Offener Brief an die Partei von Bündnis 90 / Die Grünen zur Diskussion über die Arbeitslosengesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland

von Antonín Dick

10/07

trend
onlinezeitung

Dr. Antonín Dick

Frau
Claudia Roth
MdB
DEUTSCHER BUNDESTAG
FRAKTION BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN

Platz der Republik 1
11011 Berlin

19. Oktober 2007

Offener Brief an die Partei von Bündnis 90 / Die Grünen zur Diskussion über die Arbeitslosengesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland


Sehr geehrte Frau Roth,

mit Genugtuung haben ich und andere Aktivisten der sozialen und Menschenrechtsbewegung Ihre Kritik an besonders krassen Auswüchsen der Hartz-Gesetzgebung für Arbeitslose zur Kenntnis genommen. In Vorbereitung des Bundesparteitages der Partei von Bündnis 90 / Die Grünen, der vorrangig der sozialen Frage gewidmet sein soll, ist dies zweifelsohne ein ermutigendes Zeichen. Nach unserer Einschätzung kann diese richtige und wichtige Kritik jedoch nur ein erster Schritt sein. Es fehlt – wie übrigens bei den Sozialdemokraten auch – die rückhaltlose Analyse der geistig-politischen Voraussetzungen, die maßgeblich zur Politik der Agenda 2010 mit ihren Hartz-Gesetzen geführt haben. Am Ende dieses Weges der Wahrheitssuche kann u. E. nur eines stehen: eine aufrichtige Entschuldigung der für diese Politik zuständigen Verantwortungsträger vor dem Volk. Nur so kann zerstörtes Vertrauen wiedergewonnen werden.

In Übereinstimmung mit der von Ihnen geäußerten Kritik erlaube ich mir, Ihnen zwei publizierte Untersuchungen als Beitrag zu dieser dringend erforderlichen Analyse zuzuleiten – auch als Anregung des von Ihnen angestoßenen kritischen Prozesses innerhalb Ihrer Partei, der Sie, sehr geehrte Frau Roth, als Vorsitzende vorstehen.

Die eine Untersuchung, die von 2003 (siehe Anlage 1), beschäftigt sich mit der Genesis der Hitlerschen Arbeitslosenpolitik vor und nach 1933. Die andere Untersuchung, die von 2007 (siehe Anlage 2), beschäftigt sich mit der Genesis der deutschen Arbeitslosenpolitik zwei Generationen später. Mit Erschrecken haben unzählige Aktivisten und unmittelbar Betroffene gewisse Parallelen zwischen den beiden Arbeitslosenpolitiken festgestellt, auch wenn niemand deswegen auf die Idee gekommen wäre, eine bewußte Bezugnahme zu unterstellen. Aber allein schon die Tatsache, daß diese Parallelen existieren, müßte jedem aufrechten Demokraten die Augen öffnen. Wir haben kein Recht dazu, aus falsch verstandenem Antifaschismus oder vom hohen Roß der vernünftig gewordenen Erben der Geschichte diese Parallelen zu leugnen. Sie sind nun einmal da und sprechen eine eigene Sprache – und dies unabhängig davon, ob uns dies schmeckt oder nicht.
Der Hinweis auf die normative Kraft des Faktischen – darin stimmen wir sicherlich überein – würde keine wahrheitsgetreue Analyse ersetzen. Allein schon diese Parallelen schreien nach einer Analyse. Wir stehen alle in der Verantwortung vor der Geschichte, die geschehen ist.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Antonín Dick

Anlagen:

1. Antonín Dick: Kapital für Arbeit 1933. Die Wahrheit über die NS-Arbeitslosenpolitik, „Neues Deutschland“ vom 10. / 11. Mai 2003

2. Antonín Dick: 13 Täuschungsmodule. Agenda Ausgrenzung. Zum fünften Jahrestag der Einsetzung der Hartz-Kommission, „junge Welt“ vom 21. Februar 2007

+++

Die Wahrheit über die NS-Arbeitslosenpolitik
Kapital für Arbeit anno 1933

Das von der letzten sozialdemokratisch geführten Regierung der Weimarer Republik ausgearbeitete Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung war noch vom Geist der Achtung der Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit durchdrungen. Para-graf 62, Absatz l beispielsweise bestimmte: »Soweit ein Tarifvertrag besteht, darf die Vermittlung beteiligter Arbeitnehmer an beteiligte Arbeitgeber... nur zu tariflich zulässigen Bedingungen erfolgen.« Und im Paragrafen 61 hieß es: »Arbeitsvermittlung und Berufsberatung für Frauen sind in der Regel durch Frauen auszuüben.«

Für die an die Macht strebenden'Nazis war diese Art des Umgangs mit Arbeitslosen absolut unannehmbar. Nur wenige Wochen nach Verabschiedung dieses Gesetzes am 27. Juli 1927 durch den Reichstag übergab Adolf Hitler an führende Großunternehmer eine geheime Denkschrift, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig ließ. Ihr Titel: »Der Weg zum Wiederaufstieg«. Angefertigt sei sie, wie im Deckblatt ausgewiesen, auf Wunsch von Emil Kirdorf, Großindustrieller aus dem Ruhrgebiet, Direktoriumsmitglied des Zentralverbandes Deutscher Industrieller und seit 1927 Mitglied der NSDAP. Hitler offenbarte dem deutschen Großkapital unmissverständlich, dass Voraussetzung für den imperialen »Wiederaufstieg« Deutschlands aus der Kriegsniederlage von 1918 nur eine die deutsche Nachkriegsgesellschaft homogenisierende »Wiedergewinnung der inneren Kraft der Nation« sein könne. Es sei notwendig, die divergierenden sozialen Klassen und Gruppen aufzuheben und »an diese Stelle eine zusammenfassende deutsche Einstellung« zu setzen, also die »Bildung eines einheitlichen Nationalkörpers« und »restlose Eingliederung des so genannten vierten Standes« - womit die Arbeiterschaft gemeint war - in die »Volksgemeinschaft«. Diese »Millionenmasse« sei »den Händen ihrer derzeitigen internationalen, meist undeutschen Verführer und Leiter« zu entreißen.

Im Januar 1933, als Hitler mit Hilfe des deutschen Großkapitals an die Macht gelangte, hatte die Arbeitslosenzahl in Deutschland die sechs-Millionen-Marke . überschritten. Tempo und Modus, mit denen nun der Diktator deren »Eingliederung in den Rahmen der Nation und des Staates« betrieb, waren monströs. Man schaue sich nur die schnelle Abfolge der Gesetze und Verordnungen an, die er nach der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 auf den Weg brachte, um den verfassungsmäßig garantierten Rechtsschutz für Arbeitslose für immer annullieren zu können. Bereits ein Vierteljahr nach Errichtung der Diktatur, am l. Juni 1933, erließ er das Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit, das eine massive Komplizenschaft des Staates mit dem Kapital zur Voraussetzung hatte. Unter der beschönigenden Devise »Kapital für Arbeit« sollte ein gemeinsamer Fonds eingerichtet werden, mit dem dann im großen Stil ein Billiglohnsektor aufzubauen wäre. Dies würde zur Lösung zweier Grundprobleme der deutschen Gesellschaft beitragen: zur Auflösung der sozialistisch und internationalistisch beein-flussten »Millionenmasse« von Arbeitslosen sowie zur Sanierung und Modernisierung des Staates in Richtung »Wiederaufstieg« Deutschlands zur beherrschenden Großmacht in Europa.

Der Plan gelang. Zehntausende von Arbeitslosen wurden nach der Hitlerschen Arbeitslosengesetzgebung zwangsweise für ein geringes Entgelt zu Instandsetzungsarbeiten an öffentlichen Gebäuden, zu Brückenarbeiten, zu Arbeiten in der Landwirtschaft, zu Flussregulierungs-arbeiten und zu Arbeiten in den Bereichen der staatlichen Gas-, Wasser- und Stromversorgung herangezogen. Der überwiegende Teil dieser »Arbeitsförderung« bezog sich jedoch auf einen Bereich, der im Gesetzestext sprachlich neutral als »Tiefbauarbeiten (Erdarbeiten)« ausgewiesen wurde, in Wahrheit jedoch die Erfüllung eines strategischen Staatsauftrages zur allgemeinen Mobilmachung und Vorbereitung eines Angriffskrieges bedeutete: den Bau modernster Autobahnen.

1935 wurden 112 Kilometer Autobahn aus dem Boden gestampft und dem Verkehr übergeben. Mitte des Jahres 1938 waren es bereits 2150 Kilometer. Bei diesem expandierenden Großprojekt waren Hunderttausende von Arbeitslosen eingesetzt, die ihrer Rechte beraubt und in Kolonnen zu unfallbelasteter Schwerstarbeit gepresst wurden. Gemäß Paragraf 2, Ziffer 6 des Gesetzes zur Verminderung der Arbeitslosigkeit stand den Autobahn-Erbauern eine Art Billigkombilohn zu: Arbeitslosenhilfe plus Bedarfsdeckungsgutschein zum Kauf von Kleidung und Hausgeräten plus eine warme Mahlzeit je Arbeitstag. Über diese vermeintlichen Privilegien sollte der »vierte Stand« gefügig gemacht werden. Und in der Tat erkannten viele nicht den wahren Charakter Hitlerscher »Arbeitsförderung« als hemmungslos ausbeutende Fronarbeit.

Bereits 1934 stellte Hitler auf einer Massenveranstaltung in Nürnberg auch sel-; nen »Reichsarbeitsdienst« vor, der die zwangsweise »Durchführung gemeinnütziger Arbeiten« in den Rang eines Staatsziels zur Erziehung der »jungen Deutschen zur wahren Arbeitsauffassung« heben sollte. Ein Augen- und Ohrenzeuge, der US-Diplomat William L. Shirer, notierte am 6. September d.J. in sein Tagebuch über den RAD: »... dieser erweist sich als straff gedrillte paramilitärische Formation junger Nazis. Fünfzigtausend von ihnen, die ersten Tausend mit nacktem Oberkörper, standen in morgendlichem Sonnenschein, der sich auf ihren blanken Spaten spiegelte, und versetzten die deutschen Zuschauer urplötzlich in Begeisterung, als sie ohne vorherige Ankündigung in perfektem Stechschritt losmarschierten.« Der RAD wurde ein Dreivierteljahr später, am 26. Juni 1935, zum Gesetz erhoben. Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 25 konnten nunmehr für ein halbes Jahres wie Rekruten einberufen werden. Der RAD unterstand dem Innenministerium. Im quadratischen Emblem der »Arbeitsdienstpflichtigen« prangte ein Spaten, flankiert von zwei Ähren.

Die totale Verfügung des Staates über den »vierten Stand«, ob Arbeitslose oder Beschäftigte, war dann spätestens mit der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (22. Juni 1938) allgemeine Staatsräson geworden. Paragraf l dieser Verordnung bestimmte: »Deutsche Staatsangehörige können vom Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung für eine begrenzte Zeit verpflichtet werden, auf einem ihnen zugewiesenen Arbeitsplatz Dienste zu leisten oder sich einer bestimmten beruflichen Ausbildung zu unterziehen.«

1939 gab es in Deutschland zwar nur noch 118915 Arbeitslose. Aber Marxismus und Internationalismus, die »geistige Seuche«, wie Hitler sich in der eingangs zitierten Denkschrift äußerte, waren zerschlagen. Der Terror gegen die Arbeiterschaft erfolgte mit stillschweigender Billigung durch die Arbeiterschaft. Das Jahr 1939 mit der maximalen Eingliederungsquote war auch jenes Jahr, in welchem Hitler den »Wiederaufstieg« Deutschlands, den er dem deutschen Industriekapital versprochen hatte, auf blutigste Weise in die Tat umzusetzen begann - kraft Entfesselung des Zweiten Weltkrieges.

+++

13 Täuschungsmodule
Agenda Ausgrenzung: Zum fünften Jahrestag der Einsetzung der Hartz-Kommission.

Vor fünf Jahren, am 22. Februar 2002, wurde seitens der »rotgrünen« Bundesregierung die Hartz-Kommission (HK) eingesetzt. 14 Tage später schrieb ich dem Vorsitzenden Peter Hartz einen Brief: »Wird hier nicht die sattsam bekannte >Reform von oben< betrieben? Warum ist kein Angehöriger der gesellschaftlichen Gruppe in der Kommission, um die es doch im Kern geht? Woher wollen Sie Ihr empirisches Wissen über die reale Lage der Arbeitslosen beziehen?« Auf eine Antwort warte ich bis heute. Kürzlich interviewte ich das HK-Mitglied Heinz Fischer, damals Personalvorstand Deutsche Bank. Er pflichtete mir in der Kritik am Ausschluß von Arbeitslosenvertretern bei.

Im Spätsommer 2002 legte die Kommission ihr Arbeitsergebnis vor: 13 »Innovationsmodule«. Damit sollte die Zahl der Arbeitslosen bis 2005 halbiert werden? »Schaumschlägerei«, polterte Hermann Schert von der Uni Erlangen. Um von der wahren Absicht abzulenken, ist hinzuzufügen. Zwei Täuschungsmodule mit dem Etikett »Senkung der Arbeitslosenzahl um eine Million« gingen zunächst als Großtaten durch, verschwanden dann in der Versenkung: die »Personal Service Agenturen« und die »Ich-AGs«. Aus 4.296.000 Arbeitslosen im Februar' 2002 wurden 5.216.000 im Februar 2005. Im vergangenen Januar waren es 4.247.000. Von welcher Absicht aber sollte abgelenkt werden?

Unter Tage

Dringlichster Auftrag des Bundeskanzlers Gerhard Schröder war die Durchsetzung eines rechtsfähigen Konstrukts. das Millionen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern garantierte Menschenrechte aberkennt. Heute ist dieses Konstrukt einschlägig bekannt unter dem blockhaften, grammatikalisch geschlechtslosen Namen »Hartz IV«.

Artikel 5 Abs. 2 der EU-Charta der Grundrechte: »Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflicht-arbeit zu verrichten.« - »Hartz' IV« basiert auf Zwangsarbeit. Artikel 13 Abs. I Grundgesetz: »Die Wohnung ist unverletzlich.« - »Hartz IV«-In-spektoren durchsuchen Arbeilslo-senwohnungen. Artikel 8 Abs. l der EU-Charta der Grundrechte: »Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personengebundenen Daten.« - »Hartz IV« bricht sogar das Arztgeheimnis. Artikel 2 Abs. i Grundgesetz: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.« - »Hartz IV« basiert auf Verfolgungsbetreuung.

Artikel 11 Abs. l Grundgesetz: »Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.« - »Hartz IV« basiert auf Präsenzpflicht. Artikel 21 Abs. T Grundgesetz billigt allen Bürgern das Recht auf »politische Willensbildung« zu. - »Hartz IV« schließt Millionen Menschen aus dem politischen Willensbildungsprozeß aus. Der Großunternehmer Götz Werner bringt den sozialen Status der Hartz-Selektierten auf den Punkt: »Freigänger im Strafvollzug.«

In seinem neuen Roman »Kali« verdichtet Peter Handke die Situation der Ausgestoßenen zu einer beklemmenden Metapher: Sie vegetieren in einem Bergwerk. Hannah Arendt charakterisiert die Lage der Menschenrechtlosen in modernen Menschenrechtsstaaten in ihrem Hauptwerk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. »Egal, ob sie in Intemierungslagern oder in Freiheit sich bewegen«, schreibt die Politikwissenschaftlerin, »sie haben die Bezüge zu der von den Menschen errichteten Welt und zu allen jenen Bezirken menschlichen Lebens, die das Ergebnis gemeinsamer Arbeit sind, verloren.« Der wesentliche Grund dieser Ausgrenzung ist laut Arendt kein ökonomischer. Berechnungen des besagten Großunternehmers Götz Werner, des thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus oder der brasilianischen Regierung scheinen das zu bestätigen: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden Bürger wäre auch ökonomisch sinnvoll, bei aller Entschärfung der Konkurrenz. Welchen Grund gibt es dann für die Ausgrenzung?
1998 von einer Sympathiewelle An
dersdenkender an die Macht gespült, verwandelten sich die Schröders und Fischers schnell in neoliberale Verfechter eines deutschen Dominanzstaates.

Die kampferprobten Alternativen, zu denen sie einst gehörten, begannen politische Alternativen zu entwicklen. Bald dämmerte es den Regierenden, daß ihren Gegenspielern aus den radikaldemokratischen Milieus im Westen und den sozialistischen im Osten auf keinen Fall die Millionen von arbeitslosen Arbeitern und Angestellten zuströmen durften. Diese Verlierer von Globalisierung und »Reichseinheit« mußten paralysiert, d. h. der Fähigkeit zur politischen Artikulation beraubt werden. Die Verhinderung eines nach innen und außen wahrhaft demokratischen Deutschland war die eigentliche Agenda des Bundeskanzlers.

»Na bitte.«

Die »rotgrüne« Regierung folgte dabei einem Gesetz von universeller Gültigkeit. Hannah Arendt: »Seit den Römern ist uns bekannt, daß ein hoch entwickeltes öffentliches Leben (...) eine An Groll gegen das (entwickelt), was Menschen nicht gemacht haben und nicht machen können und von dem sie doch immer abhängig bleiben; politisch außen sich dieser Groll am deutlichsten in dem Unbehagen daran, daß ein jeder von uns ist. wie er ist, einzigartig, unnachahmlich, unveränderbar. Die zivilisierte Gesellschaft hat all dies in ihr Privatleben verwiesen, weil diese gegebene Einzigartigkeit alles menschlichen Daseins eine dauernde Bedrohung des öffentlichen Lebens darstellt.« Die grollenden Schröders und Fischers haben dieses Gesetz auf die Spitze getrieben, indem sie den Widerspruch /wischen dem Zivilisatorischen und Barbarischen, der jedes Mitglied einer Zivilgesellschaft konstituiert, in eine personelle Aufteilung zwischen Zivilisierten und Barbaren transformierten. Damit wurden sie zu blinden Werkzeugen einer gefährlichen Regression, in der eine »zivilisatorische Welt Barbaren aus sich selbst heraus produziert, indem sie in einem inneren Zersetzungsprozeß ungezählte Millionen von Menschen in Lebensumstände stößt, die essentiell die gleichen sind wie die (...) außerhalb aller Zivilisation lebender Barbaren«.

Bleibt folgender Nachtrag:; Zwölf der ehemaligen Mitglieder der Hartz-Kommission ersuchte ich um eine Stellungnahme zur Arbeit des Gremiums. Fünf reagierten. Zwei gewährten mir ein Interview, eines gewährte mir ein Interview mit einem Mitarbeiter, eines verwies mich auf eine Publikation, eines verweigerte jegliche Auskunft. Von den drei Gesprächen war das mit Jobst Fiedler, Seminardirektor der Hertie School of Governance, das produktivste. Wir kamen rasch zum Thema »Selbsttätigkeit der Individuen« und begannen mit der Auslotung gesellschaftlicher Gegenentwürfe zu »Hartz IV«.

Ingesamt gab es damals 15 HK-Mitglieder. Nur eines war eine Frau. Kein Mitglied stammte aus einer Familie von Einwanderern. Von den zwei Gewerkschaftsvertretern ist einer inzwischen auf die Unternehmerseite übergelaufen. Nach Ablieferung der 13 »Innovationsmodule« an den Bundeskanzler haben sich die HK-Mitglieder nie wieder getroffen. Angesichts der ständigen Überprüfung der Kommissionsvorgaben durch staatliche und gesellschaftliche Institutionen unserer Demokratie sei das auch nicht erforderlich, äußerte der Leiter der Abteilung Arbeitsmarkt, Tarifpolitik und Arbeitsrecht des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Jan Dannenbring, im Interview. »Wäre es nicht produktiv, wenn sich die 15 Mitglieder anlaßlich des fünften Jahrestages der Kommissionsgründung zwecks kritischer Aufarbeitung zu einem Streitgespräch träfen und danach die interessierte Öffentlichkeit informierten?« fragte ich. »Kennen Sie eine Kommission, die nach Abschluß ihrer Tätigkeit noch mal zusammengekommen ist?« »Nein.« »Na bitte.« Wir lachten. »Aber wäre das nicht mal eine wirkliche Innovation?« Die Systemdemokratie der vierten deutschen Republik muß durch eine experimentelle Demokratie ergänzt werden, oder sie wird keinen Bestand haben.

 

Editorische Anmerkungen

Den Offenen Brief erhielten wir von A. Dick am 19.10.07 mit der Bitte um Veröffentlichung.