Weg frei für die Privatisierung des Energieversorgers Gas de
France (GDF). Regierungsversprechen von 2004 gebrochen. Und die
nächste «Rentenreform» kommt bestimmt...
Ein wichtiges Hindernis für die konservativ-liberale Regierung
in Paris ist aus dem Weg geräumt: Die parlamentarische
Opposition hat vor 14 Tagen voriger Woche ihre
« Blockadehaltung » aufgegeben. Damit ist der Weg dafür frei,
die Debatte über die Privatisierung des französischen
Energieversorgungsunternehmens GDF (Gaz de France) zum Abschluss
zu bringen. An diesem Dienstag, den 3. Oktober, folgt am
Nachmittag ein « feierliches Votum » der französischen
Nationalversammlung über die GDF-Privatisierung. Parallel dazu
finden Protestdemonstrationen der Beschäftigten statt, u.a. in
Paris ab 11.30 Uhr am späten Vormittag.
Der «Kompromiss» zwischen konservativem Regierungsblock und
Parlamentsopposition ergibt sich aus einem Abkommen, das
Parlamentspräsident Jean-Louis Debré (UMP) mit den
Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokratie und der KP, Jean-Marc
Ayrault und Alain Bocquet, abschloss. Eine Minderheit innerhalb
der sozialistischen Parlamentsfraktion widersprach dem
allerdings noch, und lieferte hinhaltende parlamentarische
Rückzugsgefechte.
Bis dahin hatten die Abgeordneten der beiden Linksparteien eine
so genannte «parlamentarische Guerilla» (doch doch, soll’s
geben) vollführt. Diese bestand darin, systematisch Tausende von
Gegenanträgen zu jedem einzelnen Punkt des Gesetzentwurfs über
GDF zu produzieren und dadurch den Beratungsprozess
hinauszuzögern. Insgesamt waren rund 137.500 Gegenanträge
präsentiert worden. Die KP-Fraktion hatte beispielsweise allein
anderthalbtausend Gegenanträge zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
dieses Gesetzentwurfs gestellt: Im ersten stand, dass das Gesetz
einen Monat später in Kraft treten solle, dem zweiten zufolge
sollte es zwei Monate später in Kraft treten, dem dritten
zufolge... usw. Als die Parlamentsdebatte vor nunmehr drei
WOchen anfing, ergab sich somit für die Medien und die
Beobachter das beindruckende Bild, dass eine Wand von weiben
Zettel auf dem Tisch des Parlamentspräsidenten Jean-Louis Debré
aufgebaut worden war: Es handelte sich um den Berg von Anträgen
der Opposition, auf zwanzig Stapel verteilt. Debré hatte den
Fotographen freilich absichtlich diese Vision präsentiert, um
nämlich der Öffentlichkeit vorzuführen, wie « verantwortunglos »
die Parlamentsopposition sei.
Nun haben beide Seiten ihre Spezialeffekte eingestrichen: Die
Einen haben ihre «strikte Oppositionshaltung» unter Beweis
gestellt, die Anderen die «Verantwortungslosigkeit» ihrer
Opponenten demonstriert. Danach hat sich die parlamentarische
Taktik dann allerdings rasch erschöpft. Zum Einen mussten die
Oppositionsabgeordneten ihre Anträge oftmals vor leeren Rängen
vortragen und (mit sich selbst) «diskutieren», was auf die Dauer
auch langweilig wird. Zum Anderen aber blieb die Mobilisierung
auf der Strabe
gegen die Privatisierung von Gaz de France hinter den
Möglichkeiten und hinter manchen Erwartungen zurück. Zwar tritt
eine Mehrheit der insgesamt circa 53.000 GDF-Beschäftigten
(hinzu kommen 116.500 beim gröberen
Energieversorger Electricité de France, EDF) gegen die
Privatisierung ein. Bei einem Referendum über die geplante
Privatisierung unter den abhängig Beschäftigten bei GDF, die
durch die beiden Gewerkschaften CGT und FO kurz vor Eröffnung
der Parlamentsdebatte durchgeführt worden war, hatten 60 %
teilgenommen und 94 % der Abstimmenden mit NEIN votiert. Aber am
Aktionstag vom 12. September nahmen laut Angaben der
GDF-Direktion circa 24 % des Personals durch
Arbeitsniederlegungen teil. Gleichzeitig hielten sich die
Demonstrationen der Beschäftigten in Grenzen, mit 2.600 (nach
Polizeiangaben) bis 7.000 (laut Veranstaltern) TeilnehmerInnen
in Paris und je einigen Hundert in anderen französischen
Städten. Um die geplante Privatisierung zu verhindern, konnte
dies nicht genügen.
Im
Hintergrund: Dominique de Villepins «Wirtschaftspatriotismus»
Im Hintergrund des Privatisierungsvorhabens steht die Absicht
der französischen Regierung, eine ausländische «feindliche
Übernahme» bei einem anderen Konzern des Landes zu verhindern,
dem französisch-belgischen Energie-, Umwelt- und Wasserkonzern
Suez.
Anfang dieses Jahres war bekannt geworden, dass das italienische
Energieversorgungsunternehmen ENEL ein Übernahmeangebot für Suez
unterbreiten wolle. Dies gab Anlass zu der Befürchtung, dass der
Mischkonzern in seine Einzelbestandsteile zerlegt werden könnte.
Dem aber wollte die Regierung in Paris einen Riegel vorschieben.
Stattdessen regte das französische Kabinett, als
Alternativprojekt für Suez – dessen Eigenkapital ihm nicht
genügend Widerstandskräfte gegen ein Übernahmeangebot verleiht
-, einen Zusammenschluss mit dem französischen
Gasversorgungsunternehmen GDF (Gaz de France) mit 53.000
Beschäftigten an.
Einer der Haken dabei ist, dass die französische Regierung dabei
ein Versprechen brechen muss, das sie noch im Jahre 2004 hoch
und heilig abgab: Den öffentlichen Energieversorger GDF nicht
vollständig zu privatisieren. Damals war der Anteil der
öffentlichen Hand von zuvor 100 % auf noch 70 Prozent reduziert
worden. Der damalige Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy – jetzt
Innenminister - gab damals sein ausdrückliches Wort, dass der
Staatsanteil nicht weiter abgebaut werden würde. Anlässlich der
Protestdemonstration vom 3. Oktober, dem Tag des
Parlamentsvotums, wurde die Szene (die sich während eines
Besuchs Sarkozys im Atomkraftwerk von Chinon abspielte) nochmals
auf den Pariser Straben
ausgestrahlt. Aus ähnlichen Gründen hatte
Präsidentschaftskandidat Sarkozy im Laufe des Sommers 2006 auch
noch demonstrativ bekundet, dass er dem jetzigen Beschluss zur
GDF-Privatisierung kritisch gegenüber stünde und dass er nach
Alternativen suche: Der Mann wollte schlicht verhindern, dass
ihm der erfolgte Wortbruch im kommenden Wahlkampf um die Ohren
gehauen würde. Vorige Woche rief Sarkozy allerdings seine
Anhänger im Regierungslager dazu auf, für den
Parlamentsbeschluss zur GDF-Privatisierung zu stimmen; allgemein
wurde erwartete, dass der gröbte
Teil der Abgeordneten seiner Partei für die Annahme des
Beschlusses votieren werde. Mit ihm wird der Anteil der
öffentlichen Hand an dem Energieversorger auf nur noch ein
Drittel gesenkt.
Manche kritischen Stimmen, etwa vom linken Flügel der
Sozialdemokratie, vertreten allerdings die Auffassung, dass der
französische Staat genau diese Situation provozieren wollte, um
die seit längerem geplante Privatisierung doch noch durchsetzen
zu können. Die geplante Fusion von Gaz de France mit Suez habe
dafür nur den geeigneten Vorwand geliefert.
Ein weiterer Haken an der Sache war, dass Italien energisch
protestierte und sich auf die Ungleichbehandlung der
wirtschaftlichen Akteure berief. Tatsächlich hat Electricité de
France (EDF) in den letzten Jahren massiv auf der
Appeninhalbinsel investiert und kontrolliert rund ein Fünftel
des italienischen Energiemarkts. Der damalige Ministerpräsident
Silvio Berlusconi protestierte im Februar energisch. Auch
anlässlich des Antrittsbesuchs, den der neue Regierungschef
Romando Prodi am 13. Juni in Paris absolvierte, wurde die
Angelegenheit thematisiert. Der französische Präsident jacques
Chirac berief sich gegenüber Prodi darauf, die Anteile der
italienischen Auslandsinvestitonen in Frankreich (18 Prozent)
und an französischen Invesititionen in Italien (21 Prozent)
seien ungefähr gleich grob.
Von Diskriminierung möge man deshalb nicht sprechen.
Aus Anlass der Suez-Fusion grub die französische Regierung den
so genannten patriotisme économique wieder aus, den
Premierminister Dominique de Villepin
im Juli 2005 ausgerufen hatte. Damals ging es darum, gegen die
angeblich geplante – aber nie bestätigte - Übernahmeabsicht des
US-Konzerns PepsiCo für den französischen
Nahrungsmittelproduzenten Danone zu mobilisieren.
Rückblick auf einen groben
Fake, der den «Patriotisme économique» gebar
Vor diesem Hintergründ tönte Premierminister de Villepin damals
bei einer Pressekonferenz wortgewaltig, es gehe darum,
«sämtliche Energien rund um einen wahrhaften
Wirtschaftspatriotismus zu sammeln und zu bündeln».
Doch die Nachricht vom Übernahmeangebot, die dem Vorstob
des Regierungschefs zugrunde lag, hatte sich schon zuvor als
Gerücht erwiesen. Sie war sowohl durch Danone selbst als auch
durch PepsiCo gegenüber der Börsenaufsichtsbehörde dementiert
worden. Die Information darüber war ursprünglich, am 07. Juli
2005, durch das Wirtschaftsmagazin Challenges
veröffentlicht worden, ohne Quellenangabe, und mit zahlreichen
«sol» und «angeblich» versehen. Das Gerücht war immerhin stark
genug, dass Präsident Jacques Chirac sich in seiner Rede zum
Nationalfeiertag vom 14. Juli vorigen Jahres im Fernsehen über
die «Risiken, dass ausländische Kapitalinhaber die Kontrolle
über französische Unternehmen übernehmen» besorgt zeigte.
Frankreich hatte seine Heuschreckendebatte, in Anlehnung an die
wahlkampfträchtigen Warnungen des deutschen SPD-Chefs Franz
Müntefering vor ausländischen Finanzinvestoren...
Pikant daran war, unter anderem, aus welcher Quelle die
Information gestreut worden war. Challenges ist eine
Filiale des Presseverlags, in dem das sozialliberale
Wochenmagazin Le Nouvel Observateur (Nouvel Obs)
erscheint. Die damalige Chefredakteurin des Nouvel Obs,
Christine Mital, die auch regelmäbig
in der Wochenzeitschrift Challenges schrieb und dort als
Beraterin der Redaktion fungierte, war aber niemand anders als
die Mit-Konzernerbin von Danone: Sie war die Tochter des
Danone-Gründers Antoine Riboud, der 2002 verstorben ist. Ihr
Bruder Franck Riboud hatte die Nachfolge des Industriekapitäns
an der Konzernspitze angetreten, und Christine Mital hielt eine
stattliche Anzahl von Aktien an dem Unternehmen. Am 26. Januar
dieses Jahres starb sie selbst an einem Herzinfarkt.
Der hauptsächliche Gewinner bei dieser sommerlichen Aufregung
war natürlich die Danone-Spitze um Franck Riboud – und dies
sowohl auf materieller, ökonomischer Ebene als auch auf
ideologisch-symbolischer Ebene. Was das Materielle betrifft, so
war zunächst einmal ein Anstieg des Aktienkurses unmittelbar
nach der Ankündigung des Gerüchts zu verzeichnen. Bei
«feindlichen Übernahmeangeboten» versucht ja ein anderes
Wirtschaftsunternehmen, sich gegen den Willen ihrer eigenen
Unternehmensführung in das Aktienkapital einer Gesellschaft
einzukaufen. Und dafür muss es den Aktionären stattliche Preise
bieten, um sein Angebot verlockend erscheinen zu lassen; der
Aktienpreis wird also in die Höhe getrieben.
Auf ideologischer und symbolischer Ebene zog die Danone-Spitze
ebenfalls ihren Nutzen aus der Affäre. Dabei war gerade Danone –
weit entfernt davon, ein leuchtendes Beispiel humaner und sozial
verträglicher Unternehmenspraktiken abzugeben – wenige Jahre
zuvor aufgrund eigener Unternehmensentscheidungen in der
Öffentlichkeit angeprangert worden. Im Frühjahr 2001 hatte es in
Frankreich eine landesweite Boykottkampagne gegen
Danone-Produkte gegeben, nachdem der Konzern trott steigender
Börsengewinne beschloss, zwei «nicht genügend rentable» Firmen
mit übr 800 Beschäftigten dicht zu machen. Nunmehr schien die
Erinnerung daran wie weg gewischt. Die Pariser Tageszeitung
Libération schrieb dazu am 21. Juli 2005: «(Generaldirektor)
Franck Riboud, der damals als ein Monster durchging, als er die
LU-Fabriken dicht machen lieb,
wird zu einer Art Jeanne d’Arc der Nahrungsmittelindustrie».
Eine romantisierende Sichtweise, die Danone als Repräsentanten
der bedrohten französischen Nationalkultur sah, der als kleiner
David vom nordamerikanischen Goliath besiegt zu werden drohte,
wurde damals sogar von Danone-Chef Franck Riboud selbst
dementiert. Mehrfach wiederholte er sinngemäb
gegenüber der französischen oder internationale Presse, was er
im Wirtschaftsmagazin Challenges erklärte: «Die
Nationalität von Danone, ist Danone. Der französische Markt
vertritt 22 Prozent unseres Umsatzes, dieser Anteil wird
abnehmen. Frankreich ist (für uns) ein Land wie jedes andere.»
Danone beschäftigt heute weltweit 90.000 Mitarbeiter, darunter
nur noch 4.000 in Frankreich. So viel Sinn hat «Patriotismus»
heuzutage auf wirtschaftlicher Ebene.
Die nächste « Rentenreform » kommt bestimmt
Unterdessen hat das Sarkozy-Lager innerhalb des regierenden
bürgerlich-konservativen Blocks schon das nächste Fass
aufgemacht, im Sinne einer zu ergreifenden wirtschaftsliberalen
Reform.
Manche Beobachter munkelten ja zunächst, die Sarkozy-Anhänger
hätten es just zu diesem Zeitpunkt geöffnet, um den amtierenden
Regierungschef de Villepin (der immer noch sein Rivale im
Hinblick auf eine mögliche zweite Präsidentschaftskandidatur auf
der bürgerlichen Rechten ist, zumal die Umfragewerte de
Villepins sich seit dem Spätsommer um rund 10 Prozentpunkte
verbessert haben) bei der GDF-Privatisierung in Schwierigkeiten
zu bringen. Denn das angeschnittene Thema, eine zu vollziehende
« Reform » der Sonder-Rentenkassen in den öffentlichen Diensten
bzw. öffentlichen Versorgungsunternehmen, könnte sich mit dem
Thema der Privatisierung von Gaz de France zu einer « explosiven
Mischung » verbinden. Diese Befürchtung in solchen und ähnlichen
Worten, mnache UMP-Abgeordnete wie der Vize-Parlamentspräsident
Yves Bur anlässlich einer Sitzung des Fraktionsvorstands am 12.
September. (Vgl. ‘Les Echos’ vom 13. September) Vor allem
Villepin-Anhänger trugen es als kaum verhüllten Vorwurf vor. Die
von ihnen zunächst befürchtete (soziale) « Explosion » ist nun
aber bisher nicht eingetreten.
Der ehemalige Arbeits- und Sozialminister (2002 bis 04) François
Fillon, der jetzt als Berater des Kandidaten Nicolas Sarkozy
fungiert, hatte in einem Interview mit der besseren
Boulevardzeitung ‘Le Parisien’ vom 12. September geäubert,
die so genannten Sonderkassen bei den Renten müssten « bald nach
Anfang der kommenden Legislaturperiode (die im Juni 2007
anfängt, Am. B.S.) reformiert » werden. Dieses Vorhaben werde
auch im UMP-Programm für die (Präsidentschafts- und
Parlaments-)Wahlen im kommenden Frühjahr drin stehen.
Im
Hintergrund steht die Tatsache, dass bisher alle Regierungen in
den letzten 15 Jahren daran gescheitert sind,
diese « Sonderkassen » anzutasten. Der damalige konservative
Premierminister Alain Juppé musste ein solches Vorhaben im
Dezember 1995, nach einem vierwöchigen Streik in allen
öffentlichen Diensten, zurückziehen. Anlässlich der allgemeinen
« Rentenreform » vom Juli 2003 musste diese Frage, unter dem
Druck der erheblichen sozialen Proteste (April bis Juni 2003),
erneut ausgeklammert werden. Die « Sonderkassen », das sind die
Rentenkassen der Beschäftigten in groben
öffentlichen (Versorgungs-)Unternehmen wie La Poste, der
Eisenbahngesellschaft SNCF, der Verkehrsbetriebe im Grobraum
Paris (RATP), der Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF.
Deren Beschäftigte genieben
einige besondere Rechtspositionen o. Vergünstigungen, die
historisch erkämpft worden sind. In der Regel sind die
Berechnungsmodalitäten (im Hinblick auf den letzten Lohn vor der
Pensionierung usw.) günstiger als im allgemeinen System. In
manchen Fällen sind zudem besondere Bestimmungen im Hinblick auf
das Rentenalter vorgesehen. Dies gilt insbesondere für die
Eisenbahner/innen, die mit 55 Jahren (das Zugführerpersonal mit
50) in Rente gehen dürfen. Das war historisch einmal dadurch
begründet, dass die Arbeit auf den Dampflokomotiven körperliche
Schwerstarbeit war. Es lässt sich allerdings im Prinzip nach wie
vor damit rechtfertigen, dass die Arbeit des fahrenden Personals
bei der Eisenbahn regelmäbigste
Samstags-, Sonntags- und in den Urlaubsperioden (aufgrund der in
Frankreich dann eingesetzten Sonderzüge) oft besonders intensive
Arbeit beinhaltet. Zudem sind die Löhne in den öffentlichen
Diensten in der Regel deutlich niedriger als die für Angestellte
bezahlten Gehälter im Privatsektor.
Fast alle diese Sonderkassen sind inzwischen, als eigene Kassen,
aufgelöst und in das allgemeine Rentenkassensystem integriert
worden. Der Grund dafür ist, dass viele gröbere
öffentliche Versorgungsunternehmen (wie EDF und GDF) inzwischen
für Privatkapital als Teilhaber am Gesellschaftskapital
« geöffnet » worden sind. In anderen Fällen konnte sich das
Privatkapital nicht direkt in die Anteile einkaufen, aber die
Unternehmen sind zunehmend in einem Umfeld
privatwirtschaftlicher Konkurrenz aktiv wie die Bahn (bisher nur
im Bereich des Gütertransports). Deshalb wurden die bisherigen
eigenen Rentenkassen für die jeweiligen Beschäftigten zum
« wirtschaftlichen Klotz am Bein » für diese Unternehmen
erklärt. Darum wurden, bzw. werden sie zur Zeit noch im Falle
der Post) in das allgemeine Rentensystem überführt.
Im
allgemeinen Sektor gilt allerdings derzeit die Regel, die durch
die Balladur-Reform von 1993 (damals nur für die
Privatbeschäftigten, aufgrund der leichteren politischen
Durchsetzbarkeit und auch mit der Absicht, einen Keil zwischen
öffentlich Bedienstete und Privatbeschäftigte zu treiben)
durchgesetzt worden ist, dass 40 Beitragsjahre einbezahlt haben
muss, wer einen vollen Rentensatz beziehen möchte. Infolge der
« Fillon-Reform » von 2003 wird diese Zahl der erforderlichen
Beitragsjahr nunmehr im Laufe des kommenden Jahrzehnts
schrittweise auf 42 Jahre angehoben werden.
Vor diesem Hintergrund entfaltet die bürgerliche Rechte einen
immer stärkeren « Neiddiskurs », der mit dem Finger darauf
hinweist, dass es da doch « ungerecht » sei, wenn die
Angehörigen der bisherigen « Sonderkassen » nach wie vor n u r
37,5 volle Beitragsjahre einbezahlt haben müssen. (Diese 37,5
Beitragsjahre waren vor der konservativen « Reform » von 1993
die Regel für a l l e Beschäftigten im Lande. Historisch hatten
die arbeits- und sozialrechtlichen Normen in den öffentlichen
Diensten und Unternehmen einmal dazu gedient, schrittweise auch
die Bedingungen für die Privatbeschäftigten « nach oben zu
ziehen ». Jetzt wird genau die gegenteilige Bewegung
unternommen: Der Hinweis darauf, dass man die Bedingungen für
die Privatbeschäftigten bereits erfolgreich nach unten drücken
konnte, wird dazu benutzt, um mit Fingern auf die
« Privilegierten » und Faulen in den öffentlichen Diensten zu
zeigen.) ‘Le Parisien’ hat, auf die Seite neben dem Interview
mit François Fillon ihrer Ausgabe vom 12. September 06 gestellt,
gleich passend dazu auch eine Leserumfrage parat. Die Mehrheit
der Befragten – muss man dies noch extra betonen ? - äubert
dabei, es sei unnormal und ungerecht, wenn die von den
« Sonderkassen » Betroffenen früher in Rente gehen dürften...
Die Zeitbombe, die durch die « Reform » von 1993 gelegt worden
ist, beginnt also offenbar zu ticken.
Trotz allem finden viele Protagonisten der konservativ-liberalen
Politik (oder demonstrieren es zumindest nach auben
hin), es sei gewagt und riskant, dass François Fillon nunmehr
eine solche Debatte in Vorwahlzeiten eröffne. Die
Parteisprecherin der UMP, Valérie Pécresse, etwa erklärte (laut
‘La Tribune’ vom 13. September) die Äuberungen
ihres Parteikollegen erst einmal zur « Privatmeinung ».
Allerdings hat Nicolas Sarkozy inzwischen persönlich nachgelegt,
und öffentlich erklärt, es sei nicht « normal, dass die Einen 40
Beitragsjahre einzahlen und die anderen nur 37,5 Jahre
bezahlen » (laut ‘Le Monde’ vom 16. September). Offenkundig hat
man also nunmehr damit begonnen, zwei oder drei Testballons
steigen zu lassen, um noch vor Beginn der « heiben
Phase » des Wahlkampfs -– wo das Hereinplatzen einer Polemik
schädlich sein könnte -- die Reaktionen auszutesten.
Die Gewerkschaften sind derzeit eher vorsichtig, da sie
befürchten, aufgrund ihrer Präsentation als Verteidigten von
« überkommenen Privilegien » in der öffentlichen Meinung
potenziell einen schweren Stand zu haben. Der Chef der
CGT-Eisenbahner, Didier Le Reste, erklärte zwar, es sei nicht
einzusehen, warum man « 2006 hinnehmen solle, was man 2003 mit
der Fillon-Reform oder 1995 mit der Juppé-Reform » (erfolgreich)
bekämpft habe. Aber die Gewerkschaften in den öffentlichen
Diensten planen bisher keine spezifische Protestbewegung zu
dieser Frage, um nicht anhand der Ungleichheits-Debatte in die
Defensive gedrängt werden zu können. Im Oktober war ohnehin ein
Aktionstag (und wohl 24stündiger Streik) zu einem Bündel von
Themen geplant, das u.a. die Liberalisierung des Gütertransports
und den Erhalt von Arbeitsplätzen beinhaltet. Ein Treffen
zwischen Gewerkschaften bei der SNCF hat dazu am 6. September
stattgefunden. Nun könnte die Frage der Verteidigung der
Rentensysteme auch darin aufgenommen werden.
Und die öffentliche Meinung ?
Laut einer ersten Umfrage, die in ‘Le Parisien’ (vom 15.
September) publiziert wurde, stünden 59 % der Befragten einer
« Reformierung » der Rentensysteme nach den bisherigen
Sonderkassen positiv gegenüber. Das riecht nach einem eher
ungünstigen Stand.
Hingegen ist die Privatisierung von GDF durchaus unpopulär. Laut
einer Umfrage, die in der Wirtschaftszeitung ‘Les Echos’ vom 12.
September erschien, sind nur 12 % der Befragten ohne weitere
Zusätze « für eine Privatisierung ». Dagegen befürworten 43 %
eine Teilprivatisierung dann, « wenn die öffentliche Hand die
Mehrheitsanteile behält » (das entspricht dem derzeitigen Stand,
wie er seit 2004 eingetreten ist -- während der öffentliche
Anteil nunmehr aber auf ein Drittel gesenkt werden soll, nach
dieser Variante war aber nicht spezifisch gefragt worden). 38
Prozent erklären sich demnach « gegen jede Privatisierung ».
Editorische Anmerkungen
Den Artikel erhielten wir am 3.10.06 vom
Autor zur Veröffentlichung.