Am Donnerstag vergangener Woche hat Frankreich eine
„historische“ Streikbeteiligung in seinen Transportbetrieben
erlebt. Über 73 Prozent aller Eisenbahner/innen, sowie knapp
59 Prozent der Beschäftigten bei den Pariser Verkehrsbetrieben
der RATP (Régie autonome des transports parisiens) und 45
Prozent der Beschäftigten bei den
Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF beteiligten sich am
Arbeitskampf gegen die Pläne zur Abschaffung ihrer relativ
günstigen Rentenregelungen. Nunmehr stellt sich allerdings die
Frage, wie es in naher Zukunft weitergeht. Die
Entschlossenheit der Regierung, den angeblichen „Privilegien“
der Lohn- und Gehaltsempfänger/innen in diesen Sektoren
definitiv den Garaus zu machen, ist ungebrochen. Der
Kampfeswillen der wichtigsten Gewerkschaftsverbände ist bisher
nicht auf der Höhe der Herausforderungen, die an sie gerichtet
sind.
An
dem Versuch, die ‚Régimes spéciaux’ genannten Sonderregelungen
zur Rente bestimmter Berufsgruppen, insbesondere aber der
französischen Transportarbeiter abzuschaffen, hat sich schon
manche Pariser Regierung die Zähne ausgebissen. Der damalige
Premierminister Alain Juppé und - hinter ihm stehend – Sarkozys
Amtsvorgänger Jacques Chirac mussten im Winter 1995/96 ein
entsprechendes Vorhaben ersatzlos zurückziehen. Zuvor hatte ein
dreiwöchiger Streik in allen öffentlichen Diensten den Betrieb
des Landes teilweise lahmgelegt. Die damalige Periode, von
manchen Linken auch poetisch als „ein Mai im Dezember“
bezeichnet – unter Anspielung auf 1968, obwohl beide historische
Situationen sehr unterschiedlich waren – sorgte nicht nur dafür,
dass die Juppé-Regierung fortan in der Defensive stand. Kein
Vorhaben konnte sie mehr ankündigen, ohne dass sich sofort
massive Widerstände dagegen regten. Denn nachdem eine
Streikbewegung unterstrichen hatte, dass die Regierung auch
verlieren konnte, war die Phase der Resignation für die soziale
und politische Opposition auf einmal zu Ende.
Ein Rückblick
Bleierne Lähmung hatte bis dahin auf der Linken vorgeherrscht,
aus mehreren Gründen. Aufgrund der frustrierenden Bilanz der so
genannten „Linksregierungen“ unter François Mitterrand seit den
achtziger Jahren, aufgrund des mit dem Wegfall des
Systemgegensatzes 1989 auf vielen Kanälen verkündeten „Endes der
Geschichte“, und weil ein Teil der Arbeiterschaft von der
aufstrebenden extremen Rechten angezogen wurde. Plötzlich aber
kehrte wieder Leben in die sozialen Bewegungen und in die
Opposition. Von der antifaschistischen Bewegung über die damals
breit verankerte Solidarität mit den Sans papiers –
illegalisierten Einwanderern – bis hin zu gewerkschaftlichen
Streiks wurden alle Widerstandspotenziale beflügelt.
Im
Frühsommer 2003 dann konnte Premierminister Jean-Pierre Raffarin
- wiederum mit Chirac im Rücken - zwar eine regressive „Reform“
der Renten im privaten Industrie- und Dienstleistungssektor
sowie für die unmittelbar vom Staat angestellten öffentlich
Bediensteten durchsetzen. Darauf, die Pensionsregelungen auch
für die Lohn- und Gehaltsempfänger in bestimmten öffentlichen
Unternehmen wie der Bahngesellschaft SNCF und der Pariser
Verkehrsgesellschaft RATP – die nicht unmittelbar dem Staat
unterstellt sind, sondern deren Arbeitsbedingungen und
Rentenregelungen von einem besonderen „Personalstatut“ geregelt
werden – zu „reformieren“, verzichtete Raffarin 2003 hingegen.
Diese Mabnahme wurde zunächst noch zurückgestellt. Um sich
nicht die Finger zu verbrennen, und um die Eisenbahner und
RATP-Beschäftigten aus der damaligen allgemeinen Protestfront
herauszubrechen.
Tatsächlich konnte die damalige Regierung die
Transportbediensteten zum Teil aus der damaligen Streikfront
herauslösen: Die SNCF- und RATP-Beschäftigten traten zwar im
Anschluss an die erste Grobdemonstration
vom 13. Mai 2003 gegen die allgemeine „Rentenreform“ spontan in
den Solidaritätsstreik. Aber die Regierungs- und Medienpropagada
stellte darauf ab, dieser Ausstand sei illegitim, da doch diese
Beschäftigten „gar nicht von der Reform betroffen“ seien. Das
war zwar fadenscheinig, da allen ehrlichen BetrachterInnen klar
sein musste, dass die „Reform“ für diese Beschäftigtengruppen
nur aufgeschoben, aber eben nicht aufgehoben sein würde.
Hellsichtige Beobachter sagten aber bereits damals voraus, dass
die Angelegenheit selbstverständlich einige Jahre später auch
für die Mitarbeiter der SNCF und RATP wieder aufs Tapet gebracht
werden würde, wenn diese dann allein für ihre Interessen
kämpften müssten – isoliert von den übrigen Lohn- und
Gehaltsempfängern im Lande, deren Rentenregelungen bereits Jahre
zuvor verschlechtert worden sein würden. Doch die bürgerliche
Propaganda verfing in Teilen der Öffentlichkeit. Zudem trugen
damals auch die Gewerkschaftsapparate dazu bei, den Streik der
Transportbediensteten abzuwûrgen. Aus Furcht, deren Ausstand
könne in Teilen der Öffentlichkeit unpopulär wirken, wurden die
Streikenden wurden namentlich durch die CGT-Leitung
zurückgepfiffen. Letztere hatte damit Selbstmord aus Angst vor
dem Tode begangen: Einmal der Kampfkraft der
Transportbeschäftigten beraubt – deren Ausstand es zumindest
potenziell vermag, die Alltagsroutine auch für andere
Beschäftigtengruppen zu unterbrechen und dadurch zum
Kristallisationspunkt für einen allgemeinen Ausstand zu werden -
, fiel der sonstige Streik kläglich in sich zusammen. Zwar
mobilisierte die CGT noch über mehrere Wochen hinweg alle acht
Tage hindurch ihre Truppen auf dem Pariser Asphalt. Erreichen
konnte sie dadurch allerdings nichts. Die „Rentenreform“ wurde
verabschiedet. Zwar wurde versprochen, sie im Jahr 2008 nochmals
zu „überdenken“. Das Ergebnis dürfte aber von vornherein
feststehen, denn der damalige „Reformmacher“ und Sozialminister
François Fillon amtiert nun als Premier.
Dereinst mussten die meisten Lohnabhängigen in Frankreich 37,5
Beitragsjahre hindurch in die Rentenkasse einbezahlen, um eine
volle Pension zu beziehen. Erstmals wurde diese Regel 1993 durch
die konservativ-reaktionäre Regierung von Edouard Balladur
abgeändert: Die Beschäftigten im privaten Industrie- oder
Dienstleistungsgewerbe mussten künftig 40 Jahre einbezahlen. Für
die Staatsbediensteten blieb es zunächst noch bei 37,5 Jahren.
Die Ungleichzeitigkeit bei der „Reform“ resultierte daraus, dass
die Privatbeschäftigten während der tiefen Rezension der Jahre
1992/93 – die von einem extremen Anstieg der Arbeitslosigkeit
begleitet war – weitgehend in die Defensive gedrängt waren. Die
öffentlich Bediensteten und ihre Gewerkschaften flöbten
der Regierung zunächst noch Furcht ein. Aber das Kabinett
Balladur hatte dadurch eine Zeitbombe platziert, die nur darauf
wartete, gezündet zu werden.
Denn
zehn Jahre später versuchte seine konservative
Nachfolgeregierung unter Raffarin, kräftig den Sozialneid
anzufachen, indem es die öffentlich Bediensteten – Lehrer,
Krankenschwestern, Archäologen – als „Privilegierte“
hinzustellen, die nur für ihre Besitzstandswahrung streikten.
Zum Teil ging diese Rechnung auf, auch wenn die 2003er Reform
real für alle Lohn- und Gehaltsempfänger – auch jene im
Privatsektor – erhebliche Verschlechterungen mit sich brachte.
Denn für alle Beschäftigtengruppen sollte die Anzahl der
obligatorischen Beitragsjahre nun bis auf 42,5 angehoben
werden.
Das gallische Dorf der (bisher noch) Unbeugsamen
Es
blieben jene Lohnabhängigen übrig, die unter Sonderregelungen
fallen. Diese ‚Régimes spéciaux’ resultieren zum Gutteil aus der
Periode unmittelbar nach der Befreiung 1944, als im Rahmen des
„historischen Komprisses“ zwischen Kommunisten und Gaullisten –
der in der Führung der Résistance geschlossen worden war –
entschieden wurde, bestimmte Sektoren wie Transport und
Energieversorgung dem Privatsektor und den Marktgesetzen zu
entziehen. Zudem rechtfertigte sich die Regelung, dass etwa die
Eisenbahner früher – mit 55, die Lokführer schon ab 50 – in
Rente gehen durften, mit den damals besonders extremen
Arbeitsbedingungen auf den Dampflokomotiven. Später dienten die
in den öffentlichen Diensten errungenen Arbeitsbedingungen den
Gewerkschaften in anderen Sektoren dazu, ähnliche Bestimmungen
als in Arbeitskämpfen und Verhandlungen zu erreichendes Ziel zu
fixieren. So sollten alle Berufsgruppen, durch „Anpassung nach
oben hin“, ihre Lage verbessern können.
Heute
hat die Regierung sich zum Ziel gesetzt, das Gegenteil zu
vollführen, also für alle Lohnabhängigen durch „Anpassung nach
unten hin“ die Bedingungen zu nivellieren. Wer sich dem
widersetzt, wird als „Verteidiger ungerechtfertiger Privilegien“
gescholten. Nur zwei Gruppen, die – neben Eisenbahner,
Métrobeschäftigten, den Mitarbeitern von Pariser Operhäusern und
den aussterbenden Bergleuten – ebenfalls von Sonderregelungen
bei der Rente profitieren, bleiben dabei zur Zeit völlig
ausgeklammert. Es handelt sich um hauptberufliche Militärs und
Abgeordnete.
Die
Arbeitsbedingungen auf den Dampflokomotiven seien historisch
überholt, verkündet die Regierung. In ihrer Rhetorik taucht hin
und wieder die Ankündigung auf, man solle sich stattdessen
überlegen, wer „wirklich unter erschwerten Bedingungen hart
arbeitet“ und dadurch eine Sonderregelung verdiene. Bisher
funktioniert die Berufung darauf allerdings nur als Einbahnstrabe:
Den Eisenbahnern soll ihre günstigere Rentenregelung weggenommen
werden - dass stattdessen andere hart arbeitende Gruppen
ihrerseits neu in den Gunst früherer Renten kämen, hat man
allerdings bisher noch nie vernommen. Und was den
antifaschistischen Nachkriegs-Sozialkompromiss betrifft, so hat
Denis Kessler – der Chefideologe des Arbeitgeberverbands MEDEF –
am 4. Oktober 2007 im Wochenmagazin Challenges die Parole
ausgegeben, man müsse endlich „das Programm des Conseil national
de la Résistance von 1945“ (in Wirklichkeit: vom 15. März 1944,
Anm. d. Verf.) demolieren, „um Frankreich zukunftsfähig zu
machen“.
„Öffentliche Meinung“ auf der Kippe
Und
wie reagiert die französische Öffentlichkeit auf diese Pläne?
Bislang erweist sie sich als gespalten. Je nachdem, wie die
Frage formuliert wird, können die Antworten mal so und mal so
ausfallen. Die KP-nahe Tageszeitung L’Humanité erfuhr in einer
Umfrage, dass 54 Prozent der Befragten den Streik der
Eisenbahner vom vergangenen Donnerstag unterstürzten. Hingegen
will die Gratis-Tageszeitung Métro – die wirtschaftsliberaler
Propaganda verpflichtet ist – herausgefunden haben, dass 61
Prozent ihn ablehnten. Es kommt eben darauf an, wie man fragt.
Diesbezüglich kann die Stimmung wohl in der einen oder anderen
Richtung kippen. Allerdings wurden vergangene Streiks ähnlicher
Art noch durch deutliche, massive Sympathiewellen der
französischen Gesellschaft getragen. Heute ist die Situation
dagegen wesentlich offener und unsicherer.
Streik durchschlagend, Demos eher flau
Der
Ausstand am vorigen Donnerstag fiel massiv aus. 73,5 Prozent
Streikbeteiligung – laut Angaben der Direktion der
Bahngesellschaft SNCF – bilden einen historischen Rekord, wie er
seit den 1930er Jahren nicht erreicht worden war. Beim massiven
Transportstreik im Spätherbst 1995 waren es noch 67 Prozent
gewesen. Die Strabendemonstrationen
fielen hingegen relativ schwach aus, mit 150.000 Personen auf
der Strabe
laut der Polizei und 300.000 nach Angaben der CGT. Hingegen fiel
positiv auf, dass bei weitem nicht nur Transportbeschäftigte auf
der Strabe
waren, sondern eine Vielzahl sozialer Gruppen, die mehrheitlich
nicht von den ‚Régimes spéciaux’ betroffen sind.
Die
Demonstrierenden hatten verstanden, dass es bei weitem nicht nur
um die Interessen einer oder zweier Berufsgruppen geht. Nicolas
Sarkozy möchte unbedingt seine „Durchsetzungsfähigkeit“ an dem
Knackpunkt der Abschaffung der „Sonderregelungen“ bei den Renten
beweisen. Eine solche Machtdemonstration würde er als Dreh- und
Angelpunkt benutzen, um das soziale Kräfteverhältnis insgesamt
zugunsten von Regierung und Kapital aufzurollen.
Gewerkschaftliche Spaltung und Strategien der Dachverbände
Am
Montag dieser Woche trafen sich die unterschiedlich
ausgerichteten Gewerkschaften, die in den französischen
Transportbetrieben vertreten sind, am Hauptsitz des größten
französischen Gewerkschaftsbunds CGT in Montreuil bei Paris. Am
Ende einer dreistündigen Diskussion wurde beschlossen, sich am
31. Oktober wieder zu treffen, um dann über eine eventuelle
Wiederaufnahme des Streiks zu beraten. Zwischenzeitlich sollen
die Verhandlungen beginnen; am morgigen Mittwoch werden zunächst
die (rechtssozialdemokratische) CFDT und die
(„postkommunistische“) CGT beim Arbeits- und Sozialminister
Xavier Bertrand empfangen, um über die Bedingungen der „Reform“
der Rentenregelungen in den Transportbetrieben und anderen
Sektoren, wo bislang „Sonderregelungen“ gelten, zu diskutieren.
Die
Führung der CGT, die (mit 40,9 Prozent der Stimmen bei den
letzten Personalvertretungswahlen der französischen
Bahngesellschaft SNCF) noch immer die mit Abstand stärkste
Gewerkschaft unter den Eisenbahner/inne/n darstellt – obwohl sie
gegenüber früheren Perioden an Terrain verloren hat -, hatte
beim Streik vom vorigen Donnerstag stark auf dessen zeitliche
Begrenzung insistiert. Sowohl die branchenübergreifende Leitung
des Dachverbands CGT als auch die Eisenbahner-Sektion traten
jeweils für die strikte Einhaltung der Formel <vingt-quatre
carré> („eckige 24“ oder auch „24 im Quadrat“) ein, also für
einen Ausstand, der innerhalb von 24 Stunden durchgeführt und
danach beendet werden soll.
Dagegen hatten die linksalternative Basisgewerkschaft SUD Rail
(die 14,9 Prozent der Stimmen bei den Personalvertretungswahlen
der SNCF „wiegt“) wie auch die populistisch-schillernde
FO-Eisenbahner (6,6 % der Stimmen bei der SNCF) für eine
unbefristete Fortführung des Streiks über die 24 Stunden hinaus
plädiert. Zunächst stand auch die berufsgruppenspezifische
Lokführergewerkschaft FGAAC - die 3 Prozent des Personals der
Bahngesellschaft SNCF, aber gut 30 % der Lokführer/innen
vertritt – auf ihrer Seite. Am vorigen Donnerstag Abend
schwenkte sie jedoch um. Dies lag daran, ass den von ihr
ausschließlich vertretenen Lokomotivführen spezifische
Zugeständnisse angeboten worden sind. In Aussicht gestellt wurde
ihnen konkret, auch in Zukunft fünf Jahre früher als andere
Eisenbahnbeschäftigte in den Ruhestand zu gehen. Bislang können
die SNCF-Mitarbeiter/innen ab 55 in Rente abgehen, die Lokführer
hingegen ab 50. Nunmehr wird dieses Mindestalter laut den Plänen
von Regierungschef François Fillon (bis 2012) auf 60 Jahre
angehoben; gleichzeitig soll nur noch eine volle Pension
beziehen können, wer (ab 2012) mindestens 40 Beitragsjahre in
die Rentenkassen einbezahlt hat. Aber, kündigte François Fillon
am frühen Abend des Donnerstag an, aufgrund besonderer
Anrechnungsmechanismen soll es den Lokführer/inne/n erlaubt
werden, bereits ab 55 (statt bisher 50; und statt 60 für die
übrigen Eisenbahner/innen) ihren Rentenanspruch geltend zu
machen. Daraufhin sah die FGAAC „keinen Anlass“ mehr zum
Weiterstreiken, was die anderen Gewerkschaften erzürnte, da
dieser Abgang erfolgte, „noch bevor die Verhandlungen überhaupt
begonnen haben“ (laut CGT).
Das
Kalkül der CGT ihrerseits – das sie für befristete, aber gegen
unbefristet fortgeführte Streiks wie 1995 eintreten lässt -
lautet, dass (einerseits) das Risiko, einen Streik der
Transportbetriebe nach ein paar Tagen unpopulär werden zu sehen,
vermieden werden solle. Darüber hinaus ist die CGT
(andererseits) auch nicht gewillt, das Risiko einzugehen, mit
einem hohen Einsatz zu spielen und danach zu verlieren. Ihre
grundlegende Furcht lautet, dass eine unter Aufbietung großer
Energien gesuchte Kraftprobe, wenn sie denn verloren geht, über
längere Jahre hinaus die französischen Gewerkschaften in die
Defensive (zurück)werfen könnte. Ähnlich, wie die damalige
britische Premierminister Margarat Thatcher nach der Niederlage
der Lohnabhängigen im nordenglichen Bergarbeiterstreik 1984/85
den Gewerkschaften eine strategische Niederlage, mit länger
anhaltenden Konsequenzen, zugefügt hatte. Deshalb möchte die CGT
den Einsatz, die „Kampfzone“ und das Risiko von vornherein
begrenzen. Gleichzeitig hat die Erfahrung im Streik um die
regressive „Rentenreform“ im Mai/Juni 2003 -– in dessen Verlauf
der Apparat der CGT den spontan ausgebrochenen Transportstreik
schnell abgewürgt hatte, um danach zu versuchen, ihn auf
Sparflamme alle paar Tage wieder hochkochen zu lassen, was
freilich scheiterte, nachdem einmal die Luft draußen war –
erwiesen, dass man in dieser Hinsicht auch „Selbstmord aus Angst
vor dem Tode“ begehen kann.
Gleichzeitig zeichnet sich ein wichtiger Abgang ab, der die
Gewerkschaftsfront wesentlich tiefer spalten würde. Am
Wochenende kristallisierte sich nämlich heraus, dass der
sozialliberale Gewerkschaftsdachverband CFDT (die bei den
Eisenbahner zwischen 10 und 15 Prozent der Stimmen „wiegt“) aus
der bisher vordergründig bestehenden einheitlichen
Ablehnungsfront der Gewerkschaften ausscheren dürfte. Denn der
für die Renten zuständige nationale Sekretär der CFDT,
Jean-Louis Malys, hatte bereits am Donnerstag an Arbeits- und
Sozialminister Xavier Bertrand geschrieben, um ihm seine
„Vorschläge“ zu unterbreiten. Am Sonntag verlautbarte, dass die
Regierung Anstalten unternahm, auf die CFDT zuzugehen. Im
Angebot bei der CFDT: Zwar wird eine Abschaffung der ‚Régimes
spéciaux’ (Sonderregelungen bei der Rente) bis 2012 von ihr als
inakzeptabel betrachtet. Aber bis 2014, ja, da könnte man doch
glatt mit sich reden lassen… Konkret hatte die Regierung
(nachdem sie lange Zeit noch offen gelassen hatte, ob sie die
‚Régimes spéciaux’ nun bis 2012 oder „erst“ bis 2017 abschaffen
möchte) in Aussicht gestellt, für die betroffenen Lohnabhängigen
pro Jahr bis 2012 zwei Trimester (oder ein halbes Jahr)
erforderlicher Beitragssätze hinzuzufügen, um bis in fünf Jahren
die frühere Verrentungsmöglichkeit abzuschaffen. Nunmehr schlug
die CFDT also vor, pro Jahr „nur“ ein Trimester bis 2011, und in
den Jahren danach bis 2014 dann zwei Trimester draufzuschlagen.
Toller Kompromissvorschlag, wahrhaftig. Oder: Der Verrat scheint
bei der CFDT zur zweiten Natur geworden zu sein…
Sonstige Aussichten
Unterdessen haben die unterschiedlichen Gewerkschaften im
sonstigen öffentlichen Dienst (bei den LehrerInnen,
Krankenschwestern, …) am Montag angekündigt, am 20. November in
den Ausstand zu treten. Es soll um eine Anhebung der Löhne und
Gehälter – vor dem Hintergrund der seit 2000 anhaltenden Erosion
der Kaufkraft – sowie um eine Bekämpfung des durch die Regierung
rabiat verfolgten Stellenabbaus in den öffentlichen Diensten
gehen. Nach den derzeitigen Regierungsplänen soll im kommenden
Jahr 2008 jeder dritte durch altersbedingte und sonstige Abgänge
frei gewordene Arbeitsplatz in den öffentlichen Diensten nicht
wieder besetzt werden ; in der Periode 2009 bis 2012 soll dies
gar für jeden zweiten Arbeitsplatz dort gelten.
Möglicherweise wird sich ja um diesen Arbeitskampf etwas herum
kristallisieren. Und im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen
um die „Reform“ der spezifischen Rentenregelungen im
Transportsektor (dessen Abschaffung die zahlenmäßig wichtigsten
Gewerkschaften voraussichtlich hinnehmen würden, falls sie im
Gegenzug höhere Pensionen und Sondergarantien für Lohnabhängige
mit spezifisch erschwerten Arbeitsbedingungen heraushandeln
können) könnten die dortigen Gewerkschaften sich unter Umständen
mit daran hängen.
Editorische
Anmerkungen
Den Artikel erhielten wir
vom Autor am 23.10.2207.