Im Zielona Gora im Friedrichshain
diskutierten gestern am Roten Abend der Internationalen
KommunistInnen beinahe 70 Interessierte mit Nadja Rakowitz
darüber, was sie von der leidigen Debatte in der
staatlichen Gesundheitspolitik halten.
Diese Gesundheitsreform ist ungesund, da waren
sich alle einig.
Profitabler Systemfehler
Wichtiger ist es, dass das Gesundheitswesen
einen grundlegenden strukturellen Konstruktionsfehler hat. Es
gibt nämlichen einen ambulanten und einen stationären Sektor.
1955 feierte es die kassenärztliche Vereinigung die Trennung der
niedergelassenen Ärzte und der krankenhäuser als Sieg. Hierin
liegt aber begründet, dass sich jeder Facharzt wie ein
Unternehmer verhalten muss, um an Diagnosen und Therapien zu
verdienen. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist als
Kalkül in der Struktur eingebaut, weil Ärzte daran verdienen
müssen. So kommt es zu paradoxen Erscheinungen: Einerseits gibt
es eine Überversorgung, weil sich von den Niedergelassenen
gekaufte medizinische Geräte amortisieren müssen und viele
PatientInnen zu einer Tatsache z. B. mehrmals geröntgt werden.
So existieren in Berlin soviel Computertomografiegeräte wie in
ganz Italien. Die Pharmaindustrie bringt Scheininnovationen ohne
Ende hervor, die letztendlich die Leute bezahlen.
Andererseits kann sich eine Ausrichtung des
Gesundheitssystems auf die präventive Abwendung von Krankheiten
gar nicht ausrichten. Denn
Medizingeräteindustrie und Pharmaindustrie wirken auf die
Heilung unserer Krankheiten hin und
verdienen sich damit eine goldene Nase.
Kostenlüge
In den Medien wird seit 30 Jahren behauptet,
dass es eine Kostenexplosion im Gesundheitssystem gäbe, meint
Nadja Rakowitz. Tatsache aber ist, dass die Kosten seit Jahren
10 % des Bruttoinlandsproduktes ausmachen. Private Haushalte,
Arbeitgeber und öffentliche Haushalte finanzieren die gesamten
Gesundheitsausgaben. Private Haushalte haben 2004 im
Vergleich zu 1995 36 Milliarden mehr
aufgebracht, während der Anteil der Arbeitgeber bis 2004 von 40
auf 36 Prozent zurückging und der Anteil der öffentlichen
Haushalte von 18 auf 16,9 Prozent sank.
Krach machen die Arbeitgeber, weil nach ihrer
Lesart, die so genannten
"Lohnnebenkosten " - also auch die Beiträge zur Krankenkasse
gemessen an der Lohnsumme stiegen. Jedoch macht die
Krankenversicherung einen Bruchteil an den Lohnkosten aus. Im
Verhältnis zu Einnahmen und Ausgaben der privaten Haushalte sind
die Krankenkassenbeiträge gestiegen.Zwar sind die Ausgaben
relativ gleichblieben, aber die Einnahmen der privaten Haushalte
sanken, da die Reallöhne seit Beginn der 90er Jahre gesunken
sind.
"Solidarischer" Wettbewerb?
Die Politik versucht nun eine Lösung zu finden,
die die Interessen von Industrie,
Ärzten und Medizintechnik sowie den PatientInnen gleichermaßen
effizient bedient. H. Seehofer hat Mitte der 1990er Jahre
den Wettbewerb unter den Krankenkassen
eingeführt. Seither verhalten die sich wie
Unternehmen entsprechend den Liberalisierungsstrategien
der Europäischen Kommission. Allerdings
haben ja Krankenkassen vorrangig einen
sozialen Auftrag. Dem Wettbewerb
entgegenlaufend führte Rot-Grün einen Risikostrukturausgleich
ein zugunsten derjenigen Kassen, die z.B. besonders viele Ältere
oder sehr kranke Menschen versorgen. Trotzdem schrumpfte seit
der so genannten Jahrhundertreform im Gesundheitswesen unter
Rot-Grün (Stichworte: Praxisgebühr, Zuzahlungen, Einengung des
Leistungskatalogs, keine Brillenzahlung usw.) die Anzahl der
Krankenlassen von 1100 auf 250. Bei der
ersten "Gesundheitsfonds-Lösung der schwarz-roten
Koalition sollten die Krankenkassen von ihrer Aufgabe getrennt
werden, die Beiträge festzulegen. Das wollte künftig der Staat
übernehmen und den Kassen jeweils einen pauschalen
Beitrag für jeden Versicherten zuweisen. Kassen mit vielen Armen
oder Alten würden dann entweder dem Konkurs entgegengehen oder
Zusatzbeiträge erheben müssen. In den Gesundheitsfonds sollten
zu 70 % die Arbeitnehmer und zu 6 % die Arbeitgeber einzahlen.
Der Staat sollte Zuschüsse über Steuermittel leisten. Die
Arbeitnehmer, die überwiegend den Staat aus der Einkommenssteuer
finanzieren, dürften an dieser Stelle doppelt zahlen. Wenn sich
aber die Arbeitgeber eh aus der paritätischen Beitragsaufbringung
derartig zurückziehen wollen, liegt die Überlegung nahe, ob die
Krankenkasse nicht gleich ausschließlich von Arbeitnehmern
finanziert werden und sich dann die Arbeiter eigne Krankenhäuser
und Ambulatorien leisten und die Ärzte selbst einstellen. Diesen
Gedanken hatten damals eigentlich die Hilfskassen der Arbeiter
bei der Arbeiterselbsthilfe eigentlich verfolgt.
Tauziehn um die Belastung der Beitragszahler
Während nach der Intervention zur
septemberlichen Gesundheitsfondslösung durch Edmund Stoiber
nunmehr der Stuhl der Bundeskanzlerin Angela Merkel gewaltig
wackelt, denn die Reform sollte auf das nächste Jahr verschoben
werden. Der Kampf von SPD und CDU/CSU ging indess eine neue
Runde. Um Schadensbegrenzung bemüht, sollten gestern abend noch
die Eckpunkte für die Gesundheitsreform beschlossen werden.
Während die CDU 30 % der Krankheiten bei armen Kassen
berücksichtigen wollte, waren es bei der SPD 80 Prozent. Als
Konsens sollten 50 % berücksichtigt werden. Die Belastung der
privaten Haushalte für die Gesundheitsausgaben soll statt der
Krankenkassen künftig der Gesetzgeber festlegen, und der
Extremsanierer von 1998 -2003 namens SPD steht nun plötzlich als
der Gute da. Private Krankenkassen sollten alle zu einem
Basistarif aufnehmen. Sie müssten dann aktiv konkurrieren. Das
Schuldprinzip wird in die gesetzliche Krankenversicherung
eingeführt, denn Entzündungen nach Tätovierungen und Piercings
oder RisikosportaRaucher seine Krebs-Op selbst zahlen. Sämtliche
Zuzahlungsreglungen für Chroniker sollen fallen, wenn sie ihrer
Therapie nicht nachkommen. Dies alles war
von vielen Seiten umstritten.
Bürgerversicherungskonzepte, die
verlangten, dass alle in die gesetzliche
Krankenversicherung einzahlen, fanden in
den schwarz-roten Verhandlungen keine Erwähnung. Die
Kopfpauschale, bei der jeder die gleiche Pauschale zahlt, findet
sich im Gesundheitsfonds an anderer Stelle. Allerdings sind
damit Schwerkranke massiv benachteiligt, denn 10 % sind
schwerkrank und verursachen 80 % der Kosten.
Zwei-Klassen-Medizin gibt es
jetzt schon
Das die Gesundheitsversorgung ein Phänomen einer
Klassengesellschaft ist, dass kan man heute schon sagen. Das
wurde spätestens mit dem Arbeitslosengeld II deutlich. Bereits
davor hatten SozialhilfebezieherInnen einen erheblich
erschwerten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Mit
Arbeitslosengeld II und Sozialgeld sind zwar nunmehr alle
LeistungsbezieherInnen krankenversichert.
Aber von den schmalen Regelleistungen können sie
sich Medikamente und nötige Hilfen, die nicht im
Leistungskatalog der Kassen stehen, nicht kaufen. Alle Kosten
oberhalb von 2 Prozent des Haushaltseinkommens bei Armen und von
mehr als einem Prozent bei Chronikern übernehmen zwar die
Kassen. Aber die Vorschüsse dazu müssen vor einer jährlichen
Abrechnung bei der Krankenkasse die betroffenen selbst leisten.
Die Belastungsgrenzen des Einkommens sind schon vor der
Bezuschussung aufgrund niedriger Einkommen total überschritten
und die Alg II-BezieherInnen und NiedrigverdienerInnen zaudern
schon, ob sie 10 Euro Praxisgebühr aufbringen. Denn das
übersteigt ihre Leistungsfähigkeit, denn auch der Zahnarzt will
jedes Quartal 10 Euro Praxisgebühren. Auf diese Weise lassen
viele Einkommensarme ihre Krankheiten nicht mehr diagnostizieren
oder behandeln, sondern warten ab, trinken Tee und werden immer
kränker.
Offensichtlich braucht die BRD nicht soviele
Gesunde. Und ganz deutlich geht beim Zuschnitt der
Gesundheitsfondslösung die Entwicklung in Richtung USA. Dort
haben 45 Prozent der BürgerInnen keine Krankenversicherung und
können nur zur Notfallambulanz. In ähnlicher Weise soll sich
auch die FDP eine derartige gesundheitliche Grundversorgung mit
Notfallhilfe plus Kinderimpfung in ihrem
Bürgerversicherungsansatz vorgestellt haben. Und da helfen dann
auch Doktor Raths Vitaminkampagnen gar nicht mehr, sondern die
Armen müssen eben früher sterben.
Verwirrung bei Protesten
Nun ist es gar nicht so, dass gegen die Politik
nicht protesiert würde. Dennoch ist schwer zu erkennen, wo sich
eigentlich linke
Gesundheitssystemkritiker überhaupt bei den Protesten einordenen
sollen. Wahrscheinlich gar nicht. Denn
die Ärzte protestieren u.a. für gleiche Vorauszahlungen
aller Menschen vor dem Arztbesuch. Der Marburger Bund spaltet
sie Belegschaften in ihren gleichen
Interessen. Ärzte versuchen sich als Berufsstand zu retten mit
Mitteln der Lohnarbeiter, die sie schon fast sind.
Ihr Protesteinstieg - lange Arbeitszeiten und
schlechte Arbeit wegen Übermüdung
ließen sie sich gegen Überstundenbezahlung abkaufen. An den
Arbeitsbedingungen hat sich nichts geändert. Ver.di
betont, dass im Tarifvertrag das Höchste
erreicht wurde, was möglich und vernünftig ist.
Dieser Spruch passt zu jedem Tarifabschluss. Gleichsam
gings letztlich bei ver.di nur um Prozente, während die
Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, Schichtsystem usw.) nicht Thema
waren. Viele Selbsthilfegruppen sind längst Objekte der Pharma
industrie und finden sich mitunter in einer so genannten
WIN-WIN-Situation wieder.
Gesünder leben statt schneller sterben
Sichtbare Proteste verkürzen die Kritik am
bundesdeutschen Gesundheitssystem aufs Geld und spielen so der
systemeigenen Ideologie in die Hand das Gesundsein nur dazu
dient, die Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Aber es geht um mehr.
Nämlich ein lebenswertes Leben und menschliche
Arbeitsbedingungen.
Deshalb ist zu überlegen, ob Erwerbslose nicht
diejenigen in Haftung nehmen sollten, die sie entlassen haben -
meint ein Teilnehmer. Sämtliche biologischen
Erscheinungen werden verwertbar gemacht. Die Zappligkeit der
Kinder als soziales Probelem wird mit ADS in ein
gesundheitliches Problem verkehrt - weiss
ein anderer. Alle Abweichungen von einer imaginären Norm der
Verwertbarkeit der Arbeitskraft werden zu Funktionsstörungen
oder Vermittlungshemmnissen. Jede/r wird sein eignes Risiko,
denn der Lohnertrag sinkt, während der Kapitalertrag steigt.
Soziales, geistiges und körperliches
Wohlbefinden schreibt die Weltgesundheitsorganisation auf ihre
Fahne. Aber dazu ist mehr Lohn allein
eben nicht ausreichend und der Kampf der Betroffenen
ausschließlich in den Gewerkschaften
offensichtlich auch nicht. Um Gesundheit für alle zu
realisieren und die Balance zu einer individuell
ausgewogenen Gesundheitsprävention und -versorgung zu finden,
sind wir alle bei den Protesten
gefragt mit Vorstellungen zu einem guten Leben. Und dazu gehören
eben neben einem bedingungslosen Grundeinkommen, einem
Mindestlohn und einer grundsätzlichen Arbeitszeitverkürzung bei
vollem Lohn- und Personalausgleich eben auch eine kostenlose
soziale Infrastruktur und erschwingliche öffentliche
Dienstleistungen für alle die hier leben. Dazu muss dann
freilich eine ganz andere Gruppe steuerlich belasten. Eben nicht
die Konsumenten mit der Mehrwertsteuer, sondern die
Kapitaleigener mit höheren Unternehmens- und Gewinnsteuern.