Allgemein gesprochen besteht das Schicksal, die Tragödie des deutschen
Volkes darin, daß es in der modern bürgerlichen Entwicklung zu spät
gekommen ist. Dies ist aber noch allzu allgemein ausgedrückt und bedarf
der historischen Konkretisierung. Denn die historischen Prozesse sind
außerordentlich kompliziert und widerspruchsvoll, und man kann weder
vom Zufrüh noch vom Zuspätkommen an und für sich sagen, daß es
vorteilhafter als das andere sei. Man werfe nur einen Blick auf die
bürgerlich demokratischen Revolutionen: einerseits haben das englische
und das französische Volk einen großen Vorsprung vor dem deutschen
dadurch gewonnen, daß sie ihre bürgerlich demokratischen Revolutionen
schon im 17. beziehungsweise am Ende des 18. Jahrhunderts ausgefochten
haben, andererseits aber hat das russische Volk gerade infolge seiner
verspäteten kapitalistischen Entwicklung seine bürgerlich demokratische
Revolution in die proletarische überleiten können und hat sich dadurch
Leiden und Konflikte erspart, die noch heute für das deutsche Volk
bestehen.
|
|
Man muß also überall das konkrete Wechselspiel der
gesellschaftlich geschichtlichen Tendenzen in Betracht ziehen; mit
diesen Vorbehalten wird man aber finden, daß für die bisherige -
neuzeitliche - Geschichte Deutschlands hier, in der verspäteten
Entwicklung des Kapitalismus mit allen ihren sozialen, politischen und
ideologischen Folgen, das entscheidende Motiv vorliegt.
Die großen europäischen Völker haben sich
am Anfang der Neuzeit zu Nationen konstituiert. Sie haben ein
einheitliches nationales Territorium herausgebildet an Stelle der
feudalen Zerstückeltheit; es entstand bei ihnen eine das ganze Volk
durchdringende und vereinigende nationale Wirtschaft, eine - bei aller
Klassentrennung - einheitliche nationale Kultur. In der Entwicklung der
bürgerlichen Klasse, in ihrem Kampf mit dem Feudalismus ist überall
vorübergehend die absolute Monarchie als durchführendes Organ dieser
Einigung entstanden.
Deutschland hat gerade in dieser
Übergangszeit einen anderen, einen entgegengesetzten Weg eingeschlagen.
Das bedeutet keineswegs, daß es sich allen Entwicklungsnotwendigkeiten
des allgemeinen europäisch kapitalistischen Weges hätte entziehen
können, daß es ein völlig
einzigartiges Wachstum zur Nation erlebt hätte, wie dies die
reaktionären Historiker und in ihrem Gefolge die faschistischen
behaupteten. Deutschland hat, wie der junge Marx prägnant sagt, "die Leiden dieser Entwicklung geteilt, ohne ihre Genüsse, ohne ihre partielle Befriedigung zu teilen". Und er fügt dieser Feststellung die prophetische Perspektive hinzu: "Deutschland
wird sich daher eines Morgens auf dem Niveau des europäischen Verfalls
befinden, bevor es jemals auf dem Niveau der europäischen Emanzipation
gestanden hat."
Allerdings sind am Ende des Mittelalters, am Anfang der Neuzeit
Bergbau, Industrie und Verkehr in Deutschland stark herangewachsen,
aber doch langsamer als in England, Frankreich oder Holland. Engels
weist darauf hin, daß ein wesentliches ungünstiges Moment der damaligen
deutschen Entwicklung darin bestand, daß die verschiedenen Territorien
weniger stark durch einheitliche ökonomische Interessen verbunden waren
als die Teile der großen westlichen Kulturländer. Die Handelsinteressen
Z. B. der Hansa in Nord und Ostsee standen in so gut wie gar keinen
Beziehungen zu den Interessen der süd und mitteldeutschen
Handelsstädte. Unter solchen Umständen mußte sich die Verlagerung der
Handelswege, die infolge der Entdeckung Amerikas und' des Seeweges nach
Indien einsetzte und den Transit durch Deutschland vernichtete,
besonders katastrophal auswirken. Gerade um die Zeit, als Westeuropa,
obwohl auch die dortigen Klassenkämpfe unter religiösen Losungen
ausgefochten wurden, resolut den Weg zum Kapitalismus, zur ökonomischen
Fundamentierung und zur ideologischen Entfaltung der bürgerlichen
Gesellschaft einschlägt, bleibt in Deutschland alles Miserable an den
Formen des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit aufbewahrt. ja, diese
Miserabilität, das Sumpfartige der hier entstehenden Reaktion steigert
sich noch durch die Elemente, die in Deutschland aus dem sozialen
Inhalt dieses Übergangs rezipiert werden: durch die Verwandlung der
größeren Feudalherrschaften in einen Absolutismus (im Duodezformat,
ohne dessen progressive Seite: die Geburtshilfe bei der Erstarkung des
Bürgertums), durch die gesteigerten Formen der Bauernausbeutung, die
zwar auch in Deutschland ein Vagabundentum, eine breite Schicht von
sozial entwurzelten Existenzen schaffen wie in der ursprünglichen
Akkumulation des Westens, aus der sich jedoch da keine Manufaktur
vorhanden ist unmöglich vorproletarische Plebejer herausbilden können;
die Entwurzelten bleiben Lumpenproletarier, Menschenmaterial für
Söldner und Banditentum.
Alle diese Motive haben zur Folge, daß die
großen Klassenkämpfe vom Anfang des 16. Jahrhunderts in Deutschland
einen ganz anderen Charakter und vor allem ganz andere Folgen haben als
im Westen. Ideologisch bedeutet dies so viel, daß die humanistische
Bewegung in Deutschland viel
weniger zur Entstehung eines nationalen Bewußtseins beiträgt als dort;
auch für die Entwicklung der einheitlichen nationalen Schriftsprache
ist ihr Einfluß viel geringer. überhaupt ist es für Deutschlands
damalige Lage bezeichnend, daß die religiös ideologische Strömung des
Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit gerade hier das stärkste
übergewicht über den weltlichen Humanismus gewinnt, und zwar und dies
ist außerordentlich wichtig in ihrer sozial rückständigsten Form. Denn
es ist nicht nur für Marxisten, sondern seit Max Weber und Troeltsch
auch für die bürgerliche Soziologie fast ein Gemeinplatz, daß die
Entstehung der Reformationsbewegung mit der des Kapitalismus aufs
engste verknüpft ist. Ihre westliche, calvinistische Form wurde jedoch
zum Banner der ersten großen bürgerlichen Revolutionen in Holland und
England, zur herrschenden Ideologie der ersten Periode des
kapitalistischen Aufschwungs, während das in Deutschland
ausschlaggebend gewordene Luthertum die Unterwerfung unter den
Kleinstaatsabsolutismus religiös verklärte und einen geistigen
Hintergrund, eine moralische Unterlage für die wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rückständigkeit Deutschlands abgab.
Diese ideologische Entwicklung ist
natürlich nur der geistige Widerschein jener Klassenkämpfe, die
Existenz und Wachstumsrichtung Deutschlands für Jahrhunderte
entschieden haben. Wir meinen jene, die ihren Kulminationspunkt im
Bauernkrieg von 1525 erreichten. Die Bedeutung, die diese Revolution
und insbesondere deren Niederlage für das Schicksal Deutschlands
erhielten, beleuchtet von einer anderen Seite jenen allgemein
ökonomischen Tatbestand, von dem eben die Rede gewesen ist. Alle großen
Bauernaufstände des ausgehenden Mittelalters sind doppelseitige
Bewegungen, einerseits Abwehrkämpfe, Rückzugsgefechte der noch
feudalhörigen Bauernschaft, die ihre durch die Entfesselung der
kapitalistischen Produktionskräfte ökonomisch unwiederbringlich
verlorenen Positionen der "goldenen Zeit"
des Überganges wiedererlangen wollten, andererseits mehr oder weniger
unreife Vorhutgefechte der kommenden bürgerlich demokratischen
Revolution. Die bereits geschilderte besondere Lage Deutschlands bringt
es sowohl mit sich, daß beide Seiten der Bauernrevolten im deutschen
Bauernkrieg prägnanter hervorstechen als sonst (man denke, um die
progressive Komponente hervorzuheben, an das Programm Wendel Hipplers
zur Reichsreform, an die plebejische Bewegung unter der Führung Thomas
Münzers), wie daß die Niederlage nicht gutzumachende katastrophale
Folgen hat. Wozu das Kaisertum unfähig war, das wollte die
Bauernrevolution fertig bringen: die Vereinigung Deutschlands, die
Liquidation der sich stets verstärkenden feudal absolutistischen
zentrifugalen Tendenzen. Die Niederlage der Bauern mußte gerade diese
Kräfte verstärken. An die Stelle der rein feudalen Zerstückeltheit trat
ein modernisierter Feudalismus:
die kleinen Fürsten, als Sieger und Nutznießer der Klassenkämpfe,
stabilisierten die Zerrissenheit Deutschlands. So wird Deutschland
infolge der Niederlage der ersten großen Revolutionswelle (Reformation
und Bauernkrieg) wie, aus anderen Gründen, Italien zu einem machtlosen
Komplex kleiner, formell selbständiger Staaten und als solcher zum
Objekt der Politik der damals entstehenden kapitalistischen Welt, der
großen absoluten Monarchien. Die mächtigen nationalen Staaten (Spanien,
Frankreich, England), die Habsburgische Hausmacht in Österreich,
vorübergehend auftauchende Großmächte wie Schweden, seit dem 18.
Jahrhundert auch das zaristische Rußland entscheiden über das Schicksal
des deutschen Volkes. Und da Deutschland als Objekt der Politik dieser
Länder für sie zugleich ein nützliches Ausbeutungsobjekt ist, sorgen
sie dafür, daß die nationale Zerstückeltheit weiter aufrechterhalten
bleibt.
Indem Deutschland zum Schlachtfeld und zum
Opfer der widerstreitenden Großmachtinteressen Europas wird, geht es
nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch und kulturell zugrunde.
Dieser allgemeine Verfall zeigt sich nicht nur in der allgemeinen
Verarmung und Verwüstung des Landes, in der rückläufigen Entwicklung
sowohl der landwirtschaftlichen wie der industriellen Produktion, in
der Rückentwicklung der einst blühenden Städte usw., sondern auch in
der kulturellen Physiognomie des ganzen deutschen Volkes. Es hat an dem
großen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung des 16. und 17.
Jahrhunderts nicht teilgenommen; seine Massen, die der entstehenden
bürgerlichen Intelligenz einbegriffen, bleiben weit hinter der
Entwicklung der großen Kulturländer zurück. Das hat vor allem
materielle Gründe. Diese bestimmen aber auch gewisse ideologische
Eigentümlichkeiten dieser deutschen Entwicklung. Erstens die unerhörte
Kleinlichkeit, Enge, Horizontlosigkeit des Lebens in den kleinen
deutschen Fürstentümern im Gegensatz zu dem in England oder Frankreich.
Zweitens – damit nahe verbunden - die viel größere, handgreiflichere
Abhängigkeit der Untertanen vom Monarchen und von seinem bürokratischen
Apparat, den viel eingeengteren objektiven Spielraum zu einem
ideologisch oppositionellen oder nur kritischen Verhalten als in den
westlichen Ländern. Dazu kommt noch, daß das Luthertum (und später der
Pietismus usw.) diesen Spielraum auch subjektiv einengt, die äußere
Unterworfenheit in innere Unterwürfigkeit verwandelt und so jene
Untertanenpsychologie züchtet, die Friedrich Engels als "bedientenhaft"
bezeichnet hat. Natürlich ist hier eine Wechselwirkung vorhanden, aber
eine solche, die objektiv wie subjektiv diesen Spielraum stets kleiner
macht. Dementsprechend können sich die Deutschen auch an
bürgerlich-revolutionären Bewegungen nicht beteiligen, die die für ein
einheitliches Deutschland noch nicht erreichte Regierungsform der
absoluten Monarchie im Interesse einer höheren, der
fortgeschritteneren Entwicklung des Kapitalismus besser entsprechenden
Staatsform ersetzen wollten. Die kleinen Staaten, deren Existenz die
rivalisierenden Großmächte künstlich konservierten, können nur als
Söldner dieser Großmächte existieren, können sich, um äußerlich ihren
großen Vorbildern zu ähneln, nur von der rücksichtslosesten und
rückschrittlichsten Aussaugung des arbeitenden Volkes erhalten.
Naturgemäß entsteht in einem solchen Lande
keine reiche, unabhängige und mächtige Bourgeoisie, keine ihrer
Entwicklung entsprechende fortschrittliche revolutionäre Intelligenz.
Bürgertum und Kleinbürgertum sind von den Höfen ökonomisch viel
abhängiger als sonst in Westeuropa, und es bildet sich darum bei ihnen
ein Servilismus, eine Kleinlichkeit, Niedrigkeit und Miserabilität aus,
wie man es sonst im damaligen Europa kaum finden kann. Und bei der
Stagnation der ökonomischen Entwicklung bilden sich in Deutschland
nicht oder kaum jene plebejischen Schichten, die außerhalb der feudalen
Ständehierarchie stehen und in den Revolutionen der beginnenden Neuzeit
die wichtigste vorwärtstreibende Kraft bilden. Noch im Bauernkrieg
spielten sie unter Münzer eine ausschlaggebende Rolle, in dieser Zeit
bildeten sie, soweit vorhanden, eine servile, käufliche, ins
Lumpenproletarische herabsinkende Gesellschaftsschicht. Die bürgerliche
Revolution Deutschlands am Anfang des 16. Jahrhunderts hat allerdings
die ideologische Grundlage für die nationale Kultur in der
einheitlichen modernen Schriftsprache geschaffen. Aber auch diese
bildet sich zurück, versteift und barbarisiert sich in der Periode
dieser tiefsten nationalen Erniedrigung.
Erst im 18. Jahrhundert, besonders in
dessen zweiter Hälfte, beginnt eine wirtschaftliche Erholung
Deutschlands. Und parallel mit ihr eine ökonomische und kulturelle
Stärkung der bürgerlichen Klasse. Das Bürgertum ist jedoch noch längst
nicht stark genug, um die Hindernisse der nationalen Einheit aus dem
Wege zu räumen, ja diese Frage auch nur ernsthaft politisch zu stellen.
Aber die Zurückgebliebenheit beginnt allgemein gefühlt zu werden, das
nationale Gefühl ist im Erwachen, die Sehnsucht nach der nationalen
Einheit wächst ständig, freilich ohne daß auf dieser Grundlage
politische Gliederungen mit bestimmten Programmen, wenn auch nur in
lokalem Maßstab, hatten entstehen können. Doch in den feudal
absolutistischen Kleinstaaten tritt immer stärker die ökonomische
Notwendigkeit der Verbürgerlichung ein. Jener Klassenkompromiß zwischen
Adel und Kleinbürgertum, mit der führenden Rolle des Adels, worin
Engels noch in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die soziale
Signatur des status quo in Deutschland erblickte, beginnt sich
herauszubilden. Seine Form ist die Bürokratisierung, die auch hier, wie
in allen Ländern Europas, eine Übergangsform der Liquidierung des
Feudalismus, des Kampfes der Bourgeoisie um die Staatsmacht wird.
Freilich spielt sich auch dieser Prozeß der
Zerstückeltheit Deutschlands in zumeist ohnmächtige Kleinstaaten, in
sehr miserablen Formen ab, und der Kompromiß zwischen Adel und
Kleinbürgertum besteht im wesentlichen darin, daß jener die höheren,
dieses die niedrigeren bürokratischen Posten besetzt. Aber trotz dieser
kleinlichen und zurückgebliebenen Formen des sozialen und politischen
Lebens beginnt sich das deutsche Bürgertum wenigstens ideologisch zum
Kampf um die Macht zu rüsten. Nach einer Isolierung von den
fortschrittlichen Strömungen des Westens gewinnt es jetzt den Anschluß
an die englische und französische Aufklärung, rezipiert sie und bildet
sie teilweise sogar selbständig weiter.
In diesem Zustand durchlebt Deutschland die
Periode der Französischen Revolution und die Napoleons. Die großen
Ereignisse dieser Periode, in der, politisch gesehen, das deutsche Volk
noch immer das Objekt der kämpfenden Mächtegruppierungen, der
entstehenden modern bürgerlichen Welt in Frankreich und der gegen sie
verbündeten, von England unterstützten feudalabsolutistischen Mächte
Mittel und Osteuropas war, beschleunigen außerordentlich die
Entwicklung und Bewußtheit der bürgerlichen Klasse, lassen die
Sehnsucht nach der nationalen Einheit stärker denn je aufflammen.
Zugleich jedoch treten die politisch verhängnisvollen Folgen der
Zerrissenheit schärfer hervor als je zuvor. Es gibt - objektiv - in
Deutschland noch keine einheitliche nationale Politik. Große Teile der
Avantgarde der bürgerlichen Intelligenz Deutschlands begrüßen
begeistert die Französische Revolution (Kant, Herder, Bürger, Hegel,
Hölderlin usw.). Und zeitgenössische Zeugnisse, z. B. Goethes
Reiseberichte, zeigen, daß diese Begeisterung keineswegs auf die
allgemein bekannten Spitzen des Bürgertums beschränkt war, sondern
Wurzeln in breiteren Schichten der Klasse selbst hatte. Trotzdem war
eine Ausbreitung der demokratischen Revolutionsbewegung auch im
entwickelteren Westen Deutschlands unmöglich. Mainz schloß sich zwar
der französischen Republik an, blieb jedoch völlig isoliert, und sein
Fall durch die österreichisch preußische Armee rief kein Echo im
übrigen Deutschland hervor. Der Führer der Mainzer Erhebung, der
bedeutende Forscher und Humanist Georg Forster, starb vergessen und
verkannt als Emigrant in Paris.
Diese Zerrissenheit wiederholt sich im
größeren Ausmaß in der Napoleonischen Periode. Napoleon gelang es, im
Westen und Süden Deutschlands, teilweise auch in Mitteldeutschland
(Sachsen) Anhänger und Verbündete zu finden. Und er verstand, daß dieses Bündnis
- der Rheinbund – nur dann einigermaßen lebensfähig gemacht
werden könne, wenn in den ihm angeschlossenen Staaten die
Liquidierung des Feudalismus wenigstens angebahnt würde. Dies
geschah im weiten Ausmaße in den Rheinlanden, viel bescheidener
in den übrigen Rheinbundstaaten. Selbst ein so reaktionärchauvinistischer Geschichtsschreiber wie Treitschke sieht sich gezwungen, über das Rheinland festzustellen: "Die
alte Ordnung war spurlos vernichtet, die Möglichkeit einer
Wiederherstellung verloren; bald schwand selbst die Erinnerung an die
Zeiten der Kleinstaaterei. Die Geschichte, die in den Herzen des
aufwachsenden rheinischen Geschlechts wirklich lebt, begann erst mit
dem Einzuge der Franzosen."
Da aber die Macht Napoleons nicht ausreichte, ganz Deutschland in eine
solche Abhängigkeit vom französischen Kaiserreich zu bringen, wurde
dadurch die nationale Zerrissenheit nur noch verstärkt und vertieft.
Die Napoleonische Herrschaft wurde von breiten Schichten des Volkes als
drückende Fremdherrschaft empfunden, gegen die, besonders in Preußen,
eine nationale Volksbewegung einsetzte, die ihren Gipfelpunkt in den
sogenannten Befreiungskriegen erlangte.
Dieser politischen Zerrissenheit
Deutschlands entspricht die ideologische. Die führenden progressiven
Ideologen der Zeit, vor allem Goethe und Hegel, sympathisierten mit
einer Napoleonischen Vereinheitlichung Deutschlands, mit einer von
Frankreich aus durchgeführten Liquidation der feudalen Überreste. Der
inneren Problematik dieser Auffassung entspricht es, daß bei diesen
Denkern der Begriff der Nation zu einem bloßen Kulturbegriff verblaßte,
wie dies am deutlichsten in der "Phänomenologie des Geistes" sichtbar ist.
Ebenso widerspruchsvoll war aber die Ideologie der politischen und
militärischen Führer der Befreiungskriege, die auf dem Wege der
Erhebung Preußens im Bündnis mit Österreich und Rußland die Befreiung
vom französischen Joch, die Entstehung der deutschen Nation erstrebten.
Die Stein, Scharnhorst, Gneisenau wollten die sozialen und
militärischen Ergebnisse der Französischen Revolution einführen, da sie
deutlich sahen, daß nur eine auf solchen Grundlagen organisierte Armee
den Kampf mit Napoleon aufnehmen könne. Sie wollten aber diese
Ergebnisse nicht nur ohne Revolution erreichen, sondern wollten auch
das - allerdings von ihnen reformierte - Preußen in einem ständigen
Kompromiß den feudalen Überresten und den Klassen, die wirtschaftlich
und ideologisch diese Überreste repräsentierten, anpassen. Diese
notgedrungene und zugleich von den Beteiligten ideologisch verklärte
Anpassung an die Rückständigkeit des bestehenden Deutschlands hat
einerseits zur Folge, daß die Sehnsucht nach nationaler Befreiung und
nationaler Einheit bei ihnen oft in einen engen Chauvinismus, in einen
blinden und bornierten Franzosenhaß umschlägt, daß sie auch in den in
Bewegung gebrachten Massen keine wirklich freiheitliche Ideologie
hervorbringt. Insbesondere, weil es für sie unvermeidlich ist, auch mit
jenen Kreisen der reaktionären Romantik in ein Bündnisverhältnis zu
treten, die den Kampf gegen Napoleon als Kampf um die vollständige
Restauration des Zustandes vor der Französischen Revolution auffaßten.
Diese Widersprüche zeigen sich naturgemäß auch bei dem philosophischen
Vertreter dieser Richtung, beim späteren Fichte, obwohl er politisch
und sozial viel radikaler war als viele politischen und militärischen
Führer der nationalen Bewegung.
Trotz dieser tiefen Zerspaltenheit der
geistigen und politischen Führung des deutschen Volkes, trotz der sehr
weitgehenden ideologischen Verworrenheit in bezug auf die Ziele und
Methoden des Kampfes um die nationale Einheit ist in dieser Periode -
zum erstenmal seit dem Bauernkrieg - die nationale Einheit zum
Gegenstand der Forderungen einer großen, wichtige Schichten der
deutschen Nation erfassenden Massenbewegung geworden. Damit wurde - wie
es Lenin als erster klar formulierte - die Frage der nationalen Einheit
zur zentralen Frage der bürgerlichen Revolution in Deutschland.
Betrachtet man die deutsche Geschichte des
19. Jahrhunderts, so kann man sich auf jeder Etappe von der Wahrheit
und Richtigkeit der Leninschen Feststellung überzeugen. Der Kampf um
die nationale Einheit beherrscht in der Tat die ganze politische und
ideologische Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert. Und die
besondere Form, in der diese Frage schließlich ihre Lösung fand, gibt
der ganzen deutschen Geistigkeit von der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts an bis heute ihr besonderes Gepräge.
Hierin liegt die prinzipielle
Eigentümlichkeit der deutschen Entwicklung, und es ist leicht
ersichtlich, wie diese Achse, um die sich alles dreht, nichts weiter
ist als eine Folge der verspäteten kapitalistischen Entwicklung
Deutschlands. Die anderen großen Völker des Westens, besonders England
und Frankreich, haben ihre nationale Einheit schon unter der absoluten
Monarchie erreicht, d. h. die nationale Einheit war bei ihnen eines der
ersten Resultate der Klassenkämpfe zwischen Bürgertum und Feudalismus.
Dagegen muß in Deutschland die bürgerliche Revolution diese nationale
Einheit erst erkämpfen, erst ihre Grundsteine legen. (Nur Italien hat
eine ähnliche Entwicklung durchgemacht; die geistigen Folgen zeigen
auch, bei aller sonstigen Verschiedenheit der Geschichte beider Völker,
eine gewisse Verwandtschaft, die sich gerade in jüngster Vergangenheit
offenkundig ausgewirkt hat.) Besondere historische Umstände, auf die
näher einzugehen hier nicht möglich ist, haben bestimmt, daß auch in
Rußland die nationale Einheit schon unter der absoluten Monarchie
verwirklicht wurde, die Entwicklung der revolutionären Bewegung in
Rußland, der russischen Revolution, zeigt auch alle wichtigen, von
Deutschland grundverschiedenen Folgen, die sich aus diesem Tatbestand
ergeben.
Dementsprechend besteht in Ländern, in denen die nationale Einheit
bereits das Produkt früherer Klassenkämpfe unter der absoluten
Monarchie
ist, die Aufgabe der bürgerlich demokratischen Revolution nur
darin, dieses Werk zu vollenden, den nationalen Staat von den
vorhandenen feudalen und absolutistisch bürokratischen Überresten mehr
oder weniger zu säubern, ihn für die Zwecke der bürgerlichen
Gesellschaft geeignet zu machen. Dies geschieht in England durch einen
allmählichen Umbau der älteren nationalen Institutionen, in Frankreich
durch eine revolutionäre Umgestaltung des bürokratisch feudalen
Charakters der Staatsmaschine, wobei zwar in Perioden der Reaktion
selbstredend starke Rückfälle erfolgen, ohne daß jedoch die nationale
Einheitlichkeit gestört oder gefährdet würde. Den bürgerlich
demokratischen Revolutionen kommt auf dieser Basis, die durch
jahrhundertelange Klassenkämpfe vorbereitet wurde, der Vorteil zugute,
daß die Vollendung der nationalen Einheit, ihre Anpassung an die
Bedürfnisse der modernen bürgerlichen Gesellschaft sich mit dem
revolutionären Kampf gegen die ökonomischen und sozialen Institutionen
des Feudalismus organisch und fruchtbar verknüpfen kann (Bauernfrage
als Mittelpunkt der bürgerlichen Revolution in Frankreich und Rußland).
Es ist leicht ersichtlich, daß die anders
geartete Zentralfrage der bürgerlich-demokratischen Revolution in
Deutschland eine ganze Reihe ungünstiger Umstände schafft. Die
Revolution müßte Institutionen auf einen Schlag zerschlagen, für deren
allmähliche Unterwühlung und Zermürbung etwa in Frankreich die
Klassenkämpfe von Jahrhunderten notwendig waren; sie müßte mit einem
Schlag jene zentralen nationalen Institutionen und Organe
hervorbringen, die in England oder Rußland Produkte einer
jahrhundertelangen Entwicklung waren.
Aber nicht nur die objektive Aufgabe ist
dadurch schwerer lösbar geworden; die zentrale revolutionäre
Fragestellung wirkt sich auch ungünstig auf die Stellung der
verschiedenen Klassen zu diesem Problem aus und schafft
Konstellationen, die der radikalen Durchführung der bürgerlich
demokratischen Revolution hindernd im Wege stehen. Wir heben nur einige
wenige der wichtigsten dieser Momente hervor. Vor allem verwischt sich
vielfach der scharfe Gegensatz zwischen den feudalen Überresten (der
Monarchie und ihrem Apparat sowie dem Adel) und dem Bürgertum, da ja,
je stärker die kapitalistische Entwicklung, desto mehr, auch für die an
der Erhaltung der feudalen Überreste interessierten Klassen, das
Bedürfnis entsteht, die nationale Einheit - freilich in ihrem Sinne -
zu verwirklichen. Man denke in erster Linie an die Rolle Preußens bei
der Schaffung der nationalen Einheit. Objektiv ist das besondere
Bestehen Preußens stets das größte Hindernis der wirklichen nationalen
Einheit gewesen, und doch wird diese Einheit durch preußische Bajonette
erfochten. Und von den Freiheitskriegen bis zur Schaffung des deutschen
Kaiserreiches war stets eine die bürgerlichen Revolutionäre verwirrende
und irreführende Frage, ob die
nationale Einigung mit Hilfe der preußischen Militärmacht oder durch
deren Zerschlagung zu erreichen wäre. Vom Standpunkt der demokratischen
Entwicklung Deutschlands wäre zweifellos der zweite Weg der allein
günstige gewesen. Aber für ausschlaggebende Teile der deutschen
Bourgeoisie, besonders für die Bourgeoisie in Preußen, bot sich hier
ein bequemer Weg des Klassenkompromisses, des Ausweichens vor den
äußersten plebejischen Konsequenzen der bürgerlich-demokratischen
Revolution, mithin die Möglichkeit, ihre ökonomischen Ziele ohne
Revolution zu erreichen, wenn auch auf der Grundlage des Verzichts auf
die politische Hegemonie im neuen Staate.
Dieselbe Ungunst zeigt sich aber auch
innerhalb des Lagers des Bürgertums. Die nationale Einheit als
Zentralfrage der Revolution macht die Hegemonie der überall zu
Klassenkompromissen neigenden Großbourgeoisie leichter, weniger
gefährdet als im Frankreich des 18. im Rußland des 19. Jahrhunderts.
Die Mobilisierung der kleinbürgerlichen und plebejischen Massen gegen
die Kompromißabsichten der Großbourgeoisie ist in Deutschland viel
schwerer. Schon deswegen, weil die nationale Einigung als Zentralfrage
der bürgerlichen Revolution bei den plebejischen Massen eine viel höher
entwickelte Bewußtheit und Wachsamkeit voraussetzt als z. B. die
Bauernfrage, bei der die ökonomischen Gegensätze der verschiedenen
Klassen unvergleichlich krasser in Erscheinung treten, also auch
unmittelbarer verständlich vor den Augen der plebejischen Massen
stehen. Die nationale Einheit als Zentralfrage verdeckt durch ihr
scheinbar rein politisches Wesen oft die unmittelbaren und unmittelbar
verständlichen ökonomischen Probleme, die hinter ihren verschiedenen
Lösungsmöglichkeiten verborgen liegen. Das Umschlagen des
revolutionären Patriotismus in einen gegenrevolutionären Chauvinismus
ist hier näherliegend als in anderen bürgerlich demokratischen
Umwälzungen, um so mehr, als die Tendenzen zum Klassenkompromiß der
Großbourgeoisie und der nach 1848 entstehende Bismarcksche
Bonapartismus bewußt in diese Richtung lenken. Für die Massen ist aber
hier vor dem Erringen der nationalen Einheit ein klares Durchschauen
solcher Manöver schwerer als in Staaten, in denen diese seit
Jahrhunderten eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Diese Tendenz
des Verdeckens gewinnt eine objektive Gestalt darin, daß der Kampf um
die nationale Einheit - solange die Deutschland bildenden Einzelstaaten
nicht in die Einheit aufgehoben sind, und dies ist naturgemäß der
Abschluß und nicht der Anfang des Prozesses - die Form eines Problems
der Außenpolitik erhält. Außenpolitik der Einzelstaaten in ihrer
Beziehung zueinander und Außenpolitik in der Beziehung zu den äußeren
Großmächten, die infolge der bisherigen deutschen Entwicklung als
berechtigt betrachtet werden, sich in die inneren Angelegenheiten
Deutschlands einzumischen.
Es ist klar, daß hierin plausibel scheinende Vorwände gegeben sind, die
Massen, zuweilen auch die demokratisch revolutionär gestimmten Massen,
von diesen "außenpolitischen" Entscheidungen fernzuhalten und sie in einen blinden Chauvinismus hineinzutreiben (Antifranzosentum von 1870).
Diese Lage setzt außerdem eine viel größere Einsicht in komplizierte
außenpolitische Verhältnisse voraus, als die anderen zentralen Fragen
der bürgerlichen Revolutionen. Natürlich besteht ein Zusammenhang
zwischen Außen- und Innenpolitik für jede demokratische Revolution.
Aber den plebejischen Massen in der Französischen Revolution war z. B.
die Einsicht, daß die Intrigen des Hofes mit den feudal
absolutistischen ausländischen Mächten die Revolution gefährden,
unvergleichlich leichter zugänglich als den Massen in Deutschland zur
Zeit der Revolution von 1848 die wirkliche Beziehung von nationaler
Einheit und Außenpolitik, vor allem, daß zur Erlangung der nationalen
Einheit ein revolutionärer Krieg gegen das zaristische Rußland
notwendig gewesen wäre, wie ihn Marx in der "Neuen Rheinischen Zeitung"
ununterbrochen mit großer Klarheit propagierte. Diese Schwierigkeit und
mit ihr die Hegemonie der Großbourgeoisie, auch auf dem Weg von
Klassenkompromissen, auf dem Wege des Verrats an der demokratischen
Revolution, wird noch dadurch verstärkt, daß die für jede bürgerliche
Revolution bestehende Gefahr, nämlich das Umschlagen der nationalen
Befreiungskriege in Eroberungskriege, noch näherliegend und mit noch
größeren innenpolitischen Konsequenzen verbunden ist als in
bürgerlichen Revolutionen anderen Typus.
Aus allen diesen Gründen erfolgt in
Deutschland eine viel raschere und intensivere Beeinflussung der Massen
durch chauvinistische Propaganda als in anderen Ländern, und dieses
rasche Umschlagen der berechtigten und revolutionären nationalen
Begeisterung in einen reaktionären Chauvinismus erleichtert einerseits
dem mit der Monarchie verbündeten Junkertum und der Großbourgeoisie den
innenpolitischen Betrug der Massen, andererseits wird die demokratische
Revolution ihrer wichtigsten Verbündeten beraubt. So konnte die
deutsche Bourgeoisie im Jahre 1848 die Polenfrage in
reaktionär-chauvinistischem Sinne ausnützen, ohne daß es den
plebejischen Massen gelungen wäre - wieder: trotz der rechtzeitigen und
richtigen Warnungen der "Neuen Rheinischen Zeitung"
- hier Einhalt zu gebieten und die Polen aus natürlichen Verbündeten
des revolutionären Deutschland zu wirklichen Verbündeten im Krieg gegen
die reaktionären Mächte in deutschen und internationalen Maßstabe zu
machen.
Diese Ungunst der Umstände, geschaffen
durch die national zersplitterte Lage, in der sich Deutschland zur Zeit
der Aktualität der bürgerlichdemokratischen Revolution befand, äußert
sich für den subjektiven Faktor der
Revolution darin, daß Bürgertum, Kleinbürgertum, plebejische Massen und
Proletariat politisch unvorbereitet in die Revolution eintreten. Die
Zersplitterung in Kleinstaaten war für die revolutionär demokratische
Erziehung der unteren Volksschichten, für die Entwicklung revolutionär
demokratischer Traditionen der plebejischen Massen äußerst ungünstig.
Ihre einzige politische Erfahrung bestand bloß in kleinen und
kleinlichen lokalen Kämpfen im Rahmen der Kleinstaaten. Die
gesamtnationalen Interessen schwebten abstrakt oberhalb dieser Kämpfe
und konnten darum sehr leicht ins Phrasenhafte umschlagen. Diese
Phrasenhaftigkeit der führenden bürgerlichen Ideologen, die sich in
krassester Form in der Frankfurter Nationalversammlung äußerte, konnte
- bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt - sehr leicht ins
Reaktionäre hinübergeleitet werden.
Diese Lage wurde noch dadurch verschärft,
daß das Zentrum der politisch-demokratischen Bewegung Deutschlands im
Anfang des 19. Jahrhunderts die südlichen Kleinstaaten gewesen sind, so
daß gerade die demokratischen Richtungen am stärksten mit dieser
Kleinlichkeit, Spießerei und Phrasenhaftigkeit behaftet waren. Das
ökonomisch und sozial fortgeschrittenste Gebiet Deutschlands, die
Rheinlande, gehörten allerdings zu Preußen, bildeten aber eine Art von
Fremdkörper in ihm, lagen weit vom Zentrum der politischen
Entscheidungen, vom höfisch-kleinbürgerlichen Berlin, ab und hatten, da
das Napoleonische Regime hier die Überreste des Feudalismus abgeschafft
hatte, ganz andere unmittelbare Interessen als die zurückgebliebenen,
noch stark feudal gebliebenen Teile des eigentlichen Preußen.
Alle diese ungünstigen Umstände wurden noch
durch den taktischen Umstand gesteigert, daß die
bürgerlich-demokratische Revolution, infolge der nationalen
Zersplitterung, kein allzu entscheidendes Zentrum haben konnte, wie es
z. B. Paris im 18. Jahrhundert gewesen ist. Die großen reaktionären
Mächte, Preußen und Österreich, hatten ihre konzentrierte bürokratische
und militärische Macht. Dagegen waren die revolutionären Kräfte mehr
als zersplittert. Die Nationalversammlung tagte in Frankfurt; Köln war
das Zentrum der revolutionären Demokratie. Die Entscheidungskämpfe in
Berlin und Wien spielten sich spontan, ohne klare ideologische Führung
ab, und nach den Niederlagen in den Hauptstädten konnten die
aufflammenden Bewegungen in Dresden, in der Pfalz, in Basel usw.
einzeln niedergeschlagen werden.
Durch diese Momente wurde das Schicksal der
demokratischen Revolution in Deutschland, nicht nur in der Frage der
nationalen Einheit, sondern auf allen Gebieten, auf denen die
Abschaffung der feudalen Überreste nötig wurde, bestimmt. Nicht umsonst
bezeichnet Lenin diesen Weg als einen international typischen, als
einen für die Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft
ungünstigen, als den "preußischen" Weg. Diese Feststellung Lenins darf nicht nur auf die Agrarfrage im engeren Sinne
beschränkt, sondern muß auf die ganze Entwicklung des Kapitalismus und
auf den politischen Überbau, den er in der modernen bürgerlichen
Gesellschaft Deutschlands erhält, angewandt werden.
Das spontane Wachsen der kapitalistischen
Produktion konnten die feudalen Überreste auch in Deutschland nur
verlangsamen, nicht verhindern.(Schon die Kontinentalsperre unter
Napoleon rief einen gewissen kapitalistischen Aufschwung in Deutschland
hervor.) Aber diese spontane Entwicklung des Kapitalismus entsteht in
Deutschland nicht in der Manufakturperiode, wie in England oder
Frankreich, sondern im Zeitalter des wirklichen, modernen Kapitalismus.
Und die feudal absolutistische Bürokratie der deutschen Kleinstaaten,
vor allem Preußens, ist gezwungen, in die Unterstützung der
kapitalistischen Entwicklung aktiv und führend einzugreifen.
Freilich geschieht das gerade in den
entscheidenden Fragen oft sehr gegen ihren Willen und fast immer ohne
die geringste Einsicht in die wirkliche Tragweite dessen, was mit ihrer
Hilfe, unter ihrer Initiative geschah. Dies ist sehr deutlich in jener
Schilderung zu sehen, die Treitschke von der Entstehung des deutschen
Zollvereins gibt, wobei seine Version, da er stets die Tendenz hat, die
politische Voraussicht und die nationalen Absichten des
Hohenzollernregimes zu idealisieren, besonders lehrreich ist: "Und
diese Entwicklung vollzog sich zum guten Teil gegen den Willen der
preußischen Krone selbst; hier sieht man die innere Naturgewalt
arbeiten. Nichts hat Friedrich Wilhelm III. ferner gelegen, als durch
den Zollverein eine Trennung von Österreich vorzubereiten, er sah in
dem Dualismus einen Segen für das Vaterland; es war die Natur der
Dinge, welche schließlich dahin führte. So bildet sich ein wirkliches
Deutschland, verbunden durch die Gemeinsamkeit der wirtschaftlichen
Interessen, während in Frankfurt, wie früher in Regensburg, allein die
Theorie herrschte. Auch Friedrich Wilhelm IV. war österreichisch
gesinnt, er schwärmte für Österreich mehr als für den eigenen Staat;
und trotzdem ging die Interessenverschmelzung zwischen dem
nichtösterreichischen Deutschland und Preußen unaufhaltsam weiter.
Obwohl nach 1851 die Mittelstaaten mit Herzensfreude Preußen zerstört
hätten, wagte doch keiner, den Zollverein zu sprengen; von diesem Bande
konnten sie nicht mehr los." Das interessanteste an dieser
Darstellung ist ihr die Mystik streifender Irrationalismus: die
Entwicklung des deutschen Kapitalismus, das Zur-Geltung-Gelangen seiner
elementaren Interessen, das Unverständnis und die Unfähigkeit der
deutschen kleinstaatlichen und preußischen Monarchien diesem Prozeß
gegenüber - das alles erscheint als eine Art von Schicksalstragödie.
Wenn diese Einstellung nur den Historiker Treitschke charakterisieren
würde, wäre sie nicht allzu wichtig. Treitschke ist aber hier ein
reichlich genauer geistiger Ausdruck allgemeiner deutscher Stimmungen; während Nationen, die ihre
gegenwärtige politische Form erkämpft haben, diese als ihr eigenes
Produkt betrachten, erscheint die nationale Existenz den Deutschen als
eine rätselhafte Gabe höherer irrationaler Mächte.
Dieser "preußische Weg" der
Entwicklung Deutschlands hat aber auch unmittelbarere Folgen. Denn
diese Art der Entstehung der wirtschaftlichen Einheit bringt es mit
sich, daß in weiten kapitalistischen Kreisen von vornherein eine
Abhängigkeit vom preußischen Staat gegeben ist, ein ununterbrochenes
Paktieren mit der halbfeudalen Bürokratie, die Perspektive der
Möglichkeit, die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie in friedlicher
Vereinbarung mit der preußischen Monarchie durchzusetzen. Darum konnte
Engels später sagen, daß 1848 für die preußische Bourgeoisie keine
zwingende Nötigung vorlag, die Machtfrage im Staat in revolutionärer
Weise zu lösen.
Die Tatsache, daß dieser Prozeß sich in
Deutschland verspätete, d. h. daß er sich nicht in der Periode der
Manufaktur, sondern in der des modernen Kapitalismus abspielte, hat
aber noch eine andere, wesentliche Konsequenz: so unentwickelt der
deutsche Kapitalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen sein
mag, es standen ihm nicht mehr, wie der französischen Bourgeoisie vor
der großen Revolution, sozial formlose Massen gegenüber, die -
wenigstens zeitweilig - mit dem Bürgertum als "dritter Stand"
zusammengefaßt werden konnten, sondern ein, wenn auch ebenfalls noch
unentwickeltes, modernes Proletariat. Man kann den Unterschied am
leichtesten einsehen, wenn man bedenkt, daß in Frankreich Gracchus
Babeuf erst einige Jahre nach der Hinrichtung Robespierres einen
Aufstand mit bewußt sozialistischem Ziel einleitete, während in
Deutschland der schlesische Weberaufstand bereits vier Jahre vor der
Revolution von 1848 ausbrach und am Vorabend der Revolution selbst die
erste vollendete Formulierung der Ideologie des revolutionären
Proletariats erschien "Das Kommunistische Manifest".
Diese Lage, entstanden aus der verspäteten kapitalistischen Entwicklung
Deutschlands, die ein bereits selbständig auftretendes Proletariat
hervorbrachte, das jedoch noch nicht imstande war, die Ereignisse
entscheidend zu beeinflussen (wie das russische von 1917), verschärft
sich noch durch die Einwirkung der internationalen Ereignisse des
Klassenkampfes. Die Februarrevolution in Paris hat zwar einerseits die
Revolution in Berlin und Wien auslösen geholfen, aber andererseits
wirkte der dort scharf hervortretende Klassenkampf zwischen Bourgeoisie
und Proletariat erschreckend auf die deutsche Bourgeoisie ein und
beschleunigte die aus den oben bezeichneten Gründen vorhandene Neigung
zum Kompromiß mit den "alten Mächten" aufs entschiedenste.
Besonders die Junischlacht und ihre Niederlage wurden ein entscheidendes Ereignis für die Entwicklung der
Klassenkämpfe in Deutschland. Es fehlte in Deutschland von vornherein
jene unwiderstehliche Einheit des antifeudalen Volkes, die der
Französischen Revolution ihren Schwung gegeben hat, während
gleichzeitig das deutsche Proletariat noch zu schwach war, als daß es
sich, wie ein halbes Jahrhundert später das russische Proletariat, zum
Führer des ganzen Volkes hätte aufschwingen können. Die Auflösung der
ursprünglichen antifeudalen Einheit erfolgte dementsprechend rascher
und in entgegengesetzter Weise als seinerzeit in Frankreich. 1848 ist
zwar das deutsche 1789; doch das Verhältnis zwischen der Bourgeoisie
und den unteren Klassen ist den französischen Verhältnissen von 1830
und 1840 näher verwandt, als denen von 1789.
Darum äußerte sich bereits 1848 ein Zug der
deutschen Entwicklung, der für Deutschlands demokratische Umgestaltung
auch später verhängnisvoll geworden ist. Erstens beginnen hier die
demokratischen Umwälzungen damit, womit sie in den klassischen
Revolutionen Englands und Frankreichs zu enden pflegen: mit dem Kampf
gegen den radikalen plebejisch proletarischen Flügel. Das ist natürlich
keine bloße Differenz der zeitlichen Reihenfolge. Insbesondere in der
Französischen Revolution sehen wir eine Entwicklung bis zu den
äußersten Grenzen der rein bürgerlichen Demokratie (1793/94); der Kampf
gegen den plebejischen Linksradikalismus bedeutet also nur die Abwehr
des Versuchs, die Revolution über diese Grenzen hinauszutreiben. (In
Cromwells Kämpfen gegen die Leveller zeigen sich ähnliche Tendenzen,
freilich den damaligen Klassenverhältnissen entsprechend auf
niedrigerem Niveau.) Dagegen weist in Deutschland, nicht nur 1848,
sondern auch 1918, der sofort einsetzende Kampf gegen den proletarisch
demokratischen Linksradikalismus die Tendenz auf, unter den Formen der
revolutionär entstandenen Demokratie möglichst viel von der alten
Ordnung unverändert oder mit unwesentlichen äußerlichen Reformen
aufzubewahren. So hat z. B. keine Revolution in Deutschland eine
wirkliche Agrarreform gebracht; keine hat die Zerstückelung in
Kleinstaaten ernsthaft angetastet; keine hat die Junkerherrschaft in
Preußen wirklich erschüttert usw.
Es ist hier selbstverständlich unmöglich,
die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, wenn auch noch so
abgekürzt, zu erzählen. Wir können nur die allerwesentlichsten Momente
in der Entwicklung der sozialen Tendenzen kurz skizzieren. Die
plebejischen Schichten Deutschlands hatten in dieser Periode nicht die
Kraft, ihre Interessen auf revolutionärem Wege zu erkämpfen. Die
notgedrungenen ökonomischen und sozialen Fortschritte entweder unter
dem Druck der außenpolitischen Verhältnisse oder als Kompromiß der
herrschenden Klassen. Schon die süd- und mitteldeutschen Konstitutionen
in den Kleinstaaten, die Ausgangspunkte der
demokratischen Bewegungen und Parteien in Deutschland nach Napoleons
Sturz, wurden nicht in einem inneren Klassenkampf erfochten, sondern
ergaben sich aus der Notwendigkeit, die in den Napoleonischen Zeiten
zusammengerafften und vom Wiener Kongreß bestätigten feudal heterogenen
Territorien irgendwie einheitlich zu verwalten. So ist die Bevölkerung
z. B. Württembergs während der Napoleonischen Zeiten von 600 000 auf
anderthalb Millionen angewachsen; es sind nicht weniger als 78
Landesherrschaften dazugeschlagen worden. Die administrativen
Vereinigungen solcher in jeder Hinsicht heterogenen Territorien - das
Beispiel Württembergs ist typisch für diese Periode - erfordert
naturgemäß ein Mindestmaß von zentralisierten Institutionen, die unter
den Bedingungen der Napoleonischen Periode und der Nachwirkungen der
Befreiungskämpfe Elemente der Liquidierung der feudal absolutistischen,
der mittelalterlichen Überreste enthalten mußten. Die deutschen
Kleinfürsten kämpften schon unter Napoleon darum, diese Konzessionen
auf ein Minimum zu beschränken; nach der Niederlage Napoleons wurde
auch dieses Minimum noch vermindert. Dieser ihr Charakter hat zur
Folge, daß sie keine tiefen Wurzeln im Volk hatten, daß das Volk sie
nie als eigene, selbstgeschaffene Institutionen ansehen konnte, weshalb
sie sowohl vor wie nach 1848 sehr leicht aufhebbar gewesen sind. Und
als 48 eine ernste Revolution ausbrach, konnten die von uns kurz
geschilderten Konsequenzen der ökonomischen Zurückgebliebenheit und
nationalen Zersplittertheit zu der Schwäche der plebejischen Massen,
zum Verrat der Bourgeoisie an ihrer eigenen Revolution führen und damit
den Sieg der feudal absolutistischen Reaktion besiegeln.
Diese Niederlage ist entscheidend für die
ganze spätere staatliche und ideologische Entwicklung Deutschlands. In
der Terminologie der damaligen Zeit hieß die Fragestellung in bezug auf
das Zentralproblem der demokratischen Revolution: "Einheit durch Freiheit" oder "Einheit vor Freiheit". Oder in bezug auf das konkret wichtigste Problem der Revolution, in bezug auf die künftige Stellung Preußens in Deutschland: "Aufgehen Preußens in Deutschland" oder "Verpreußung Deutschlands". Die Niederlage der Achtundvierziger Revolution führt zur Lösung beider Fragen im letzteren Sinn.
Die siegreiche Reaktion hätte zwar große Lust gehabt, einfach zum
status quo vor 48 zurückzukehren. Dies war jedoch objektiv ökonomisch
und sozial nicht möglich. Die preußische Monarchie mußte sich
umgestalten, und zwar wie Engels wiederholt hervorgehoben hat in der
Richtung auf die Schaffung einer "bonapartistischen Monarchie".
Scheinbar entsteht damit eine Parallelität zwischen der Entwicklung
Frankreichs und Deutschlands. Scheinbar holt damit die deutsche
Entwicklung politisch die französische ein. Aber nur scheinbar. Denn
der Bonapartismus ist in Frankreich ein reaktionärer Rückschlag, an
dessen Anfang die Juniniederlage des französischen
Proletariats steht und dessen schmählicher Zusammenbruch dann zur
glorreichen Kommune von 1871 führt. Und mit der dritten Republik lenkt
Frankreich wieder in den normalen Weg der bürgerlich demokratischen
Entwicklung ein. Das Deutschland Bismarcks ist, wie Engels richtig
zeigt, vielfach eine Kopie des bonapartistischen Frankreich. Engels
weist aber zugleich sehr entschieden darauf hin, daß die "bonapartistische Monarchie"
in Preußen und Deutschland ein Fortschritt im Vergleich zu den
Verhältnissen vor 48 gewesen ist - objektiv ein Fortschritt, indem im
Rahmen dieses Regimes die ökonomischen Forderungen der Bourgeoisie
erfüllt wurden, indem ein freierer Weg zur Entfaltung der
Produktivkräfte eröffnet wurde. Aber diese ökonomischen Fortschritte
wurden ohne siegreiche bürgerliche Revolution verwirklicht, die
entstandene nationale Einheit bestand in einer "Verpreußung"
Deutschlands, wobei sowohl die adelige Bürokratie wie alle
Vorrichtungen zur Sicherung ihrer unversehrten politischen Hegemonie
(Dreiklassenwahlrecht in Preußen usw.) sorgsam aufbewahrt wurden. Das
allgemeine Wahlrecht für das Reich blieb bei der vollständigen
Machtlosigkeit des Parlaments nur eine scheinkonstitutionelle,
scheindemokratische Kulisse. Darum konnte Marx in der Kritik des
Gothaer Programms das national vereinigte Deutschland mit Recht als "einen
mit parlamentarischen Formen verbrämten, mit feudalem Beisatz
vermischten, schon von der Bourgeoisie beeinflußten, bürokratisch
gezimmerten, politisch gehüteten Militärdespotismus" bezeichnen.
Wir haben eine der wichtigsten Schwächen der Revolution von 1848 im
Mangel an demokratischer Erfahrung und Tradition erblickt, im Fehlen
einer demokratischen Erziehung der Massen und ihrer ideologischen
Wortführer durch große innere Klassenkämpfe. Es ist verständlich, daß
die Ereignisse nach 1848, die Bedingungen der "bonapartistischen Monarchie", die Schaffung der deutschen Einheit "von oben"
durch preußische Bajonette, ebenfalls keine günstige Bedingung für die
Entstehung revolutionär demokratischer Traditionen, für eine
revolutionär-demokratische Erziehung der Massen geboten haben. Das
deutsche Parlament war infolge seiner Machtlosigkeit von vornherein zur
Unfruchtbarkeit verurteilt. Und da es keine einzige bürgerliche Partei
gab, die nicht auf dem Boden des Kompromisses mit der "bonapartistischen Monarchie"
gestanden hätte, waren die außerparlamentaristischen Massenkämpfe,
soweit sie überhaupt entstehen konnten, ebenfalls zur Unfruchtbarkeit
verurteilt. Die wenigen wirklichen Demokraten, die aus der Zeit vor 48
übriggeblieben waren, blieben isoliert, einflußlos, konnten keinen
demokratischen Nachwuchs erziehen. Das Schicksal Johann Jacobis,
der als überzeugter kleinbürgerlicher Demokrat, ohne eine Spur
von sozialistischen Anschauungen zu besitzen, aus Verzweiflung
und Protest ein sozialdemokratisches Mandat annahm,
mit dem er dann nichts anfangen konnte, ist für die Lage der wenigen
konsequenten bürgerlichen Demokraten in Deutschland bezeichnend.
Ein nicht unwichtiges ideologisches
Hindernis für die Entstehung demokratischer Traditionen in Deutschland
war die immer stärker einsetzende groß angelegte Fälschung der deutschen
Geschichte. Auch hier können wir die Details nicht einmal andeuten. Es
handelt sich - ganz kurz gefasst -, um eine Idealisierung und eine "Verdeutschung"
der zurückgebliebenen Seiten der deutschen Entwicklung, d. h. um eine
Geschichtsschreibung, die gerade den zurückgebliebenen Charakter der
deutschen Entwicklung als besonders glorreich, als besonders dem "deutschen Wesen"
entsprechend verherrlicht, die alle Prinzipien und Ergebnisse der
bürgerlich demokratischen und revolutionären Entwicklung im Westen als
undeutsch, als dem Charakter des deutschen "Nationalgeistes"
widersprechend kritisiert und ablehnt. Und die Ansätze zu
fortschrittlichen Wendungen in der deutschen Geschichte, der
Bauernkrieg, der Mainzer Jakobinismus, bestimmte demokratische
Tendenzen im Zeitalter der Befreiungskriege, plebejische Reaktionen auf
die Julirevolution in der Revolution von 1848 werden entweder
vollständig totgeschwiegen oder so verfälscht, daß sie vor den Lesern
als abschreckende Ereignisse stehen sollen. 1848 heißt nunmehr in der
deutschen bürgerlichen Terminologie das "tolle Jahr". Dagegen erstrahlen die reaktionären Perioden der deutschen Geschichte in Glanz und Glorie.
Diese Umstellung beschränkt sich jedoch nicht auf die Tatsachen der
Geschichte, auf ihre Auswahl und Behandlung, sondern beeinflußt in
verhängnisvoller Weise die Methodologie der Gesellschafts und
Geschichtswissenschaft, ja weit darüber hinaus das ganze
gesellschaftliche und geschichtliche Denken in Deutschland. Kurz
zusammengefaßt kann man sagen: nach den Versuchen der Zeit vor 48,
Gesellschaft und Geschichte in ihrer vernunftgemäßen Gesetzlichkeit zu
begreifen (es genügt, wenn wir dabei auf Hegel hinweisen), entsteht
eine neue Welle des historisch sozialen Irrationalismus. Dieser war
schon in der Romantik und ihren Nebenzweigen stark entwickelt, wurde
zur herrschenden Strömung aber erst nach der Niederlage der
Achtundvierziger Revolution. Hier kommt es weniger auf die
methodologische und, wissenschaftliche Charakteristik dieser Strömung
an - wir werden sehen, daß der Irrationalismus der imperialistischen
Periode, wenn er auch hier zahlreiche Anknüpfungspunkte findet, doch
etwas wesentlich Neues repräsentiert - als auf ihre Wurzeln im
gesellschaftlichen und politischen Leben Deutschlands.
Das allerwesentlichste Motiv ist die auch
durch die Revolution von 1848 keineswegs erschütterte
Untertanenpsychologie des durchschnittlichen Deutschen, auch des sonst
noch so hochstehenden Intellektuellen. Wir haben gesehen, daß die
großen Umwälzungen zu Beginn der Neuzeit, die
die Grundlagen für die demokratische Entwicklung im Westen gelegt
haben, in Deutschland mit der jahrhundertelangen Fixierung kleinlicher
Tyranneien endeten, daß die deutsche Reformation eine Ideologie der
Unterwürfigkeit ihnen gegenüber begründet hat. Weder die Kämpfe um die
Befreiung von der Napoleonischen Herrschaft noch 1848 konnten hieran
etwas Wesentliches ändern. Und da die Einheit der deutschen Nation
nicht auf revolutionärem Wege, sondern von "oben" geschaffen wurde, nach den Geschichtslegenden durch "Blut und Eisen", durch die "Mission" der Hohenzollern durch das "Genie"
Bismarck, blieb diese Seite der deutschen Psychologie und Moral so gut
wie unverändert bestehen. Es entstanden Großstädte an Stelle der oft
halbmittelalterlichen Städtchen; an die Stelle des Krämers, des
Handwerkers, des kleinen Unternehmers trat der Großkapitalist mit
seinen Agenten; die Kirchturmspolitik wurde von einer Weltpolitik
abgelöst die Untertänigkeit des deutschen Volkes seiner "Obrigkeit" gegenüber erlitt in diesem Prozeß sehr geringfügige Änderungen. Der Heßling in Heinrich Manns "Untertan" unterscheidet sich nur durch Aggressivität nach unten, nicht im Servilismus nach oben von den bürgerlichen "Helden"
Gustav Freytags. So ist die 1919 veröffentlichte Charakteristik von
Hugo Preuß mit den selbstverständlichen zeitgeschichtlichen Variationen
für das deutsche Volk im ganzen 19. und 2o. Jahrhundert gültig: "Das
regierbarste Volk der Welt, das sind die Deutschen ... im Sinne eines
regen und rührigen Volkes von durchschnittlich hoher Tüchtigkeit und
Intelligenz mit entwickelter kritischer Neigung zum Raisonnieren; eines
Volks jedoch, das in öffentlichen Dingen nicht gewohnt noch gewillt
ist, spontan ohne oder gegen den Willen der Obrigkeit zu handeln; das
sich daher vortrefflich eingliedert und unter obrigkeitlicher Leitung
fast so handelt, als ob es nur seinen eigenen Gemeinwillen ausführte.
Diese Organisierbarkeit in Verbindung mit jenen tüchtigen Eigenschaften
bietet denn in der Tat ein unvergleichlich gutes Material für eine
Organisation, deren reinster Typus doch die militärische ist."
Hier ist die unmittelbare, subjektive Quelle des vorimperialistischen
deutschen Irrationalismus Während die demokratischen Völker des Westens
im großen und ganzen Staat, Staatspolitik usw. weitgehend als ihr
eigenes Werk betrachten, von ihnen Rationalität fordern, in ihnen ihre
eigene Rationalität wiederfinden, ist dieses Verhalten in Deutschland
wieder: im großen und ganzen völlig entgegengesetzt. Das Axiom der
deutschen Geschichtsschreibung: "Männer machen die Geschichte" ist nur die historisch methodologische Kehrseite der preußisch bürokratischen Auffassung vom "beschränkten Untertanenverstand", von der Proklamation nach der Schlacht von Jena: "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht." In beiden Fällen ist es die "Obrigkeit" allein, die handelt, und zwar auf der
Grundlage einer intuitiven Auffassung an sich irrationaler Tatbestände; der gewöhnliche Sterbliche, der "Massenmensch",
der Untertan ist entweder der willenlose Handlanger oder das Objekt
oder der staunende Betrachter dieser Handlungen der dafür einzig
Berufenen. Die prinzipienlose "Realpolitik" Bismarcks hat
durch ihre Anfangserfolge (bis zur Reichsgründung) sehr weitgehend zur
Entwicklung dieses Irrationalismus beigetragen; die Sterilität und die
Mißerfolge seit der Reichsgründung erscheinen als irrationale "Tragödie", falls sie nicht in Erfolge, erreicht durch "genial realpolitische" Ausnutzung irrationaler "Konstellationen",
umgedichtet wurden. Die Periode des offenen und aggressiven deutschen
Imperialismus unter Wilhelm II. wird von ihren Verehrern mit der "genialen Persönlichkeit"
des Kaisers, von seinen Kritikern damit erklärt, daß Bismarck keinen
ebenbürtigen Nachfolger hinterlassen habe. Diese weitverbreiteten
Tendenzen der durchschnittlichen deutschen Geschichtsbetrachtung werden
verstärkt durch die Publizistik jener Kreise, die ihre Interessen durch
eine Parlamentarisierung Deutschlands gefährdet sehen und deshalb das "persönliche Regime"
der Hohenzollern (in Wirklichkeit: die unkontrollierte Herrschaft der
Zivil und Militärbürokratie) als den allein heilsamen Weg des deutschen
Volkes propagieren. Es ist klar, daß die Möglichkeit der weiten
Verbreitung solcher Anschauungen durch die Art der deutschen
Reichsgründung wesentlich verstärkt wurde.
Mit dieser Entwicklung eng verbunden ist
der Kampf der deutschen Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung
gegen die Konzeption eines rationell erfaßbaren Fortschritts. Wir
wissen: dieser Kampf ist ein allgemeiner, der, wie wir später
detailliert sehen werden, auf dem Boden des niedergehenden, ja bereits
auf dem des innerlich problematisch gewordenen Kapitalismus notwendig
entsteht; also eine internationale Erscheinung. Das Spezifische an der
deutschen Entwicklung ist "nur",
daß diese Tendenz viel früher, viel entschiedener hervortritt als in
irgendeinem anderen Land. Diese Besonderheit der deutschen geistigen
Entwicklung, daß sie - vor allem in Schopenhauer und Nietzsche, aber
auch in Spengler, Heidegger usw. - die führenden Denker der radikal
reaktionären Einstellung zur Wirklichkeit liefert, werden wir später
auf ihre philosophischen Prinzipien und Folgen hin ausführlich
untersuchen; jetzt haben wir es mit der primären, elementaren,
gesellschaftlich geschichtlichen Grundlage zu tun. Diese ist: die
merkwürdige, gleichzeitige, in der Wirklichkeit untrennbare Einheit der
zeitgemäßen und unzeitgemäßen Entwicklungsrichtung Deutschlands.
Solange Deutschland einfach ein ökonomisch wie sozial zurückgebliebenes
Land war, das jedoch geistig zum ebenbürtigen Partner, ja auf gewissen
Gebieten zum geistigen Führer der bürgerlichen Welt emporwuchs,
entstand aus dieser Lage die Vorbereitungsideologie der demokratischen
Revolution in Deutschland (deutsche Dichter und Denker von Lessing bis
Heine, von Kant bis Hegel und Feuerbach). Freilich entstand
schon damals - in der Romantik und ihren Nebengewächsen - eine
Idealisierung der deutschen Zurückgebliebenheit, welche, um diese
Position zu verteidigen, gezwungen war, den Weltlauf radikal
irrationalistisch aufzufassen und den Begriff des Fortschritts als eine
angeblich oberflächliche, platte und irreführende Konzeption zu
bekämpfen. Hierin ist Schopenhauer am weitesten gegangen; dies erklärt
sowohl seine völlige Wirkungslosigkeit vor 1848 wie seine Weltwirkung
nach der Niederlage dieser Revolution.
Mit der Reichsgründung, ja bereits auch mit
der Zeit ihrer Vorbereitung komplizieren sich die objektiven Grundlagen
dieser Probleme. Deutschland hört von Jahr zu Jahr mehr auf, ein
ökonomisch zurückgebliebenes Land zu sein. Im Gegenteil: in der
imperialistischen Periode überflügelt der deutsche Kapitalismus den
bisher in Europa führenden englischen; Deutschland wird - neben den
Vereinigten Staaten - das höchstentwickelte, typischste kapitalistische
Gebiet der Welt. Gleichzeitig jedoch, wie wir gesehen haben, verfestigt
sich seine demokratisch zurückgebliebene soziale und politische
Struktur (Agrarverhältnisse, Scheinparlamentarismus, "persönliches Regiment" des Kaisers, Überreste des territorialen Kleinstaatwesens usw.).
Damit reproduziert sich der Widerspruch der früheren Stadien auf einer
zugleich höheren und qualitativ neuen Stufe. Abstrakt sind für die
Aufhebung dieses Widerspruchs zwei Wege vorhanden. Der eine ist die
Forderung daß die soziale und politische Struktur Deutschlands sich
seiner ökonomischen Entwicklung angleiche. Dabei kann diese Forderung
in revolutionärer Weise erhoben werden, es kann die Aufgabe gestellt
werden, daß endlich die Vollendung der demokratischen Revolution in
Deutschland zu vollziehen sei (so hat Friedrich Engels in seiner Kritik
des Erfurter Programms der deutschen Sozialdemokratie die Frage
gestellt). Es kann aber auch, vom Standpunkt eines wirklich und
innerlich zeitgemäßen deutschen Imperialismus, die Angleichung des
politischen Überbaus (ohne Antasten der sozialen Struktur) an die
bewährten und sich stets - Deutschland gegenüber - bewährenden Formen
der westlichen parlamentarischen Demokratie erstrebt werden. (Wir
werden sehen, daß dies die - ziemlich isolierte - Position Max Webers
war; sie hat - mutatis mutandis - eine gewisse Ähnlichkeit mit den
Bestrebungen von Scharnhorst und Gneisenau, die die militärischen
Errungenschaften der Französischen Revolution in ein "reformiertes" Altpreußen einzuführen bestrebt waren.)
Da aber das so gegebene widerspruchsvolle Verhältnis zwischen Ökonomie
und Politik in Deutschland die Entfaltung des deutschen Kapitalismus
nicht verhinderte - hier ist eben der "preußische Weg" der Entwicklung
des Kapitalismus in Deutschland handgreiflich erfaßbar -, entstand
notwendigerweise eine Ideologie der gedanklichen Verteidigung dieses
Widerspruchs zwischen ökonomischer und politischer Struktur
Deutschlands als einer höheren Entwicklungsstufe, als einer besseren
Entwicklungsmöglichkeit im Vergleich zum demokratischen Westen.
Es ist klar, daß diese Verteidigung wieder im Irrationalismus ihre
philosophische Stütze suchen mußte. Dabei können natürlich die
verschieden-artigsten Konzeptionen entstehen, deren Vielheit historisch
und philosophisch zu analysieren, ja auch nur aufzuzählen den Rahmen
dieser Betrachtungen sprengen würde. Wir verweisen daher nur auf einige
der hier entstandenen typischen Theorien. Man kann - mit positivem oder
negativem Vorzeichen, begeistert, ablehnend oder resigniert - den
Kapitalismus als "Schicksal"
auffassen; es sei nur auf Treitschkes Darstellung der Entstehung des
Zollvereins hingewiesen. Der hochentwickelte deutsche Kapitalismus
erhält dadurch die Bewertung eines irrationalen "Schicksals",
und der Träger des anderen - ebenfalls, aber im anders bewerteten Sinne
irrationalen - Prinzips, der deutsche Staat, erhält die Aufgabe, auf
der Grundlage rein persönlicher (also wieder irrationaler)
Beschaffenheit des Herrschers, dem blinden "Schicksal"
der Wirtschaft einen Sinn zu verleihen. Oder es wird dem Staat (in der
deutschen Form der Staatlichkeit) das heilsame - irrationale -
Gegengewicht gegen jene ungesunde, lebenertötende Rationalität, die die
kapitalistische Wirtschaft präsentiert, zugeschrieben usw. usw. In
allen solchen Konzeptionen ist eine Polemik gegen den
allgemeinbürgerlichen Fortschrittsbegriff der westlichen Demokratien
enthalten; die Ablehnung des Gedankens, daß die Herausentwicklung von
Staat und Gesellschaft aus den feudalen Formen, ihre zunehmende
Anpassung an die Forderungen des Kapitalismus (man denke an die
Soziologie Herbert Spencers) einen Fortschritt bedeute. Im Gegenteil:
die deutsche Entwicklung wird gerade deshalb als die höhere bewertet,
weil sie, infolge der Konservierung älterer (nicht rationaler)
Herrschaftsformen, Probleme verschiedener Art (ethische, kulturelle
usw.) lösen kann, die für Gesellschaft und gesellschaftliches Denken
des rational orientierten Westen unlösbar bleiben müssen. Es versteht
sich von selbst, daß dabei das wirksame Bekämpfen des Sozialismus die
ausschlaggebende Rolle spielt.
Irrationalismus und
Fortschrittsfeindlichkeit gehören also zusammen: sie sind gerade in
diesem Zusammen die wirksame ideologische Verteidigung der sozialen und
politischen Zurückgebliebenheit des sich rapide kapitalistisch
entwickelnden Deutschland. Und es ist ohne weiteres klar, daß die hier
skizzierten "weltanschaulichen"
Voraussetzungen der deutschen Geschichtsauffassung einen entscheidenden
Einfluß auf jene Fabrikation von Geschichtslegenden hatten, über die
wir früher sprachen.
Die
Schwäche der demokratischen Bewegung in Deutschland zeigt sich auch
darin, daß sie dieser ideologischen Verfälschungskampagne größten Stils
nichts Eigenes, keine wirkliche Geschichte Deutschlands, keine
Geschichte der Kämpfe um demokratische Revolutionen, entgegenstellen
konnte. Sie war auch nicht imstande, die "weltanschaulichen"
Grundlagen dieser Geschichtslegenden wirksam zu bekämpfen. Der
erkenntnistheoretisch agnostizistische, ethisch sozial postulative
Charakter des hier vorherrschenden Neukantianismus erwies sich hierzu
als ebenso unfähig wie die ab und zu aus dem Westen importierte
Soziologie. So wuchs die ganze deutsche Jugend ohne demokratische
Tradition auf. Franz Mehring ist der einzige deutsche Historiker, der
gegen diese Legendenfabrikation energisch auftrat und in diesem Kampf
sich große Verdienste erwarb. Aber seine Bemühungen bleiben ebenfalls
isoliert und zwar in steigendem Maße, infolge der Herrschaft des
Reformismus in der deutschen Sozialdemokratie. So werden die
demokratischen Traditionen in Deutschland immer wurzelloser. Die später
auftretenden isolierten demokratischen Publizisten haben zumeist schon
so wenig wirklichen Kontakt mit der deutschen Geschichte, daß sie den
von der Reaktion künstlich geschaffenen Gegensatz zwischen dem
angeblich urwüchsig deutschen Charakter der verfehlten Entwicklung
ihres Vaterlandes und der Demokratie als "westlicher Importware" oft unbesehen und unkritisch übernehmen und nur mit umgekehrtem Vorzeichen, d. h. sich zum "undeutschen Westen" bekennend, anwenden. Das verstärkt naturgemäß noch mehr ihre ideologische und politische Isolierung in Deutschland.
Nur die Arbeiterbewegung hätte hier ein Zentrum des politischen und ideologischen Widerstandes bieten können, so wie es die "Neue Rheinische Zeitung"
1848/49 tat, so wie Lenin und die Bolschewiki diese Arbeit für Rußland
leisteten. Aber auch in der Arbeiterbewegung wirken sich die
allgemeinen Entwicklungstendenzen Deutschlands aus. Vor der
Bismarckschen Vollendung der nationalen Einheit war es
selbstverständlich, daß die Zentralfrage der demokratischen Revolution
zum wesentlichen Spaltungsgrund der entstehenden Arbeiterbewegung
wurde. Einerseits vertraten Lassalle und nach ihm Schweitzer den
preußisch bonapartistischen Weg. Hier wirken sich die ungünstigen
Umstände der deutschen Entwicklung verhängnisvoll aus. Lassalle, mit
dem die Massenbewegung der Arbeiterklasse nach der Niederlage der
Revolution von 1848 begann, stand viel stärker, als dies in den
Geschichten der deutschen Arbeiterbewegung dargestellt wird, unter dem
ideologischen Einfluß der herrschenden bonapartistischen Tendenz. Seine
persönliche und politische Annäherung an Bismarck in seinen letzten
Lebensjahren ist keineswegs eine zufällige Verirrung, wie sie oft
ausgelegt wurde, sie ist vielmehr die notwendige logische Folge seiner
ganzen philosophischen und politischen Position. Lassalle übernahm
völlig kritiklos von Hegel den reaktionär idealistischen Gedanken des
Primats des Staates vor der Wirtschaft und wandte ihn mechanisch auf
die Befreiungsbewegung des Proletariats an. Damit lehnte er jene Formen
der Arbeiterbewegung ab, die durch Selbständigkeit des Proletariats zu
einem Kampf um demokratische Ellenbogenfreiheit, zu einem
demokratischen Zusammenstoß mit dem preußischen bonapartistischen
bürokratischen Staat hätten führen können. Die Arbeiter sollten auch
ökonomisch ihre Befreiung vom preußischen Staat, vom Staate Bismarcks
erwarten. Die einseitige Hervorhebung des allgemeinen Wahlrechts als
zentraler Forderung erhielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine
bonapartistische Betonung, um so mehr, als die innere Organisation des "Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" mit ihrer Kombination einer persönlichen Diktatur Lassalles und gelegentlicher Referendum Abstimmungen des "souveränen Volkes" ebenfalls einen stark bonapartistischen Charakter aufwies. Lassalle konnte die Statuten seines "Reiches",
wie er sich selbst ausdrückte, an Bismarck mit der Bemerkung schicken,
daß dieser ihn um sie vielleicht beneiden dürfte. Daß nun auf diesem
Boden Lassalle sogar bis zum "sozialen Königtum", bis zur direkten Unterstützung der Bismarckschen Einheitspolitik weiterschritt, ist nicht weiter verwunderlich.
Wilhelm Liebknecht, der unter dem Einfluß von Marx und Engels die
Fehler Lassalles und seiner Schule erkannte und kritisierte, vermochte
indessen auch nicht die richtige Linie durchzuhalten. Er geriet sehr
oft unter den ideologischen Einfluß der süddeutsch demokratisch
kleinbürgerlichen Tendenzen und stellte der Bismarckschen Lösung und
ihrer Lassalleschen Verteidigung nicht die alte revolutionär
demokratische Linie der "Neuen Rheinischen Zeitung" gegenüber, sondern einen kleinbürgerlich demokratischen Föderalismus "süddeutschen" antipreußischen Charakters.
Im Verlauf der späteren Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung
wirkte sich der erstarkte Reformismus auch in dieser Frage aus. Engels
kritisiert in dieser Hinsicht mit rücksichtsloser Schärfe die
opportunistischen Fehler des Erfurter Programms, vor allem hebt er
hervor, was diesem Programm fehlt. die Forderung des entschlossenen
Kampfes um die wirkliche Demokratisierung Deutschlands, um eine
revolutionär demokratische Vollendung der nationalen Einigung, die in
der Bismarckschen Lösung reaktionär war und deswegen unvollendet blieb.
Nach Engel's Tod wird der Reformismus immer stärker und gerät damit
immer mehr ins Schlepptau der kompromißlerischen liberalen Bourgeoisie. Der
wirkliche Kampf um die radikale Demokratisierung Deutschlands -
um die ideologische und politische Unterstützung
revolutionär-demokratischer Bewegungen - findet immer weniger
Anklang in der deutschen Sozialdemokratie; die Isoliertheit
Franz Mehrings, des einzigen konsequenten Vertreters solcher
Traditionen, ist nicht zuletzt auf diese Lage zurückzuführen. Und diese
reformistische Verzerrung des Marxismus beschränkt sich nicht nur auf
den offen opportunistischen rechten Flügel, der sogar bis zur
Unterstützung des Kolonialimperialismus ging, sondern erfaßt auch das
sogenannte "marxistische Zentrum", das sich unter allgemeinen revolutionären Phrasen sehr "realpolitisch"
mit dem bestehenden Zustand Deutschlands abfand. Auf diese Weise konnte
die deutsche Arbeiterbewegung keine Sammelstätte, keine Anziehungskraft
für die sich sporadisch zeigenden demokratischen Kräfte werden, konnte
diese nicht erziehen und leiten. Und in Opposition gegen die
opportunistischen Tendenzen des Reformismus verfielen große Teile der
linken Opposition in eine sektiererische Haltung zu den Problemen der
bürgerlichen Demokratie und insbesondere zur nationalen Frage, ein
wichtiger Grund, weshalb von ihnen - und später im Kriege vom
Spartakusbund - kein solcher Einfluß ausgehen konnte wie in Rußland von
den Bolschewiki.
Unter solchen Umständen erfolgt in
Deutschland der Eintritt in die imperialistische Epoche. Wie bekannt,
wird sie von einem großen ökonomischen Aufschwung, von einer
außerordentlich starken Konzentration des Kapitals usw. begleitet;
Deutschland wird zum europäisch führenden Staat des Imperialismus,
zugleich zu dem aggressivsten imperialistischen Staat, der am
ungestümsten auf die Neuaufteilung der Welt drängt. Dieser Charakter
des deutschen Imperialismus ist wiederum eine Folge der verspäteten,
aber sehr raschen kapitalistischen Entwicklung. Als Deutschland zu
einer kapitalistischen Großmacht wurde, näherte sich die Aufteilung der
Kolonialwelt bereits ihrem Ende, so daß das imperialistische
Deutschland ein seinem ökonomischen Gewicht entsprechendes
Kolonialreich nur auf der Grundlage der Aggression, nur durch Wegnahme
von Kolonien zustande bringen konnte. Darum entstand in Deutschland ein
besonders "hungriger",
beutelüsterner, aggressiver, auf die Neuaufteilung der Kolonien und
Interessensphären vehement und rücksichtslos drängender Imperialismus.
Diese ökonomische Lage kontrastiert sehr
merkwürdig zu der großen demokratisch politischen Unreife des deutschen
Volkes in dieser Periode. Aber diese Unreife ist nicht nur ein äußerst
wichtiges politisches Faktum, hat nicht nur zur Folge, daß die
sprunghafte und abenteuerhafte Außenpolitik Wilhelms II. ohne große
Reibungen im Inneren sich durchsetzen konnte, sondern hat auch für
unser Problem wichtige ideologische Folgen. Kein Zustand ist je stabil,
er muß sich nach vorwärts oder rückwärts weiterbewegen. Und da eine
fortschrittlich-demokratische Weiterentwicklung des deutschen Volkes in
der imperialistischen Periode aus den geschilderten Gründen nicht
erfolgte, mußte eine weitere Rückentwicklung einsetzen.
Diese hängt mit einer allgemeinen politisch-ideologischen Tendenz der
imperialistischen Periode im internationalen Maßstab zusammen. In
dieser herrscht einerseits eine weitgehend allgemeine antidemokratische
Tendenz, andererseits entsteht notwendigerweise unter den Bedingungen
des Imperialismus dort, wo eine bürgerliche Demokratie besteht, eine
gewisse Enttäuschung der Massen und ihrer ideologischen Wortführer an
der Demokratie wegen ihrer de facto geringen Macht der geheimen
Exekutive der Bourgeoisie gegenüber, wegen bestimmter
antidemokratischer Erscheinungen, die mit ihr im Kapitalismus notwendig
verknüpft sind (Wahlapparate usw.). Darum ist es keineswegs zufällig,
daß gerade in den demokratischen Ländern eine breite Kritik an der
Demokratie einsetzt, die von offen reaktionären Richtungen bis in die
Arbeiterbewegung hineinreicht. (Syndikalismus in den romanischen
Ländern.)
Die allgemeine Tendenz dieser Kritik ist
zweifellos eine romantisch reaktionäre. Es darf daher nicht außer acht
gelassen werden, daß in ihr oft eine berechtigte Enttäuschung an der
bürgerlichen Demokratie, ein enttäuschtes und zuweilen relativ
vorwärtsweisendes Erlebnis der sozialen Grenzen der bürgerlichen
Demokratie steckt. Man denke an Anatole Frances Spott über die
demokratische Gleichheit vor dem Gesetz, die den Armen und Reichen
gleichermaßen majestätisch verbietet, des Nachts unter Brücken zu
schlafen. Wohlgemerkt: Anatole France war, als er dies schrieb, vom
Sozialismus noch weit entfernt, gerade darum ist sein Ausspruch
charakteristisch für diese die Demokratie kritisierende Stimmung der
fortschrittlichen intellektuellen Kreise des Westens. Eine
charakteristische Mischung von richtiger Kritik und verworren
reaktionären Tendenzen kann man auch bei Shaw beobachten. Die
komplizierteste und zeitweilig einflußreichste Mischung dieser
Tendenzen erschien in G. Sorel, dem Ideologen des Syndikalismus.
Diese Tendenzen hatten besonders in ihren
reaktionären Schattierungen eine tiefgehende und wichtige Wirkung auf
die deutsche Intelligenz der imperialistischen Periode. Als sie jedoch
in Deutschland rezipiert wurden, haben sie eine tiefgreifende soziale
Wandlung erhalten. Denn im Westen waren sie ein Ausdruck der
Enttäuschung über die bereits errungene bestehende bürgerliche
Demokratie, während sie in Deutschland zu einem Hindernis ihrer
Erringung, zu einem Verzicht auf den entschiedenen Kampf um sie
geworden sind. Diese Tendenzen vermischen sich in Deutschland mit der
alten offiziellen Propaganda der Bismarckperiode, die in der
Rückständigkeit Deutschlands den Ausdruck des "deutschen Wesens",
des spezifisch Deutschen in Geschichte, Soziologie usw. fand und
propagierte. In der Bismarckperiode wehrte sich die demokratische,
ja teilweise auch noch die liberale Intelligenz gegen eine solche
Auffassung der Gesellschaft und der Geschichte (Virchow, Mommsen usw.),
freilich innerlich schwach und nach außen wirkungslos.
Indem jetzt die Kritik der Demokratie als
eine fortgeschrittene westliche Geistestendenz in Deutschland rezipiert
wurde, entstand mit anderen historischen und ideologischen Begründungen
letzten Endes eine Kapitulation vor jenen Ideologien, die den Kampf um
die Demokratie abschwächten, ihr den ideologischen und politischen
Schwung nahmen. Man denke, um nur ein bezeichnendes Beispiel
anzuführen, an den bedeutendsten deutschen bürgerlichen Soziologen und
Historiker der wilhelminischen Periode, an Max Weber. Weber war aus
patriotischen Gründen gegen das wilhelminische System, dessen
Dilettantismus, dessen Unfähigkeit, mit der französischen oder
englischen Demokratie diplomatisch zu konkurrieren, er klar einsah: er
wurde dementsprechend ein immer entschiedenerer Anhänger der
Demokratisierung Deutschlands. Da aber sein Denken von dieser
westlichen enttäuschten Kritik an der Demokratie tief durchdrungen war,
war diese für ihn nur ein "kleineres Übel"
dem bestehenden System gegenüber. Ähnliche Widersprüche kann man bei
anderen Politikern und Denkern dieser Zeit, freilich bei jedem in
verschiedener Weise, etwa bei F. Naumann beobachten. Es ist klar, daß
auf solcher ideologischen Grundlage keine radikale bürgerlich
demokratische Geistesrichtung oder gar Partei entstehen konnte. (Bei
Naumann ist dieses Umschlagen von linker Kritik in rechte Prinzipien
und rechte Praxis besonders augenfällig.)
So entsteht in der führenden deutschen Intelligenz der wilhelminischen Periode eine Reproduktion der "deutschen Misere"
auf höherer Stufenleiter - bei den meisten letzten Endes ein
Philistertum ohne wirkliche öffentliche Interessen. Indem die westliche
Kritik der Demokratie bei den meisten dazu führt, in der
undemokratischen deutschen Entwicklung etwas Besonderes zu erblicken,
eine höhere Stufe. gegenüber der problematischen undemokratischen
Demokratie des Westens, entsteht eine spießerlich literatenhafte
Kapitulationsstimmung dem bestehenden politischen System Deutschlands
gegenüber, sehr oft ein snobistisches Aristokratentum, das bei einer
zuweilen scharfen, oft sogar geistreichen und treffenden Kritik des
Bürgertums und der bürgerlichen Kultur sich vor den adeligen Bürokraten
und Offizieren des wilhelminischen Systems tief verbeugt, das den
undemokratischen Apparat dieses Systems mit seinen halbfeudalen
Überresten idealisiert. (Besonders deutlich sind diese Tendenzen bei
dem geistvollen Satiriker Sternheim und dem demokratischen Politiker
Rathenau sichtbar.
Natürlich enthält auch eine solche rechte Kritik der
bürgerlichen Demokratie des Westens bestimmte Elemente der
Wahrheit; vor allem sind viele Tatsachen, die gegen den
wesentlich undemokratischen Charakter der westlichen
Demokratien angeführt werden, an sich richtig. jedoch gerade in dieser
Frage ist eine zutreffende Kritik nur von links möglich. Es genügt, auf
Anatole France hinzuweisen. Schon in seinem Jugendwerk findet man
scharf satirische Beobachtungen und Bemerkungen über die Demokratie der
Dritten Republik. Aber erst, als er, infolge der Erfahrungen der
Dreyfusaffäre, sich in sozialistischer Richtung zu entwickeln begann,
wird diese Kritik zu, einem organischen und vorwärtstreibenden Teil
seiner Gestaltung von Gesellschaft und Geschichte.
Mutatis mutandis kann eine ähnliche Tendenz
bei Thomas Mann aufgezeigt werden. Die berechtigten Momente einer
solchen Kritik der bürgerlichen Demokratie sind in den "Betrachtungen eines Unpolitischen"
noch vom romantischen Antikapitalismus deutscher Art verdeckt und
verdreht. Als Thomas Mann dann in der Weimarer Periode seine wirkliche
Wendung in demokratischer Richtung vollzog, konnte auch seine Skepsis
der westlichen bürgerlichen Demokratie gegenüber für sein Schaffen
fruchtbar werden, so z. B. in der Gestaltung von Settembrini
(Zauberberg), wo die ironische Kritik der typischen Borniertheit der
bürgerlichen Demokratie, ihrer völligen Unfähigkeit, die grundlegenden,
die sozialen Fragen der modernen Gesellschaft zu lösen, sich mit der
ständigen Betonung von Settembrinis relativer Fortschrittlichkeit im
Vergleich zum mystifizierenden Präfaschismus Naphtas und zu der
apolitischen Trägheit Hans Castorps vereinigt.
Auch das Idealisieren der "Kompetenz", "Sachkenntnis", "Unparteilichkeit" usw. der Bürokratie im Gegensatz zum "Dilettantismus"
der Parteipolitiker und des Parlaments ist eine allgemeine Tendenz der
westeuropäischen antidemokratischen Strömungen. (Ich führe als Beispiel
nur Faguet an.) In ihr kommt der reaktionäre Charakter dieser Richtung
sehr deutlich zum Ausdruck. Manchmal bewußt, freilich zumeist unbewußt
sind die Schriftsteller, die solches verkünden, Handlanger des
imperialistischen Finanzkapitals, das durch seine kleinen Ausschüsse,
durch seine von Wahlen und Ministerwechsel unabhängig gemachten
Vertrauensleute das kontinuierliche Durchsetzen seiner spezifischen
Interessen erstrebt und sehr oft erreicht. (Man denke an die inneren
Machtverhältnisse in den Ministerien des Äußeren, an die oft
wechselnden parlamentarischen Leiter und die bleibenden
Staatssekretäre, Hauptreferenten usw. in den westeuropäischen
bürgerlichdemokratischen Ländern.) Dadurch, daß diese Tendenz im noch
nicht demokratischen Deutschland auftaucht, verstärkt sie ideologisch
den erfolgreichen Widerstand der kaiserlichen und der preußischen Zivil
und Militärbürokratie gegen jeden Versuch eines fortschrittlichen
Umbaus der staatlichen Institutionen. Der Scheinparlamentarismus
entartet zur vollendeten Machtlosigkeit; diese seine notwendige,
offenkundige Unfruchtbarkeit wird aber nicht zum Motiv für eine
demokratische Weiterbildung, sondern führt, im Gegenteil, zu seiner weiteren Erstattung und
Fixierung, Steigerung dieser Impotenz. Das imperialistische
Finanzkapital Deutschlands vermag selbstverständlich diese Lage ebenso
auszunützen wie das westeuropäische den Parlamentarismus.
Für die deutsche Entwicklung bedeutet jedoch diese Konstellation das Hineinwachsen der Überreste der "deutschen Misere"
in einen besonders reaktionären, durch keinerlei demokratische
Kontrolle gestörten Imperialismus. Besonders verheerend wirkt sich
diese Entwicklungstendenz in Deutschland darum aus, weil dadurch die
alte Servilität des durchschnittlichen und auch des geistig und
moralisch hochentwickelten Intellektuellen nicht nur aufbewahrt bleibt,
sondern noch eine neue ideologische Weihe erhält. Die Überreste des
Absolutismus, die vom Bismarckschen "Bonapartismus"
zugleich konserviert und modernisiert wurden, haben in der
politischmoralischen Geisteskultur der Beamtenseele eine besondere
Stütze: der Bürokrat betrachtet es als seinen besonderen "Standesstolz",
die Verfügungen der höheren Instanz technisch vollkommen durchzuführen,
auch wenn er mit ihnen inhaltlich nicht einverstanden ist. Und dieser
Geist, der in Ländern mit alten demokratischen Traditionen sich auf das
Beamtentum im engsten Sinne beschränkt, ist in Deutschland weit über
die Bürokratie hinaus verbreitet. Sich den Entscheidungen der Obrigkeit
bedingungslos zu beugen, wird als besondere deutsche Tugend betrachtet
- im Gegensatz zu den westlich-demokratisch freieren Anschauungen - und
immer stärker als Kennzeichen einer sozial höheren Stufe verherrlicht.
Selbst Bismarck, der persönlich und institutionell dieses
Hinüberwachsen der politischen gesellschaftlichen Miserabilität aus dem
Kleinstaatendasein in die vereinte, machtvolle Nation, dieses
Perennieren der Nullität der öffentlichen Meinung mächtig förderte,
kritisiert gelegentlich den deutschen Mangel an "Zivilcourage".
Aus den hier angedeuteten Gründen entartet diese Tendenz in der
wilhelminischen Periode geradezu zu einem Byzantinismus der
Intelligenz, in eine nach außen prahlerische, nach innen kriecherische
Servilität breitester Mittelschichten.
Dies ist, wir wiederholen, eine manchmal
ungewollte geistige Kapitulation vor der geschichtsfälschenden
Propaganda der Verherrlichung der Zurückgebliebenheit Deutschlands, wie
sie bereits in der Bismarckperiode einsetzte, die aber jetzt in einer "feineren", "höheren",
manchmal subjektiv oppositionellen, objektiv stets
scheinoppositionellen, daher um so wirksamer dem Imperialismus
dienenden Form auch die fortgeschrittensten und am meisten entwickelten
Teile der führenden bürgerlichen Intelligenz erfaßte. Hier ist die
soziale Verwandtschaft und mit ihr auch die geistige Parallelität
zwischen der "höheren" und der "ordinären" reaktionären Ideologie handgreiflich faßbar.
Ebenso, wie etwa der buddhistische Quietismus Schopenhauers mit der kleinbürgerlichen Apathie nach der
Niederlage der Revolution von 1848 und die von Nietzsche geforderte
Verwandlung des Verhältnisses zwischen Kapitalisten und Arbeitern in
eines zwischen Offizieren und Soldaten mit bestimmten kapitalistisch
militaristischen Wünschen der imperialistischen Periode parallel gehen,
ihnen entsprechen, so verhält es sich auch hier. Mit der Feststellung
dieser Parallelität wird der geistige Niveauunterschied keineswegs
bestritten. Im Gegenteil, dieser steht weiter im Vordergrund unseres
Interesses. Jedoch nicht in erster Linie der intellektuellen Höhe
wegen, sondern weil durch sie die soziale Reichweite der reaktionären
Strömungen wächst, weil diese Strömungen Schichten erfassen, an die sie
mit ihren "normalen"
geistigen Mitteln nicht heranreichen, die ihrer Alltagsstimme gegenüber
verachtungsvoll schwerhörig wären. Nur in den letzten sozialen
Konsequenzen - und diese sind für das Schicksal Deutschlands, auch
geistig, ausschlaggebend - münden sie in denselben Strom der Reaktion.
Wenn z. B. am Anfang des ersten imperialistischen Weltkrieges M. Plenge
die "Ideen von 1914" als die höheren und "deutschen"
den Ideen von 1789 entgegenstellte, so ist damit ein großer Teil der
besten deutschen Intelligenz auf das Niveau der Treitschkeschen
Propagandahistorik gesunken. Besonders kraß kann man diese
Prinzipienlosigkeit, diesen Verlust des intellektuellen und moralischen
Niveaus in den Broschüren des Kriegsanfangs beobachten; man denke, um
nur ein sehr bezeichnendes Beispiel hervorzuheben, an die
Kontrastierung der "Helden" (die Deutschen) und "Händler" (englische Demokratie) bei Werner Sombart.
Auch der Zusammenbruch des wilhelminischen Systems im ersten
imperialistischen Weltkrieg und die Errichtung der Weimarer Republik
bringen für die Demokratisierung Deutschlands, für die Entstehung tief
verwurzelter demokratischer Traditionen in den breitesten Massen, auch
außerhalb des klassenbewußten Proletariats, keine radikale Wendung.
Erstens ist diese Politische Demokratisierung weniger aus der inneren
Macht der Volkskräfte als aus einem militärischen Zusammenbruch
entstanden; weite Kreise der deutschen Bourgeoisie akzeptierten
Republik und Demokratie teils aus einer Zwangslage, teils weil sie von
ihnen außenpolitische Vorteile, günstigere Friedensbedingungen durch
Wilsons Hilfe usw. erwarteten. (Hier ist ein großer Unterschied zur
demokratischen Republik in Rußland 1917. Dort waren breite Kleinbürger
und Bauernmassen von Anfang an entschieden demokratisch und
republikanisch, wenn auch in der Großbourgeoisie sehr ähnliche
Stimmungen wie in Deutschland zu beobachten waren, wenn auch die
Führerschicht der kleinbürgerlich bäuerlichen Demokratie sich
verräterisch der Demokratie gegenüber verhalten hat. Die Spaltungen z.
B. bei den Sozialrevolutionären zeigen deutlich diese demokratischen Stimmungen der kleinbürgerlich
bäuerlichen Massen.) Zweitens wirkte sich die verspätete Entwicklung
Deutschlands auch hier aus. Gleich beim Ausbruch der bürgerlich
demokratischen Revolution stand 1918 das Proletariat als die
entscheidende gesellschaftliche Macht da, war aber infolge der Stärke
des Reformismus, infolge der damaligen ideologischen und
organisatorischen Schwäche des linken Flügels der Arbeiterbewegung den
Problemen der Erneuerung Deutschlands nicht gewachsen. Die bürgerliche
Demokratie war deshalb, wie dies Engels schon viel früher prophetisch
vorhergesehen hat, im wesentlichen eine Vereinigung aller bürgerlichen
Kräfte gegen die drohende Gefahr einer proletarischen Revolution. Die
unmittelbar erlebten Erfahrungen der russischen Revolution von 1917
wirkten hier sehr stark nicht nur auf die Bourgeoisie selbst, sondern
auch auf den reformistischen Flügel der Arbeiterbewegung ein. Dieser
hat dementsprechend die gegen das Proletariat gerichtete demokratische
Koalition aller bürgerlichen Kräfte tatsächlich bedingungslos
unterstützt, ja war ihr eigentliches Zentrum, ihre Kraftquelle.
Daher ist die Weimarer Republik im
wesentlichen eine Republik ohne Republikaner, eine Demokratie ohne
Demokraten, wie es - selbstverständlich unter historisch ganz anderen
Umständen - die französische Republik zwischen 1848 und 1851 gewesen
ist. Die mit den Reformisten verbündeten linksbürgerlichen Parteien
dienten nicht der Verwirklichung einer revolutionären Demokratie,
sondern waren - unter den Parolen von Republik und Demokratie - im
wesentlichen "Ordnungsparteien",
was praktisch soviel bedeutet, daß an der gesellschaftlichen Struktur
des wilhelminischen Deutschland möglichst wenig verändert wurde
(Bestehenbleiben des junkerlichen Offizierskorps, der alten Bürokratie,
der meisten Kleinstaaten, keine Agrarreform usw.). Unter diesen
Umständen ist es kein Wunder, daß in den Volksmassen, die, wie wir
gesehen haben, niemals eine demokratische Erziehung erhalten haben, in
denen keine demokratischen Traditionen lebendig waren, sehr bald eine
tiefe Enttäuschung an der Demokratie entstand, daß sie sich
verhältnismäßig rasch von der Demokratie abwandten. Dieser Prozeß hat
sich besonders beschleunigt und vertieft, weil die Weimarer Demokratie
gezwungen war, die tiefste nationale Erniedrigung, die Deutschland seit
der Napoleonischen Zeit erlebt hat, den imperialistischen Frieden von
Versailles, durchzuführen und ins Leben zu setzen. Den demokratisch
nicht erzogenen Volksmassen galt also die Weimarer Republik als das
Vollzugsorgan dieser nationalen Erniedrigung im Gegensatz zu den Zeiten
der nationalen Größe und Expansion, die mit Friedrich II. von Preußen,
Blücher und Moltke, also mit monarchistisch undemokratischen
Erinnerungen verbunden waren. Hier kann man wieder den großen Gegensatz
zwischen der deutschen und der französisch-englischen Entwicklung
beobachten, wo die revolutionär-demokratischen Perioden (Cromwell, die
große Revolution usw.) Perioden des höchsten nationalen Aufschwungs
sind. Die Umstände der Entstehung der Weimarer Republik unterstützen
die alte Auffassung von der "spezifisch deutschen", dem "deutschen Wesen"
einzig gemäßen antidemokratischen Entwicklung, geben einen scheinbar
einleuchtenden Vorwand zu der Legende, daß deutsche nationale Größe nur
auf antidemokratischen Grundlagen entstehen könnte. Die Philosophie,
Geschichtsschreibung und Publizistik der Reaktion hat diese Lage denn
auch weidlich ausgenützt, und der linke Flügel des Bürgertums und der
bürgerlichen Intelligenz vermochte dem nichts Wirksames
entgegenzusetzen,
So verstärkte sich im Laufe der Weimarer
Republik in breiten Schichten des Bürgertums und Kleinbürgertums das
alte Vorurteil, daß Demokratie in Deutschland eine "westliche Importware",
ein schädlicher Fremdkörper wäre, den die Nation, um zu gesunden,
auszuscheiden hätte. Die Traditionslosigkeit vieler subjektiv
überzeugter Demokraten zeigt sich darin, daß sie ihrerseits diesen
angeblich ausschließlich "westlichen" Charakter der
Demokratie zur Grundlage ihrer Propaganda machten, ihr Antideutschtum,
ihre Begeisterung für die westliche Demokratie taktlos und untaktisch
in den Vordergrund stellten und damit der Reaktion in ihrer
antidemokratischen Legendenbildung ungewollt eine Hilfe leisteten. (Am
deutlichsten ist diese Ideologie im Kreis der damaligen "Weltbühne"
sichtbar.) Dazu kommt ein nihilistisches Verhalten breiter Kreise der
radikalen bürgerlichen Intelligenz der nationalen Erniedrigung
gegenüber (abstrakter Pazifismus), welcher Nihilismus auch, wenngleich
in anderen Formen, in die radikale Arbeiterbewegung Eingang fand.
(Besonders stark war diese Tendenz in der USPD, aber sogar die
Kommunistische Partei Deutschlands war unter dem Einfluß der
ideologischen Fehler Rosa Luxemburgs am Anfang ihrer Entwicklung nicht
frei von einem nationalen Nihilismus.)
Trotzdem sind die offenen
Restaurationsversuche der Hohenzollernschen Monarchie gescheitert (Kapp
Putsch 1920). Die Partei dieser Restauration, die "Deutschnationale",
konnte nie zu einer wirklich großen entscheidenden Klassenpartei
erwachsen, obwohl ihre Vertreter wegen der antiproletarischen,
antirevolutionären Tendenzen der Weimarer Republik die meisten ihrer
Machtposten im zivilen und militärischen Apparat behalten haben. Erst
als infolge der großen Krise, die im Jahre 1929 einsetzte, die
Enttäuschung breitester Massen ihren Gipfelpunkt erreicht, gelingt es
der Reaktion, sich eine Massenbasis zu schaffen in der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei", im Hitlerfaschismus.
Es kommt deshalb in diesen einleitenden Betrachtungen darauf an, jene
gesellschaftlich ideologischen Züge kurz zu skizzieren, die diesen
beschädigend raschen und noch beschämender dauerhaften Siegeslauf des
Faschismus in Deutschland ermöglichten; kurz darauf hinzuweisen, wie er
aus der bisherigen deutschen Entwicklung herauswächst, zugleich jedoch
anzudeuten, worin seine spezifisch neuen Eigenschaften bestehen, und
auch, warum dieses Neue nur eine qualitative Steigerung früher bereits
vorhandener Tendenzen bedeutet.
Wir haben gesehen, daß die Weimarer
Republik, infolge der Art ihres Entstehens, der sozialen Mittel ihrer
Verteidigung (gegen links), ihrer Befestigung und ihres Aufbaues,
einerseits eine Republik ohne Republikaner, eine Demokratie ohne
Demokraten gewesen ist. Die erste Begeisterung der Massen ist rasch
verflogen: mit dem Zusammenbruch der Hoffnungen auf einen "Wilsonschen" Frieden für eine deutsche Demokratie, mit der Enttäuschung der Erwartungen, die an die "Sozialisierung"
geknüpft waren. Insbesondere in dem revolutionär gesinnten, links
gerichteten Teil der Arbeiterklasse verfestigt sich eine feindliche
Einstellung zum Weimarer System, das mit der Ermordung der größten
Helden der neuen revolutionären Arbeiterbewegung Deutschlands, Karl
Liebknechts und Rosa Luxemburgs, seine Gründung vollzog. Andererseits
waren, wie wir ebenfalls gesehen haben, die Anhänger der Hohehzollern
Restauration, der entschiedenen Reaktion der Anfangszeit, viel zu
schwach, um einen dauerhaften Umsturz zustande zu bringen; es ist auch
bezeichnend, daß ihre Anhängerschaft niemals zu einer wirklichen
Massenbewegung erwuchs. Hier enthüllte 'sich, daß das
Hohenzollernregime nie eine wirkliche Massenbasis besaß. Keineswegs
zufälligerweise. Der offen und streng "obrigkeitliche"
Charakter der alten Form der Reaktion konnte, solange die Herrschaft
der Hohenzollern unerschüttert war oder wenigstens zu sein schien, die
Majorität der Bevölkerung in der Stimmung einer begeisterten Loyalität
festhalten. Nach dem Zusammenbruch aber, als eine neue, wenig populäre "Obrigkeit"
entstand, als die Restauration nur mit Mitteln des bewaffneten
Aufstands oder, in seiner Vorbereitungszeit, auf dem Wege einer
entschiedenen Opposition durchführbar wurde, enthüllt sich die
quantitative und qualitative Schwäche der Massenbasis der alten
Reaktion.
So erhielt die Weimarer Republik infolge
der Schwäche ihrer Gegner von links und von rechts eine - innerlich
sehr labile, durch ununterbrochene Konzessionen an die Reaktion
erkaufte - Existenzmöglichkeit, die, solange Deutschland nicht in der
Lage war, offen den Versailler Frieden zu kündigen, auch durch
außenpolitischen Druck und die entsprechenden außenpolitischen
Erwägungen der deutschen Imperialisten unterstützt war. Für einen
richtigen Umsturz mußten neue Bedingungen entstehen.
Unter
diesen Bedingungen steht in erster Reihe die klassenmäßige
Gewichtsverschiebung innerhalb der Reaktion . seit dem Kriegsverlust
werden die Monopolkapitalisten zu ihrer führenden Schicht. Dies ist
auch der Abschluß einer langen Entwicklung, aber ein Abschluß, der
qualitativ Neues bringt. Schon 1848 spielten die den damals
entwickeltesten deutschen Kapitalismus vertretenden rheinischen
Großindustriellen, obwohl ihre Mehrzahl liberal, also oppositionell
war, eine große Rolle in der Niederlage der Revolution, in der
neuerlichen Befestigung des antidemokratischen Regimes in Deutschland;
mit ihren "Vereinbarungsbestrebungen"
gaben sie den monarchistisch antidemokratischen Kräften eine Atempause
zur Zeit der aufsteigenden revolutionären Welle, mit ihrer
formalistisch parlamentarischen, stets loyalen "Opposition"
trugen sie zur Desorganisation der demokratischen Abwehrbewegung gegen
die zum Gegenschlag rüstende Hohenzollernreaktion bei usw. Unter
Bismarck und noch unter Wilhelm 11. wächst, entsprechend der rapiden
Entwicklung des deutschen Kapitalismus, der Einfluß der Großbourgeoisie
auf die Linie der Regierung; dieser Einfluß geht aber mehr über
Hintertreppen. die offizielle politische Führung bleibt, von seltenen
Ausnahmen (Dernburg) abgesehen, in den alten Händen, bewährt ihre alte "obrigkeitliche"
Technik, ja die Regierungsart von Wilhelm II. erscheint als eine
imperialistische Renaissance des Stils von Friedrich Wilhelm IV. Auch
nach der Niederlage im Weltkrieg wirkt sich der nunmehr entschieden
führend gewordene Einfluß des Monopolkapitals oft hinter den Kulissen
aus, man wählt mit Vorliebe von anders her legitimierte
Durchführungsorgane und Fassadenplastiken (Hindenburg, Brüning,
Schleicher usw.); das Bündnis mit dem preußischen Junkertum, mit dem "junkerlichen"
Patriziat der Militär- und Zivilbürokratie bleibt bestehen, jedoch in
diesem Bündnis übernimmt das Monopolkapital die führende Rolle in allen
Fragen, es begnügt sich nicht mehr damit, in ökonomischen Komplexen,
die für seine Interessen lebenswichtig sind, seine Ziele durchzusetzen.
Diese Entwicklung spielt sich jedoch in
einem sozialen Milieu ab, in dem die antikapitalistischen Stimmungen
der Massen in stetem Wachstum begriffen sind. Die Vorhut der deutschen
Arbeiterklasse hat die russischen Ereignisse von 1917 begeistert
verfolgt und hat in ihnen seither die notwendige Perspektive auch der
deutschen Geschichte erblickt. Die Hoffnungen, die an die
Sozialisierungsversprechungen von 1918 geknüpft waren, die
Enttäuschungen, die in den folgenden Jahren daraus entsprangen, daß die
ganze Bewegung im Sande verlief, die allmähliche Entfremdung breiter
Arbeitermassen von der immer offensichtlicher unter monopol
kapitalistischer Führung stehenden Weimarer Republik, die aufreizenden
Wirkungen der mit der Krise seit 1929 verknüpften
Massenarbeitslosigkeit
usw. ließen antikapitalistische Stimmungen entstehen, deren Radius weit
über die Arbeiterklasse hinausging. Für die monopolkapitalistische
Reaktion entstand also die neue Aufgabe: gerade diese
antikapitalistischen Stimmungen der Massen zur Befestigung der eigenen
Herrschaft auszunützen; sich auf diese stützend ein reaktionäres Regime
neuen Typus zu begründen, in dem die absolut führende Rolle des
Monopolkapitalismus auf allen Gebieten des politischen und sozialen
Lebens endgültig gesichert sei.
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein,
diese politische Entwicklung Deutschlands auch nur skizzenhaft zu
schildern. Wir mußten auf diese politischen und sozialen Momente nur
darum hinweisen, damit die in den späteren, detailliert philosophischen
Betrachtungen geschilderten und analysierten Weltanschauungstendenzen
sich richtig von ihren sozialen Grundlagen abheben können. Wenn man
bloß die oben angegebene Aufgabe nimmt, nämlich das Umschlagenlassen
antikapitalistischer Massenströmungen, ja Massenbewegungen in die
absolute Herrschaft sans phrase des Monopolkapitalismus (womit eng
verbunden die Aufgabe gestellt ist, die an sich verständliche und
berechtigte Empörung breiter Massen über das imperialistische
Friedensdiktat von Versailles in einen aggressiv imperialistischen
Chauvinismus umschlagen zu lassen), so ist es klar, daß zur selbst rein
dernagogischen "Vereinigung"
solcher einander widerstrebender Tendenzen nur eine radikal
irrationalistische Weltbetrachtung geeignet ist. Es ist auch ohne
weiteres ersichtlich, daß der hier benötigte, lange vorbereitete, in
der "nationalsozialistischen Weltanschauung" sich
vollendende Irrationalismus qualitativ vom Irrationalismus von vor und
nach 1848 verschieden sein muß. Natürlich spielt bei der besonderen
Empfänglichkeit des deutschen Bürgertums für den Irrationalismus in der
Zeit zwischen den beiden Weltkriegen dessen "Erziehung"
durch die alten Irrationalismen eine nicht unbeträchtliche Rolle. Wenn
wir aber die vehemente und massenhafte Verbreitung der neuen,
faschistischen Nuance gesellschaftlich verstehen wollen, müssen wir auf
einige neue sozial ideologische Phänomene hinweisen.
Dabei stößt man in erster Linie auf eine
Verwandlung in der Arbeiterklasse. Es ist auffallend, daß diese gegen
die Vernunft gerichtete Tendenz breite Massen ergreift, auch erhebliche
Teile der Arbeiterklasse, und daß Argumente, die an den Arbeitern bisher
wirkungslos abgeprallt sind, bei ihnen jetzt eine bereitwillige
Empfänglichkeit finden. Denn für die Massen wird die Frage von
Vernunft oder Irrationalität noch schärfer als Lebensfrage und
nicht bloß theoretisches Problem gestellt als für die
Intelligenz. Die großen Fortschritte der Arbeiterbewegung, die
klare Perspektive auf erfolgreiche Kämpfe zur Besserung der
Lage, auf absehbaren Sturz des Kapitalismus haben die
Arbeiterklasse dazu geführt, in ihrem eigenen Leben, in ihrer
eigenen historischen Entwicklung etwas Vernünftiges und Gesetzmäßiges
zu sehen; jeder erfolgreiche Tageskampf, jede Abwehr der Reaktion (z.
B. zur Zeit des Sozialistengesetzes) hat diese Weltanschauung in ihnen
verstärkt, hat sie zur überlegenen Verachtung der damals plumpen
religiös-irrationalistischen Propaganda des reaktionären Lagers
erzogen.
Mit dem Sieg des Reformismus, mit der
Teilnahme der Reformisten am Weimarer System hat sich diese Lage im
Kern geändert. Schon die Vorstellung der Vernünftigkeit erhielt einen
gründlich geänderten Akzent. Bernstein hatte bereits den revolutionären
Kampf um die sozialistische Gesellschaft, um "das Endziel", als utopisch herabzusetzen versucht und diesen Bestrebungen die platte und philisterhaft "realpolitische Vernünftigkeit"
des Kompromisses mit der liberalen Bourgeoisie, der Anpassung an die
kapitalistische Gesellschaft gegenübergestellt. Seit die
Sozialdemokratie regierende Partei geworden ist, herrscht in ihr, in
ihrer Propaganda und vor allem ihren Taten, diese "realpolitische Vernünftigkeit".
Diese Propaganda mischte sich in den ersten Revolutionsjahren mit
demagogischen Versprechungen der baldigen Sozialisierung, der
Verwirklichung des Sozialismus auf diesem "vernünftigen" Weg, im Gegensatz zu dem "unvernünftigen" Abenteurertum, zur "irrealen Katastrophenpolitik" der Kommunisten. Die "relative Stabilisierung"
macht die Herrschaft der Bernsteinschen Vernunft in Theorie und Praxis
des Reformismus zu einer absoluten. Und die Linie dieser "realpolitischen Vernünftigkeit" wurde in der Epoche der großen Weltwirtschaftskrise vom herrschenden Reformismus mit eiserner Energie aufrechterhalten. "Vernunft"
bedeutet also praktisch für die Massen: bei Lohnherabsetzung nicht zu
streiken, sondern sich dieser zu fügen; bei Verminderung der
Arbeitslosenunterstützung, bei Ausscheidung immer größerer Massen aus
dem Kreis der Unterstützungsberechtigten sich jeder Demonstration,
jedes energischen Schrittes zu enthalten; vor den blutigsten
faschistischen Provokationen auszuweichen, sich zurückzuziehen, die
Kraft der Arbeiterklasse, ihre Beherrschung der Straße nicht zu
verteidigen, sondern, wie Dimitroff diese Politik richtig
charakterisierte, der Gefahr so zu entgehen, daß man die Bestie nicht
reizt.
So hat die reformistische "Vernunft"
die Arbeiterklasse nicht nur in den Kämpfen gegen den imperialistischen
Kapitalismus, gegen den sich zur Machteroberung rüstenden Faschismus
praktisch widerstandsunfähig gemacht, sondern sie hat auch die alte
Überzeugung von der Vernünftigkeit der historischen Entwicklung, die
durch richtig geführte Kämpfe zur Verbesserung der täglichen Lage der
Arbeiterklasse und letzten Endes zu ihrer vollständigen Befreiung
führt, kompromittiert und zersetzt. Die von den Reformisten betriebene
Propaganda gegen die Sowjetunion hat diese Entwicklung noch darin
verstärkt, daß der Heroismus der russischen Arbeiterklasse als unnütz,
zweckwidrig, ergebnislos dargestellt wurde.
Diese
Entwicklung hat in der Arbeiterklasse selbst verschiedene Konsequenzen.
Eine verhältnismäßig große Vorhut wendet sich vom Reformismus ab um die
alten Traditionen des Marxismus in der neuen, dem imperialistischen
Zeitalter gemäßen Form, in der des Leninismus, weiterzubilden. Eine
breite Schicht erstarrte auf dem Niveau dieser "realpolitischen Vernünftigkeit"
und wurde praktisch unfähig, gegen den Faschismus wirksam zu kämpfen.
Es gab daher eine verhältnismäßig beträchtliche Masse, besonders unter
den jungen, infolge der verzweifelten Krisenlage von Ungeduld geladenen
Arbeitern, bei denen diese Entwicklung eine Erschütterung ihres
Glaubens an die Vernunft überhaupt, an die revolutionäre Vernünftigkeit
der historischen Entwicklung, an die innige Verknüpfung und
Zusammengehörigkeit von Vernunft und Revolution, hervorgebracht hat In
dieser Schicht war also gerade infolge ihrer theoretischen und
praktischen Erziehung durch den Reformismus angesichts der Krise eine
Bereitwilligkeit da, in ihre Weltanschauung die modernen Tendenzen der
Antivernünftigkeit, die Verachtung von Vernunft und Wissenschaft
aufzunehmen, sich dem Wunderglauben des Mythos hinzugeben.
Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß
solche erbitterten Jungarbeiter zu Lesern und Verehrern von Nietzsche
oder Spengler geworden wären. Da aber der Gegensatz von Verstand und
Gefühl für die Massen aus dem Leben selbst herausgewachsen zu sein
schien, mußte in ihnen auch ideologisch eine Empfänglichkeit für diese
Lehre entstehen.
In der Intelligenz und im Kleinbürgertum
handelt es sich um eine andere Art von Wandlung, die aber in ihren
Folgen für die Empfänglichkeit dem faschistischen Irrationalismus
gegenüber ebenso wichtig wurde: die Verzweiflung als Massenstimmung
und, eng verbunden mit ihr, die Leichtgläubigkeit, das Erwarten
rettender Wunder. Die allgemeine Verbreitung der Verzweiflungsideologie
in Deutschland ist ohne Frage in erster Linie eine Folge des verlorenen
Krieges, des Versailler Friedens, des Verlustes der nationalen und
politischen Perspektive, die in diesen Kreisen - bewußt oder unbewußt -
an den Sieg des deutschen Imperialismus geknüpft war. Der ungeheure,
weit über die Kreise der philosophisch Interessierten hinausgehende
Erfolg Spenglers ist ein deutliches Kennzeichen dieser Stimmung. Die
Enttäuschungen der Periode der Weimarer Republik, und zwar sowohl bei
den Rechten, die eine Restauration, wie bei den mehr Linksgerichteten,
die eine demokratische, ja sozialistische Erneuerung Deutschlands
erhofften, mußten diese Stimmungen noch verstärken, die dann in der
großen Wirtschaftskrise 1929 ihren Gipfelpunkt erreichten. Die
objektiven Grundlagen dieser Stimmungen sind also ökonomischen,
politischen und sozialen Charakters. Wenn man jedoch ihre vehemente, so
gut wie widerstandslose Verbreitung untersucht, so kann man darin die
wichtige
Rolle der ideologischen Entwicklung bis zum ersten Weltkrieg unmöglich
verkennen. Und zwar sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht.
Negativ spielt die soziale Hilflosigkeits und
Unselbständigkeitsideologie des in der Atmosphäre des "Obrigkeitsstaates"
erzogenen Deutschen eine außerordentlich wichtige Rolle. Indem der
durchschnittliche Deutsche - mag er in seinem Fach (worunter auch
Philosophie, Kunst usw. einbegriffen ist) noch so tüchtig, sogar
hervorragend sein - alle, auch für seine Existenz maßgebenden
Entscheidungen von "oben", von den "berufenen Führern"
der Armee, der Politik, der Wissenschaft erwartet, indem es völlig
außerhalb seines Gesichtskreises liegt, seine eigenen Stellungnahmen
als mitbestimmende Momente des politischen, ökonomischen usw. Lebens zu
betrachten, blieb er nach dem Zusammenbruch des Hohenzollernregimes in
einem hilflos desorientierten Zustand und erwartete dessen Besserung
stets nur teils von den "alten, bewährten Führern", teils von einer neu entstandenen "Führergarnitur",
und das allmählich evident gewordene Versagen aller ließ ihn in einem
völlig verzweifelten Zustand zurück. Die Verzweiflung ist jedoch mit
der Erwartung eines "neuen Führers" verknüpft; sie hat -
im Durchschnitt - keine Intention auf selbständige Abwägung der Lage,
auf selbständiges Handeln hervorgebracht. Positiv werden die
Stimmungen, die den faschistischen Massenbetrug ermöglichen, dadurch
stimuliert, daß sich die agnostizistischen, pessimistischen
Weltanschauungstendenzen auswirken, deren ausführliche Analyse wir
später geben werden. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist, daß der
Pessimismus, die Verzweiflung das normale moralische Verhalten zu den
Problemen der Gegenwart ist. Natürlich nur für die geistige "Elite"; der Plebs mag an Fortschritt glauben, sein Optimismus ist minderwertig, "ruchlos", wie schon Schopenhauer bestimmte.
In solcher Beziehung bewegt sich die deutsche Weltanschauung der
imperialistischen Periode, wie wir sehen werden, von Nietzsche bis
Spengler und später in der Weimarer Zeit von Spengler bis zum
Faschismus. Wenn wir diese weltanschauliche Vorarbeit der deutschen
Philosophie seit Schopenhauer und Nietzsche betonen, so könnte dagegen
eingewandt werden, daß es sich um esoterische, nur in ganz engen
Kreisen verbreitete Lehren handelt. Wir glauben dagegen, daß man die
indirekte, unterirdische Massenwirkung der bisher analysierten
neumodischen, reaktionären Ideologien nicht unterschätzen darf. Diese
Wirkung beschränkt sich nicht auf den unmittelbaren Einfluß der von den
Philosophen verfaßten Bücher selbst, obwohl man nicht außer acht lassen
soll, daß die Auflagen der Werke Schopenhauers und Nietzsches
sicherlich viele Zehntausende erreichen. Aber über Universitäten,
Vorträge, Presse usw. greifen diese Ideologien auch auf die breitesten
Massen über, selbstverständlich in vergröberter Form, dadurch wird
jedoch ihr reaktionärer Inhalt, ihr letzthinniger Irrationalismus
und Pessimismus eher verstärkt als abgeschwächt, da die Kerngedanken
die Vorbehalte stärker beherrschen. Die Massen können durch solche
Ideologien intensiv vergiftet sein, ohne daß ihnen die unmittelbare
Quelle der Vergiftung je zu Gesicht gekommen wäre. Die Nietzschesche
Barbarisierung der Instinkte, seine Lebensphilosophie, sein "heroischer Pessimismus"
usw. sind notwendige Produkte der imperialistischen Periode, und die
durch Nietzsche veranlaßte Beschleunigung dieses Prozesses konnte sich
auch bei Tausenden und aber Tausenden auswirken, denen nicht einmal der
Name Nietzsches bekannt war.
Diese Momente verstärkten jedoch bloß die
Bereitschaft für eine Weltanschauung der Verzweiflung. Was an ihr den
alten ähnlichen Tendenzen gegenüber neu ist, wächst aus der Lage
Deutschlands zwischen den zwei imperialistischen Weltkriegen heraus.
Der wichtigste Unterschied zwischen Vorkriegs und Nachkriegszeit ist
zweifellos die starke Erschütterung und später das fast vollständige
Verlorengehen der "Sekurität"
der sozialen und individuellen Existenz in den Mittelschichten, in
erster Linie in der Intelligenz. War man vor dem ersten
imperialistischen Krieg Pessimist, vor allem in bezug auf die Kultur,
so hatte dieses Verhalten einen geruhsamkontemplativen Charakter ohne
irgendwelche Intention auf ein mögliches Handeln; da dem einzelnen die
eigene Existenz als materiell und sozial, als geistig und menschlich
gesichert erschien, konnten die weltanschaulichen Stellungnahmen so gut
wie rein theoretisch bleiben, ohne wesentlichen Einfluß auf die
Lebensführung, auf die innere Lebenshaltung der Beteiligten. Das
Aufhören der "Sekurität", die ständige Gefährdung der
inneren wie äußeren Existenz läßt diesen irrationalistischen
Pessimismus ins Praktische umschlagen. Wir meinen dabei nicht, daß die
Weltanschauung nunmehr unmittelbar Handlungen hervorrufen muß, sondern
bloß, daß sie einerseits von der persönlich empfundenen Gefährdung der
jeweiligen Einzelexistenz ausgeht (und nicht nur von der Kontemplation
einer objektiven Kulturlage), und andererseits, daß der Weltanschauung
gegenüber praktische Anforderungen gestellt werden, wenn auch in der
Form, daß aus der Struktur der Welt "ontologisch" die Unmöglichkeit des Handelns abgeleitet wird.
Jedenfalls erweisen sich die alten Formen des Irrationalismus als
ungeeignet, diese Fragen zu beantworten. Und hier zeigt sich die
Notwendigkeit, worauf wir im folgenden wiederholt zurückkehren werden,
daß die Demagogie des Faschismus, so viel sie auch formell wie
inhaltlich von der Ideologie der Reaktion alten Typs übernimmt, sich in
ihrer Methode auf die neueren, im Imperialismus entstandenen Ideologien
orientiert, von ihnen alles "Intime", "geistig Hochstehende"
abstreift und den Rest in eine resolute und grobe Form der
Volksverführung verwandelt. Hitler und Rosenberg tragen alles, was über
irrationellen Pessimismus von Nietzsche
und Dilthey bis Heidegger und Jaspers auf den Lehrstühlen, in den
intellektuellen Salons und Cafés gesprochen wurde, auf die Straße. Wir
werden sehen, wieviel dabei in den wesentlichen Inhalten, von der
besonderen Methodologie dieser Entwicklung aufbewahrt bleibt, trotz
oder wegen der demagogischen Vergröberung durch die "nationalsozialistische Weltanschauung".
Ihr massenpsychologischer Ausgangspunkt ist eben diese Verzweiflung,
diese aus der Verzweiflung entspringende Leichtgläubigkeit und
Wundererwartung der Massen, darunter auch der geistig
höchstqualifizierten Intelligenz. Daß die Verzweiflung das
sozialpsychologische Verbindungsglied zwischen dem Nationalsozialismus
und den breiten Massen gewesen ist, erhellt daraus, daß der wirkliche
Aufschwung der Bewegung, ihr wirkliches Eindringen in die Massen, mit
der Wirtschaftskrise von 1929 einsetzt, mit dem Zeitpunkt also, zu dem
die anfangs allgemein weltanschauliche Verzweiflung, die allmählich
immer konkretere gesellschaftliche Formen annimmt, in eine massive
Gefährdung der individuellen Existenz umschlägt, zu dem deshalb die
früher festgestellten Intentionen auf das Praktische die Möglichkeit
ergeben, die weltanschauliche Verzweiflung in den Dienst einer
verzweifelt abenteuerlichen Politik zu stellen.
Diese Politik benutzt nun die alten, von der Weimarer Demokratie kaum angetasteten "obrigkeitlichen"
servilen Instinkte der Deutschen. Die Methode der Unterwerfung muß aber
eine neue sein, weil es sich jetzt zum erstenmal in der deutschen
Geschichte nicht um die Folgsamkeit einer angestammten legitimen Macht
gegenüber handelt, auch nicht um die bloße Restauration einer solchen,
sondern um den Anschluß an einen radikalen Umsturz, an eine "Revolution",
wie sich der Nationalsozialismus, besonders anfangs und auch später in
Krisenzeiten, mit Vorliebe nannte. Dieser nicht legitime, "revolutionäre"
Charakter der faschistischen Macht ist eines der Motive, weshalb er
methodologisch den Anschluß an weltanschauliche Typen von Nietzsches
Art und weniger an die reaktionäre Ideologie alten Schlages suchen muß.
Freilich ist die faschistische Demagogie sehr vielfältig; sie versucht,
simultan mit der Beteuerung ihres "revolutionären"
Charakters auch an die möglichen Legitimitätsinstinkte zu appellieren
(man denke an die Rolle Hindenburgs in der Übergangszeit, an die
formell legale Art der Machtergreifung usw.).
Die Verzweiflung würde aber allein als
sozialpsychologisches Verbindungsglied nicht ausreichen. Sie muß -
gerade in ihrer Intention auf das Praktische - die von uns bereits
erwähnte Leichtgläubigkeit und Erwartung von Wundern in sich als
Momente enthalten. Diese Verbindung ist tatsächlich da und nicht
zufälligerweise. Denn je größer die Verzweiflung persönlich wird, je
mehr in ihr das Gefühl der Gefährdung der individuellen Existenz zum
Ausdruck kommt, desto mehr müssen im Durchschnitt -
unter den gesellschaftlichen und geistig-moralischen
Entwicklungsbedingungen Deutschlands - Leichtgläubigkeit und
Wundererwartung aus ihr erwachsen. Seit Schopenhauer und besonders seit
Nietzsche zersetzt der irrationalistische Pessimismus die Überzeugung,
daß eine objektive Außenwelt vorhanden ist, daß ihre unbefangene und
gründliche Erkenntnis einen Ausweg aus jener Problematik, die die
Verzweiflung hervorruft, weisen könnte. Die Erkenntnis der Welt verwandelt sich hier immer stärker in eine - steigend willkürliche - Weltauslegung. Diese philosophische Tendenz erhöht naturgemäß das alles von der "Obrigkeit"
erwartende Verhalten dieser Schicht, denn es handelt sich für sie auch
im Leben nicht um eine sachliche Analyse sachlicher Zusammenhänge,
sondern um eine Auslegung von Entscheidungen, deren Motive unbekannt
bleiben müssen. Und es ist auch ohne weiteres klar, daß hier eine der
sozialpsychologischen Quellen der Wundererwartungen ist: die Lage mag
verzweifelt sein, aber das "gottbegnadete Genie" (Bismarck, Wilhelm II., Hitler) "wird schon" durch "schöpferische Intuition" einen Ausweg finden. Es ist weiter auch klar, daß, je gefährdeter die "Sekurität"
ist, je unmittelbarer die individuelle Existenz selbst auf dem Spiele
steht, diese Leichtgläubigkeit, dieses Wundererwarten desto intensiver
werden. Es handelt sich also hier um eine alte traditionelle Schwäche
der deutschen Mittelschicht, deren Umkreis von der Nietzscheschen
Philosophie bis zur Psychologie des durchschnittlichen Verhaltens der
Bierphilister reicht.
Wenn man also oft die erstaunte Frage hört,
wie große Massen des deutschen Volkes den kindischen Mythos von Hitler
und Rosenberg mit Glauben in sich aufnehmen konnten, so kann man
historisch zurückfragen: wie konnten die gebildetsten und intellektuell
höchststehenden Männer Deutschlands an den mythischen "Willen"
Schopenhauers, an die Verkündigungen des Nietzscheschen Zarathustra, an
die Geschichtsmythen vom Untergang des Abendlandes glauben? Und man
komme nicht damit, daß das intellektuelle und künstlerische Niveau von
Schopenhauer und Nietzsche doch unvergleichlich höher stehe als die
grobe und widerspruchsvolle Demagogie von Hitler und Rosenberg. Denn
wenn ein philosophisch und literarisch gebildeter Mensch, der die
Nuancen der Umarbeitung Schopenhauers durch Nietzsche
erkenntnistheoretisch verfolgen kann, der die Nuancen seiner Kritik der
Dekadenz mit ästhetischem und psychologischem Kennertum zu würdigen
versteht, sich dennoch zum Zarathustra Mythos, zum Mythos vom
Übermenschen, zum Mythos der "Wiederkehr des Gleichen"
glaubend verhält, so ist das im Grunde genommen schwerer verständlich,
als wenn ein wenig gebildeter Jungarbeiter , der nie oder nur
vorübergehend in einer Parteiorganisation war, der nach Beendigung
seiner Lehrlingszeit auf die Straße geworfen wurde, in seiner Verzweiflung daran glaubt, daß Hitler den "deutschen Sozialismus" verwirklichen werde.
Auch hier gilt, was seinerzeit Marx über die "zynischen"
Lehren der klassischen Ökonomie gesagt hat: daß die Lehren nicht aus
den Büchern in die Wirklichkeit, sondern aus der Wirklichkeit in die
Bücher gekommen sind. Die Tatsache, ob in einer bestimmten Zeit in
bestimmten Gesellschaftsschichten die Atmosphäre einer gesunden und
nüchternen Kritik oder die des Aberglaubens, des Wundererwartens, der
irrationalistischen Leichtgläubigkeit herrscht, ist keine Frage des
intellektuellen Niveaus, sondern des sozialen Zustandes.
Selbstverständlich spielen dabei die vorangegangenen und wirksam
gewordenen Ideologien eine nicht unwichtige Rolle, indem sie die
Tendenzen zur Kritik oder die zur Leichtgläubigkeit bestärken oder
abschwächen. Aber man vergesse nicht, daß die Wirksamkeit oder
Unwirksamkeit einer gedanklichen Tendenz ebenfalls aus der Wirklichkeit
in die Bücher und nicht aus den Büchern in die Wirklichkeit gelangt.
Die Geschichte lehrt uns, daß Epochen der
besonders gesteigerten Leichtgläubigkeit, des Aberglaubens, des
Wundererwartens keineswegs immer die einer besonders niedrigstehenden
Zivilisation sein müssen. Ganz im Gegenteil. Wir sehen eine solche
Tendenz im ausgehenden Altertum auf dem Höhepunkt der griechisch
römischen Zivilisation, zur Zeit der größten Ausbreitung der
alexandrinischen Gelehrsamkeit. Und wir sehen, daß in dieser Periode
keineswegs bloß die ungebildeten Sklaven oder kleinen Handwerker, die
Träger der Ausbreitung des Christentums, am empfänglichsten für den
Wunderglauben waren, sondern daß bei hochbegabten und hochgebildeten
Gelehrten und Künstlern dieses Zeitalters, bei Plutarch oder Apulejus,
bei Plotin oder Porphyrios, Leichtgläubigkeit und Aberglauben ebenso
vorhanden waren; freilich mit einem ganz anderen Inhalt, literarisch
höherstehend, intellektuell raffinierter, gebildeter. Und - um nur noch
ein bezeichnendes Beispiel anzuführen - der Höhepunkt des
Hexenwahnsinns ist keineswegs die finsterste Zeit des Mittelalters,
sondern der große krisenhafte Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, das
Zeitalter Galileis und Keplers. Auch hier kann man feststellen, daß
viele der bedeutendsten Geister der Epoche von verschiedenen Formen des
Aberglaubens nicht frei waren; man denke nur an Francis Bacon, an Jacob
Böhme, an Paracelsus usw.
Das Gemeinsame solcher Zeitalter des
sozialen Wahnsinns, des ins Extreme gesteigerten Aberglaubens und
Wunderglaubens liegt darin, daß es immer Zeitalter des Untergangs einer
alten Gesellschaftsordnung, einer seit Jahrhunderten eingewurzelten
Kultur und zugleich Epochen der Geburtswehen des Neuen sind. Diese
allgemeine Unsicherheit des kapitalistischen Lebens erhielt in den
deutschen Krisenjahren eine Steigerung, die einen Umschlag ins
qualitativ Neue und Besondere bedeutete, der dieser
Empfänglichkeit eine bis dahin nie vorhandene Massenausbreitung
verlieh, und diese Empfänglichkeit wurde vom Faschismus in der
rücksichtslosesten Weise ausgebeutet.
Welche gedanklichen Formen diese
demagogische Ausbeutung der verzweifelten Lage breitester Schichten des
deutschen Volkes konkret annimmt, wird später geschildert und
zergliedert werden. Erst dort - in der konkreten Analyse - kann
wirklich sinnfällig werden, wie die faschistische Demagogie und
Tyrannei nur die äußerste Aufgipfelung eines langen, anfangs als "unschuldig" (fachphilosophisch oder höchstens weltanschaulich) erscheinenden Prozesses war: der Zerstörung der Vernunft.
Dieser Prozeß, dessen Anfänge im feudal restauratorischen,
reaktionär-romantischen Kampf gegen die Französische Revolution zu
suchen sind, und dessen Aufgipfelung, wie wir gesehen haben, in der
imperialistischen Periode des Kapitalismus erfolgt, ist keineswegs bloß
auf Deutschland beschränkt. Sowohl seine Ursprünge, wie seine
Hitlersche Erscheinungsform, wie sein Weiterleben in unserer Gegenwart
haben ökonomisch-sozial internationale Wurzeln, und die
irrationalistische Philosophie tritt deshalb ebenfalls international
auf. Wir haben jedoch in der Einleitung sehen können, daß sie nirgends
jene teuflische Wirksamkeit erreichen konnte, wie eben im Deutschland
Hitlers, daß sie mit sehr seltenen Ausnahmen nirgends jene Hegemonie
erlangte, wie schon vorher in Deutschland, und zwar nicht nur im
deutschen, sondern auch im internationalen Maßstabe. Darum war es
notwendig, in diesem Kapitel jene gesellschaftlich geschichtlichen
Tendenzen kurz aufzuzeigen und zu analysieren, die aus Deutschland eine
solche Heimat, ein solches Zentrum der Vernunftfeindlichkeit gemacht
haben.
Darum muß sich die folgende Darstellung der
philosophisch geschichtlichen Bestrebungen - mit wenigen Ausnahmen, wie
Kierkegaard oder Gobineau - auf die deutsche Entwicklung beschränken.
Sie und nur sie hat bis jetzt zu einem Hitlerismus geführt. Und darum,
glauben wir, ist unsere, Beschränkung auf die Darlegung der Geschichte
des Irrationalismus in Deutschland keine Abschwächung des
Internationalismus, sondern seine Steigerung. Sie ist ein "Discite moniti", ein "Lernet, die ihr gewarnt seid!" an die denkenden Menschen aller Völker. Eine Warnung, daß es keine "unschuldige",
keine bloß akademische Philosophie gibt, daß immer und überall objektiv
die Gefahr vorhanden ist, daß irgendein Weltbrandstifter aus dem
philosophischen Gehalt "unschuldiger" Salongespräche,
Kaffeehausunterhaltungen, Kathedervorträgen, Feuilletons, Essays usw.
wieder ein verzehrendes Feuer á la Hitler entfacht. Mit den
veränderten Umständen der heutigen Weltlage, mit ihren
weltanschaulichen Folgen befassen wir uns im Nachwort. Sie zeigen
tiefgreifende Unterschiede zwischen der ideologischen Vorbereitung des
zweiten und der des dritten imperialistischen
Weltkrieges. Es scheint, aus Gründen, die an ihrer Stelle
auseinandergesetzt werden, daß der Irrationalismus schlechthin heute
nicht jene führende Rolle spielt wie zur Zeit der Organisation des
zweiten Weltbrandes. Wir werden aber zeigen, daß der Irrationalismus
noch immer eine sozusagen weltanschauliche Atmosphäre der neuen
Kriegspropaganda bildet; wenigstens in ihr eine nicht unwichtige Rolle
spielt. Die hier beabsichtigte Warnung zum Lernen aus der Vergangenheit
hat also durch die gegenwärtigen, vielfach veränderten Umstände ihre
Aktualität keineswegs verloren. Um so weniger, als eine ganze Reihe der
Momente, die im "klassischen"
Irrationalismus in der Hitlerzeit ausschlaggebend waren (Agnostizismus,
Relativismus, Nihilismus, Hang zur Mythenbildung, Kritiklosigkeit,
Leichtgläubigkeit, Wundererwarten, Rassenvorurteile und Rassenhaß usw.
usw.), auch in der weltanschaulichen Propaganda des "kalten Krieges" eine unverminderte, zuweilen sogar gesteigerte Rolle spielen.
Um die Höherentwicklung oder Zerstörung der Vernunft geht deshalb auch
heute - weltanschaulich - die Hauptauseinandersetzung zwischen
Fortschritt und Reaktion, wenn die Kämpfe sich auch mit anderen
unmittelbaren Inhalten und Methoden abspielen als zur Zeit des
Hitlerismus. Darum glauben wir, daß die Bedeutung einer Geschichte der
Grundprobleme des Irrationalismus auch heute weit über das bloß
Historische hinausweist.
Aus der Lektion, die Hitler der Welt gab,
sollte jeder Einzelmensch wie jedes Volk versuchen, etwas für sein
eigenes Heil zu lernen. Und diese Verantwortung besteht besonders
zugespitzt für die Philosophen, die verpflichtet wären, über Existenz
und Entwicklung der Vernunft nach Maßgabe ihres realen Anteils an der
gesellschaftlichen Entwicklung zu wachen. (Damit soll ihre reale
Bedeutung in der gesellschaftlichen Entwicklung nicht überschätzt
werden.) Sie haben diese ihre Pflicht innerhalb und außerhalb
Deutschlands versäumt, und wenn sich auch bis jetzt die Worte von
Mephistopheles über den verzweifelten Faust:
"Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Der Menschen allerhöchste Kraft,
So hab ich dich schon unbedingt"
nicht überall verwirklicht haben, so
bedeutet dies wenn keine Wendung erfolgt für kein anderes Land der
imperialistischen Ökonomie, für keine andere bürgerliche Gedankenkultur
im Zeichen des Irrationalismus die geringste Garantie dagegen, daß sie
morgen nicht von einem faschistischen Teufel geholt werden, gegen den
selbst Hitler vielleicht nur ein stümperhafter Anfänger gewesen ist.
Die Beschränkung der Analyse auf die deutsche Entwicklung, auf die
deutsche Philosophie will also gerade dieses "Discite moniti" unterstreichen.
Editorische
Anmerkungen
Der Text ist
das
1. Kapitel aus: Georg Lukács
Die Zerstörung
der Vernunft,
3. Auflage, Berlin 1984, S. 31 - 74
Nachdruck der 2. Auflage 1955, Original: Ference Janossy 1955