Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer
10/07

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IX. DAS IMPERIALISTISCHE ZEITALTER (1880—1914)   Zur Kapitelübersicht

Auf die Kriegsperiode 1854—1879, in der das deutsche und das italienische Volk sowie die Vereinigten Staaten von Amerika die Grundlagen ihrer nationalen Einheit in der Hauptsache schufen, und in der die süd- und westslawischen Völkerschaften in den nationalen Befreiungskampf eintraten, folgte ein industriell-imperialistisches Zeitalter, das, je länger je mehr, alle Völker und Reiche des Erdballs in seinen Bann zog. Afrika wurde durchforscht, aufgeteilt und mit Schienensträngen und Telegraphendrähten umspannt; ganz Asien wurde aus seinen mittelalterlichen, mystischen Träumen und Verzückungen durch die schrille Stimme der Lokomotive und Dampfmaschine geweckt; Eisenbahnen durchschnitten die Prärien Nordamerikas, führten Völkerwanderungen nach seinem jungfräulichen Westen, erleichterten die Erschließung seines landwirtschaftlichen Bodens, seiner Kohlen-, Metall- und Petroleumgruben. Die Menschheit schien nur die Aufgabe zu haben, Reichtum zu schaffen, materielle Güter aufzuhäufen. Ein Blick auf die ziffernmäßige Entwicklung der Kohlen- und Eisenproduktion, der wichtigsten Grundstoffe der modernen Industrie, zeigt dies zur Genüge.



1) Amerika = Vereinigte Staaten von Amerika

Die revolutionäre Rolle des Dampfes und der Mechanik übernahmen nach und nach die Elektrizität und die Chemie. Die wirtschaftlich überragende Rolle Englands, die bis ungefähr 1880 fast unbestritten war, fiel nach und nach Deutschland und Nordamerika zu.

Inzwischen machten sich die dem kapitalistischen Wirtschaftsleben innewohnenden Gesetze in den industriellen Ländern in drastischer Weise bemerkbar:

1. Die rasch wachsende Produktivität der Arbeit in Verbindung mit der regellosen, unübersichtlichen Art der Güterherstellung und der Proletarisierung der Massen erzeugten ein starkes Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage, das von Zeit zu Zeit zu Absatzkrisen führte. Geschäftsstockung, Arbeitslosigkeit, Güterentwertung zeigten jedermann, daß die glänzenden Triumphe des Kapitalismus ihre starken Schattenseiten haben. Hieraus entstand, wie oben (S. 562 ff.) bemerkt, der Drang nach Ausdehnung der Absatzmärkte.

2. Die überhandnehmende Anwendung mechanischer Kräfte und maschineller Technik verringerte die Menge von lebendiger Arbeit, also die Menge von Wert in jedem Warenartikel; diese Tatsache kam im Sinken der Preise der einzelnen Industrieartikel zum Ausdruck. Aber je rascher der Produktionsmittelumfang anschwoll, mußte eine steigende Menge Kapital in Produktionsmitteln angelegt werden, und der allein von der Arbeitskraft des Lohnarbeiters geschaffene Mehrwert verrechnet sich daher auf ein immer größeres Gesamtkapital. Hieraus entstand die Tendenz der sinkenden Profitrate, die den Unternehmern ein großes Rätsel aufgab. Die Lösung dieses Rätsels wurde in der Verstärkung der Ausbeutung und in monopolistischen Preiserhöhungen gesucht, um so die Summe des Profits zu erhöhen.

Diesen Übergang konnten sich nur kapitalkräftige Unternehmer leisten. Diejenigen Unternehmer, die nicht mitkonnten, gingen unter oder sie vereinigten sich zu Aktiengesellschaften. Die Massenproduktion heischte enorme Mengen von Rohstoffen, die, soweit Europa und Japan in Betracht kommen, nur in überseeischen Ländern, in den Subtropen und Tropen zu haben sind. Hieraus entsprang der Drang nach überseeischen Besitzungen: Kolonialpolitik, Flottenbauten, militärische Rüstungen, Ausdehnung der nationalen Macht auf fremde Gebiete, diplomatische Spannungen und Kriege.

3. Die Erweiteiung der Stufenleiter der Produktion, die Ursache und Folge des Sinkens der Profitrate ist, führt zum Siege des monopolistischen Großbetriebs und zur Aufhäufung von enormen Profitmassen in wenigen Händen. Die Kapitalien, die in ihren Ursprungsländern keine Verwendung oder keine profitable Verwendung finden können, werden in nichtkapitalistischen oder minder kapitalistischen Gebieten angelegt, wo die Profitrate noch hoch und die Arbeiterbewegung noch schwach ist. Um die dort angelegten Kapitalien schützen zu können, dehnen die kapitalistischen Staaten ihre Herrschaft auf die nichtkapitalistischen oder minder kapitalistischen Staaten aus, teils durch direkte Eroberung, teils durch Erklärung dieser Gebiete zu Einflußsphären, teils durch „friedliche Durchdringung". Diese Ausdehnung heischt ebenfalls Flottenbauten, militärische Rüstungen, um die angelegten Kapitalien und die neuen wirtschaftlichen Interessen schützen und sich gegen Rivalen wehren zu können. Diese Vorgänge sind die Hauptursachen der modernen imperialistischen Politik und der Weltkriege.

Der Imperialismus ist der letzte Versuch der kapitalistischen Klasse und der mit ihr ideell verbundenen nationalistischen und militaristischen Schichten, die gegenwärtige Ordnung aufrechtzuerhalten.

2. Ausbreitung des Sozialismus.

Die soeben gezeichnete Revolutionierung der Wirtschaft und Politik ist auch die Hauptursache des  Fortschreitens der sozialistischen Bewegung. In den Jahren 1880—1914 nahm sie eine ungeahnte Ausdehnung. Es gab fast kein einigermaßen zivilisiertes Land, in dem sie nicht ihre Vertreter oder Organisationen hatte. Ihre Anhänger zählten nach Millionen, und überall waren es marxistische Grundsätze, die ihren theoretischen Kern bildeten.

Ebenso wie Deutschland in Technik und Industrie, in der Anwendung wissenschaftlicher Grundsätze und Methoden auf die Wirtschaft die leitende Rolle in der alten Welt hatte, so fiel in sozialistischer Theorie und Praxis dem deutschen sozialistischen Proletariat die leitende Rolle zu. Von Deutschland aus wurde die französische Arbeiterbewegung belebt; die sozialistischen Erfolge in Deutschland spornten die damals noch geringe Zahl von englischen Sozialisten an, eine sozialdemokratische Organisation in London zu gründen; die slawischen Länder begannen die deutsche Sozialdemokratie als Muster zu betrachten. Und auf internationalen sozialistischen und Arbeiterkongressen wurde die deutsche Delegation besonders beachtet. Kurz, in den vier Jahrzehnten 1875 bis 1914 stand die deutsche Sozialdemokratie an der Spitze der modernen Arbeiterbewegung der Welt. Ihre Führer: August Bebel und Wilhelm Liebknecht genossen einen internationalen Ruf.

Der Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie während des größten Teils dieses Zeitabschnitts war Karl Kautsky (geb. in Prag 1854). Bis zu seinem Auftreten als Marxist, d.h. bis 1882 und noch einige Jahre darüber hinaus, war von Marxismus in Deutschland wenig zu spüren. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete der Lohgerber Josef Dietzgen, der sich durch Selbstbüdung ein bedeutendes ökonomisches und philosophisches Wissen erwarb und Marx-sche Lehren verbreitete. Im allgemeinen aber schöpfte die Bewegung ihre Lehren, Gedanken und Empfindungen aus Lassalles Schriften, aus den Erinnerungen von 1848, aus der französischen Literatur; manche Sozialisten gingen bei Rodbertus oder Eugen Düh-ring in die Schule, andere kannten höchstens die Veröffentlichungen der I.A.A., oder sie begründeten ihre Forderungen durch Berufung auf Ethik und

Humanität. Erst nach und nach drang Kautsky mit seiner Verbreitung Marxscher Gedanken durch. Er gründete 1883 die „Neue Zeit", das erste Organ zur Verbreitung des Marxismus. Von 1884 bis 1887 lebte er in London als Mitarbeiter von Friedrich Engels. 1887—1907 waren seine besten und fruchtbarsten Jahre; in diesen zwei Jahrzehnten erschienen von ihm: Thomas Morus, Marx' ökonomische Lehren, das Erfurter Programm und zahlreiche andere Schriften und Artikel, die die deutsche und die internationale sozialistische Bewegung stark beeinflußten. Seit etwa 1910 nahm Kautsky — wie auch Bebel — immer mehr eine zentristische Stellung ein: gegen rechts und gegen links, um bald nach dem Kriege zum Revisionismus zu gelangen: Er wurde Bernsteinianer und Wortführer der Koalitionspolitiker und Antibolschewisten.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S.577-581

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html