinnen vor allem Spül- und Putzarbeiten übernehmen. Anwerbebriefe, wie der vom Stolberger Betlehem-Krankenhaus, die nach Korea gingen, waren irreführend. Die Frauen erfuhren außerdem erst bei ihrer Ankunft, dass der deutsche Krankenpflegeabschluss in vielen Ländern, darunter Korea, nicht anerkannt wurde. Und das, während die Behörden sie zur Rückkehr nach Verlauf einiger Jahre ihrer Tätigkeit verpflichteten. 1978 gründeten die Betroffenen die Koreanische Frauengruppe. Schrittweise entschieden sich immer mehr von ihnen in der koreanischen Community zur Selbstorganisation, und widersetzten sich den dirigierenden Anweisungen der Behörden zur Rückkehr: "Wir kamen, weil deutsche Krankenhäuser Personal benötigten, und wir haben Deutschland geholfen. Wir sind keine Handelsware. Wir gehen zurück, wann wir wollen." (S. 361)  (Heike Berner und Sun-ju Choi, "Koreanische Krankenschwestern in Deutschland") Dabei mussten sie es ebenso mit den patriarchalischen Rollenvorschreibungen in der eigenen Ehe aufnehmen, als auch mit der als diskriminierend und abweisend erlebten deutschen Gesellschaft. Die Selbstermächtigung sicherte vielen von ihnen das Dasein und das erwünschte Studium in Deutschland, und war der einzig richtige Ausweg, der im Buch, u. a. in der zwanglosen Gesprächsform, erinnert wird. Es ist wohl unerlässlich, diese Ansätze für die Zukunft zu dokumentieren, wenn sich in der EU-Politik wieder der Wille ankündigt, über Migrant/innen mit der Zuweisung von Arbeit zu verfügen. Geht es nach dem politischen Konzept "Zirkuläre Migration", das in diesem Jahr von den Innenministern vorgestellt wurde, ist die Zuweisung von Arbeit gemäß dem Bedarf der EU-Länder an Migrant/innen aus "Drittstaaten" vorgesehen, wobei "die Rückführung gesichert sein muss" – die Chancen für ein selbstbestimmtes Dasein, Familiengründung und Studium in Europa müssten sich für die Einwanderer/innen demnach noch verschlechtern.  

Die Stimmlosigkeit von People of Color, das erläutert Gaston Ebua von "The Voice Refugee Forum"  im Beitrag "Selbstorganisation braucht ein tiefes, kritisches Selbstverständnis", sei bereits machtbedingte rassistische Strategie. Andererseits werde sprachlich mit den Begriffskonstruktionen von den "universellen Menschenrechten" oder etwa dem "Wohlfahrtsstaat" Deutschland Einwanderer/innen sowie Flüchtlingen ihre Position zugewiesen, und eine koloniale Machtstruktur befestigt (S. 392). So wird die Sachlage der rassistischen Lagergesetzgebung in Deutschland euphemistisch verdeckt, und die Objekte dieser Politik werden mundtot gemacht. Ebuas Bericht eröffnet das ganze Gebiet der kolonialen Gewalt, deren Opfer nie offiziell anerkannt wurden, und die sich bis heute innenpolitisch fortzieht, so mit der Gesetzgebung der "Residenzpflicht" in Deutschland, die Migrant/innen die Bewegungsfreiheit versagt. Ohne Worte, gedeckt vom öffentlichen Konsens wird Diskriminierung zudem mit der Vergabe von Essensmarken, und mit der systematischen Abgrenzung der Migrant/innen vom Rest der Gesellschaft in menschenunwürdigen Lagern praktiziert. So geht es laut Ebua und "The Voice" darum, während und trotz ihrer täglichen Existenzkämpfe ein "people`s commitment" zu finden, um eine anklagende Instanz und Bewegung gegenüber dem inländischen Weißen Stillschweigen befestigen zu können. Zusätzlich zu Ebuas Bericht dokumentieren weitere Beiträge, so der über die Entstehung der "Karawane", die rassistische Polizeigewalt gegen Flüchtlinge, und die Protestkundgebungen gegen die alltägliche Gewalt und Administration – das sind wohl die Kapitel über die drängendsten Mißstände und menschenrechtlichen Verbrechen im Innern dieses Landes als administrative Vorgänge im Innern der Festung Europa. Die Anlässe zum Protest der Betroffenen sowie der Antirassist/innen mit deutschem Paß auf dieser Ebene reißen nicht ab.

Kien Nghi Ha,
Nicola Lauré al-Samarai,
Sheila Mysorekar (Hg.)

re/visionen
Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland

ISBN-13: 978-3-89771-458-8
Ausstattung: br., 456 Seiten
Preis: 24.00 Euro

Unrast Verlag