Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

‘Reformen’ über ‘Reformen’

10/06

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Weg frei für die Privatisierung des Energieversorgers Gas de France (GDF). Regierungsversprechen von 2004 gebrochen. Und die nächste «Rentenreform» kommt bestimmt... 

Ein wichtiges Hindernis für die konservativ-liberale Regierung in Paris ist aus dem Weg geräumt: Die parlamentarische Opposition hat vor 14 Tagen voriger Woche ihre « Blockadehaltung » aufgegeben. Damit ist der Weg dafür frei, die Debatte über die Privatisierung des französischen Energieversorgungsunternehmens GDF (Gaz de France) zum Abschluss zu bringen. An diesem Dienstag, den 3. Oktober, folgt am Nachmittag ein « feierliches Votum » der französischen Nationalversammlung über die GDF-Privatisierung. Parallel dazu finden Protestdemonstrationen der Beschäftigten statt, u.a. in Paris ab 11.30 Uhr am späten Vormittag. 

Der «Kompromiss» zwischen konservativem Regierungsblock und Parlamentsopposition ergibt sich aus einem Abkommen, das Parlamentspräsident Jean-Louis Debré (UMP) mit den Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokratie und der KP, Jean-Marc Ayrault und Alain Bocquet, abschloss. Eine Minderheit innerhalb der sozialistischen Parlamentsfraktion widersprach dem allerdings noch, und lieferte hinhaltende parlamentarische Rückzugsgefechte. 

Bis dahin hatten die Abgeordneten der beiden Linksparteien eine so genannte «parlamentarische Guerilla» (doch doch, soll’s geben) vollführt. Diese bestand darin, systematisch Tausende von Gegenanträgen zu jedem einzelnen Punkt des Gesetzentwurfs über GDF zu produzieren und dadurch den Beratungsprozess hinauszuzögern. Insgesamt waren rund 137.500 Gegenanträge präsentiert worden. Die KP-Fraktion hatte beispielsweise allein anderthalbtausend Gegenanträge zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzentwurfs gestellt: Im ersten stand, dass das Gesetz einen Monat später in Kraft treten solle, dem zweiten zufolge sollte es zwei Monate später in Kraft treten, dem dritten zufolge... usw. Als die Parlamentsdebatte vor nunmehr drei WOchen anfing, ergab sich somit für die Medien und die Beobachter das beindruckende Bild, dass eine Wand von weiben Zettel auf dem Tisch des Parlamentspräsidenten Jean-Louis Debré aufgebaut worden war: Es handelte sich um den Berg von Anträgen der Opposition, auf  zwanzig Stapel verteilt. Debré hatte den Fotographen freilich absichtlich diese Vision präsentiert, um nämlich der Öffentlichkeit vorzuführen, wie « verantwortunglos » die Parlamentsopposition sei. 

Nun haben beide Seiten ihre Spezialeffekte eingestrichen: Die Einen haben ihre «strikte Oppositionshaltung» unter Beweis gestellt, die Anderen die «Verantwortungslosigkeit» ihrer Opponenten demonstriert. Danach hat sich die parlamentarische Taktik dann allerdings rasch erschöpft. Zum Einen mussten die Oppositionsabgeordneten ihre Anträge oftmals vor leeren Rängen vortragen und (mit sich selbst) «diskutieren», was auf die Dauer auch langweilig wird. Zum Anderen aber blieb die Mobilisierung auf der Strabe gegen die Privatisierung von Gaz de France hinter den Möglichkeiten und hinter manchen Erwartungen zurück. Zwar tritt eine Mehrheit der insgesamt circa 53.000 GDF-Beschäftigten (hinzu kommen 116.500 beim gröberen Energieversorger Electricité de France, EDF) gegen die Privatisierung ein. Bei einem Referendum über die geplante Privatisierung unter den abhängig Beschäftigten bei GDF, die durch die beiden Gewerkschaften CGT und FO kurz vor Eröffnung der Parlamentsdebatte durchgeführt worden war, hatten 60 % teilgenommen und 94 % der Abstimmenden mit NEIN votiert. Aber am Aktionstag vom 12. September nahmen laut Angaben der GDF-Direktion circa 24 % des Personals durch Arbeitsniederlegungen teil. Gleichzeitig hielten sich die Demonstrationen der Beschäftigten in Grenzen, mit 2.600 (nach Polizeiangaben) bis 7.000 (laut Veranstaltern) TeilnehmerInnen in Paris und je einigen Hundert in anderen französischen Städten. Um die geplante Privatisierung zu verhindern, konnte dies nicht genügen. 

Im Hintergrund: Dominique de Villepins «Wirtschaftspatriotismus» 

Im Hintergrund des Privatisierungsvorhabens steht die Absicht der französischen Regierung, eine ausländische «feindliche Übernahme» bei einem anderen Konzern des Landes zu verhindern, dem französisch-belgischen Energie-, Umwelt- und Wasserkonzern Suez. Anfang dieses Jahres war bekannt geworden, dass das italienische Energieversorgungsunternehmen ENEL ein Übernahmeangebot für Suez unterbreiten wolle. Dies gab Anlass zu der Befürchtung, dass der Mischkonzern in seine Einzelbestandsteile zerlegt werden könnte.  

Dem aber wollte die Regierung in Paris einen Riegel vorschieben. Stattdessen regte das französische Kabinett, als Alternativprojekt für Suez – dessen Eigenkapital ihm nicht genügend Widerstandskräfte gegen ein Übernahmeangebot verleiht -, einen Zusammenschluss mit dem französischen Gasversorgungsunternehmen GDF (Gaz de France) mit 53.000 Beschäftigten an.  

Einer der Haken dabei ist, dass die französische Regierung dabei ein Versprechen brechen muss, das sie noch im Jahre 2004 hoch und heilig abgab: Den öffentlichen Energieversorger GDF nicht vollständig zu privatisieren. Damals war der Anteil der öffentlichen Hand von zuvor 100 % auf noch 70 Prozent reduziert worden. Der damalige Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy – jetzt Innenminister - gab damals sein ausdrückliches Wort, dass der Staatsanteil nicht weiter abgebaut werden würde. Anlässlich der Protestdemonstration vom 3. Oktober, dem Tag des Parlamentsvotums, wurde die Szene (die sich während eines Besuchs Sarkozys im Atomkraftwerk von Chinon abspielte) nochmals auf den Pariser Straben ausgestrahlt. Aus ähnlichen Gründen hatte Präsidentschaftskandidat Sarkozy im Laufe des Sommers 2006 auch noch demonstrativ bekundet, dass er dem jetzigen Beschluss zur GDF-Privatisierung kritisch gegenüber stünde und dass er nach Alternativen suche: Der Mann wollte schlicht verhindern, dass ihm der erfolgte Wortbruch im kommenden Wahlkampf um die Ohren gehauen würde. Vorige Woche rief Sarkozy allerdings seine Anhänger im Regierungslager dazu auf, für den Parlamentsbeschluss zur GDF-Privatisierung zu stimmen; allgemein wurde erwartete, dass der gröbte Teil der Abgeordneten seiner Partei für die Annahme des Beschlusses votieren werde. Mit ihm wird der Anteil der öffentlichen Hand an dem Energieversorger auf nur noch ein Drittel gesenkt. 

Manche kritischen Stimmen, etwa vom linken Flügel der Sozialdemokratie, vertreten allerdings die Auffassung, dass der französische Staat genau diese Situation provozieren wollte, um die seit längerem geplante Privatisierung doch noch durchsetzen zu können. Die geplante Fusion von Gaz de France mit Suez habe dafür nur den geeigneten Vorwand geliefert. 

Ein weiterer Haken an der Sache war, dass Italien energisch protestierte und sich auf die Ungleichbehandlung der wirtschaftlichen Akteure berief. Tatsächlich hat Electricité de France (EDF) in den letzten Jahren massiv auf der Appeninhalbinsel investiert und kontrolliert rund ein Fünftel des italienischen Energiemarkts. Der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi protestierte im Februar energisch. Auch anlässlich des Antrittsbesuchs, den der neue Regierungschef Romando Prodi am 13. Juni in Paris absolvierte, wurde die Angelegenheit thematisiert. Der französische Präsident jacques Chirac berief sich gegenüber Prodi darauf, die Anteile der italienischen Auslandsinvestitonen in Frankreich (18 Prozent) und an französischen Invesititionen in Italien (21 Prozent) seien ungefähr gleich grob. Von Diskriminierung möge man deshalb nicht sprechen.  

Aus Anlass der Suez-Fusion grub die französische Regierung den so genannten patriotisme économique wieder aus, den Premierminister Dominique de Villepin im Juli 2005 ausgerufen hatte. Damals ging es darum, gegen die angeblich geplante – aber nie bestätigte -  Übernahmeabsicht des US-Konzerns PepsiCo für den französischen Nahrungsmittelproduzenten Danone zu mobilisieren.  

Rückblick auf einen groben Fake, der den «Patriotisme économique» gebar 

Vor diesem Hintergründ tönte Premierminister de Villepin damals bei einer Pressekonferenz wortgewaltig, es gehe darum, «sämtliche Energien rund um einen wahrhaften Wirtschaftspatriotismus zu sammeln und zu bündeln».  

Doch die Nachricht vom Übernahmeangebot, die dem Vorstob des Regierungschefs zugrunde lag, hatte sich schon zuvor als Gerücht erwiesen. Sie war sowohl durch Danone selbst als auch durch PepsiCo gegenüber der Börsenaufsichtsbehörde dementiert worden. Die Information darüber war ursprünglich, am 07. Juli 2005, durch das Wirtschaftsmagazin Challenges veröffentlicht worden, ohne Quellenangabe, und mit zahlreichen «sol» und «angeblich» versehen. Das Gerücht war immerhin stark genug, dass Präsident Jacques Chirac sich in seiner Rede zum Nationalfeiertag vom 14. Juli vorigen Jahres im Fernsehen über die «Risiken, dass ausländische Kapitalinhaber die Kontrolle über französische Unternehmen übernehmen» besorgt zeigte. Frankreich hatte seine Heuschreckendebatte, in Anlehnung an die wahlkampfträchtigen Warnungen des deutschen SPD-Chefs Franz Müntefering vor ausländischen Finanzinvestoren...  

Pikant daran war, unter anderem, aus welcher Quelle die Information gestreut worden war. Challenges ist eine Filiale des Presseverlags, in dem das sozialliberale Wochenmagazin Le Nouvel Observateur (Nouvel Obs) erscheint. Die damalige Chefredakteurin des Nouvel Obs, Christine Mital, die auch regelmäbig in der Wochenzeitschrift Challenges schrieb und dort als Beraterin der Redaktion fungierte, war aber niemand anders als die Mit-Konzernerbin von Danone: Sie war die Tochter des Danone-Gründers Antoine Riboud, der 2002 verstorben ist. Ihr Bruder Franck Riboud hatte die Nachfolge des Industriekapitäns an der Konzernspitze angetreten, und Christine Mital hielt eine stattliche Anzahl von Aktien an dem Unternehmen. Am 26. Januar dieses Jahres starb sie selbst an einem Herzinfarkt.  

Der hauptsächliche Gewinner bei dieser sommerlichen Aufregung war natürlich die Danone-Spitze um Franck Riboud – und dies sowohl auf materieller, ökonomischer Ebene als auch auf ideologisch-symbolischer Ebene. Was das Materielle betrifft, so war zunächst einmal ein Anstieg des Aktienkurses unmittelbar nach der Ankündigung des Gerüchts zu verzeichnen. Bei «feindlichen Übernahmeangeboten» versucht ja ein anderes Wirtschaftsunternehmen, sich gegen den Willen ihrer eigenen Unternehmensführung in das Aktienkapital einer Gesellschaft einzukaufen. Und dafür muss es den Aktionären stattliche Preise bieten, um sein Angebot verlockend erscheinen zu lassen; der Aktienpreis wird also in die Höhe getrieben. 

Auf ideologischer und symbolischer Ebene zog die Danone-Spitze ebenfalls ihren Nutzen aus der Affäre. Dabei war gerade Danone – weit entfernt davon, ein leuchtendes Beispiel humaner und sozial verträglicher Unternehmenspraktiken abzugeben – wenige Jahre zuvor aufgrund eigener Unternehmensentscheidungen in der Öffentlichkeit angeprangert worden. Im Frühjahr 2001 hatte es in Frankreich eine landesweite Boykottkampagne gegen Danone-Produkte gegeben, nachdem der Konzern trott steigender Börsengewinne beschloss, zwei «nicht genügend rentable» Firmen mit übr 800 Beschäftigten dicht zu machen. Nunmehr schien die Erinnerung daran wie weg gewischt. Die Pariser Tageszeitung Libération schrieb dazu am 21. Juli 2005: «(Generaldirektor) Franck Riboud, der damals als ein Monster durchging, als er die LU-Fabriken dicht machen lieb, wird zu einer Art Jeanne d’Arc der Nahrungsmittelindustrie». 

Eine romantisierende Sichtweise, die Danone als Repräsentanten der bedrohten französischen Nationalkultur sah, der als kleiner David vom nordamerikanischen Goliath besiegt zu werden drohte, wurde damals sogar von Danone-Chef Franck Riboud selbst dementiert. Mehrfach wiederholte er sinngemäb gegenüber der französischen oder internationale Presse, was er im Wirtschaftsmagazin Challenges erklärte: «Die Nationalität von Danone, ist Danone. Der französische Markt vertritt 22 Prozent unseres Umsatzes, dieser Anteil wird abnehmen. Frankreich ist (für uns) ein Land wie jedes andere.» Danone beschäftigt heute weltweit 90.000 Mitarbeiter, darunter nur noch 4.000 in Frankreich. So viel Sinn hat «Patriotismus» heuzutage auf wirtschaftlicher Ebene.  

Die nächste « Rentenreform » kommt bestimmt 

Unterdessen hat das Sarkozy-Lager innerhalb des regierenden bürgerlich-konservativen Blocks schon das nächste Fass aufgemacht, im Sinne einer zu ergreifenden wirtschaftsliberalen Reform.  

Manche Beobachter munkelten ja zunächst, die Sarkozy-Anhänger hätten es just zu diesem Zeitpunkt geöffnet, um den amtierenden Regierungschef de Villepin (der immer noch sein Rivale im Hinblick auf eine mögliche zweite Präsidentschaftskandidatur auf der bürgerlichen Rechten ist, zumal die Umfragewerte de Villepins sich seit dem Spätsommer um rund 10 Prozentpunkte verbessert haben) bei der GDF-Privatisierung in Schwierigkeiten zu bringen. Denn das angeschnittene Thema, eine zu vollziehende « Reform » der Sonder-Rentenkassen in den öffentlichen Diensten bzw. öffentlichen Versorgungsunternehmen, könnte sich mit dem Thema der Privatisierung von Gaz de France zu einer « explosiven Mischung » verbinden. Diese Befürchtung in solchen und ähnlichen Worten, mnache UMP-Abgeordnete wie der Vize-Parlamentspräsident Yves Bur anlässlich einer Sitzung des Fraktionsvorstands am 12. September. (Vgl. ‘Les Echos’ vom 13. September) Vor allem Villepin-Anhänger trugen es als kaum verhüllten Vorwurf vor. Die von ihnen zunächst befürchtete (soziale) « Explosion » ist nun aber bisher nicht eingetreten. 

Der ehemalige Arbeits- und Sozialminister (2002 bis 04) François Fillon, der jetzt als Berater des Kandidaten Nicolas Sarkozy fungiert, hatte in einem Interview mit der besseren Boulevardzeitung ‘Le Parisien’ vom 12. September geäubert, die so genannten Sonderkassen bei den Renten müssten « bald nach Anfang der kommenden Legislaturperiode (die im Juni 2007 anfängt, Am. B.S.) reformiert » werden. Dieses Vorhaben werde auch im UMP-Programm für die (Präsidentschafts- und Parlaments-)Wahlen im kommenden Frühjahr drin stehen.  

Im Hintergrund steht die Tatsache, dass bisher alle Regierungen in den letzten 15 Jahren daran gescheitert sind, diese « Sonderkassen » anzutasten. Der damalige konservative Premierminister Alain Juppé musste ein solches Vorhaben im Dezember 1995, nach einem vierwöchigen Streik in allen öffentlichen Diensten, zurückziehen. Anlässlich der allgemeinen « Rentenreform » vom Juli 2003 musste diese Frage, unter dem Druck der erheblichen sozialen Proteste (April bis Juni 2003), erneut ausgeklammert werden. Die « Sonderkassen », das sind die Rentenkassen der Beschäftigten in groben öffentlichen (Versorgungs-)Unternehmen wie La Poste, der Eisenbahngesellschaft SNCF, der Verkehrsbetriebe im Grobraum Paris (RATP), der Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF. Deren Beschäftigte genieben einige besondere Rechtspositionen o. Vergünstigungen, die historisch erkämpft worden sind. In der Regel sind die Berechnungsmodalitäten (im Hinblick auf den letzten Lohn vor der Pensionierung usw.) günstiger als im allgemeinen System. In manchen Fällen sind zudem besondere Bestimmungen im Hinblick auf das Rentenalter vorgesehen. Dies gilt insbesondere für die Eisenbahner/innen, die mit 55 Jahren (das Zugführerpersonal mit 50)  in Rente gehen dürfen. Das war historisch einmal dadurch begründet, dass die Arbeit auf den Dampflokomotiven körperliche Schwerstarbeit war. Es lässt sich allerdings im Prinzip nach wie vor damit rechtfertigen, dass die Arbeit des fahrenden Personals bei der Eisenbahn regelmäbigste Samstags-, Sonntags- und in den Urlaubsperioden (aufgrund der in Frankreich dann eingesetzten Sonderzüge) oft besonders intensive Arbeit beinhaltet. Zudem sind die Löhne in den öffentlichen Diensten in der Regel deutlich niedriger als die für Angestellte bezahlten Gehälter im Privatsektor. 

Fast alle diese Sonderkassen sind inzwischen, als eigene Kassen, aufgelöst und in das allgemeine Rentenkassensystem integriert worden. Der Grund dafür ist, dass viele gröbere öffentliche Versorgungsunternehmen (wie EDF und GDF) inzwischen für Privatkapital als Teilhaber am Gesellschaftskapital « geöffnet » worden sind. In anderen Fällen konnte sich das Privatkapital nicht direkt in die Anteile einkaufen, aber die Unternehmen sind zunehmend in einem Umfeld privatwirtschaftlicher Konkurrenz aktiv wie die Bahn (bisher nur im Bereich des Gütertransports). Deshalb wurden die bisherigen eigenen Rentenkassen für die jeweiligen Beschäftigten zum « wirtschaftlichen Klotz am Bein » für diese Unternehmen erklärt. Darum wurden, bzw. werden sie zur Zeit noch im Falle der Post) in das allgemeine Rentensystem überführt. 

Im allgemeinen Sektor gilt allerdings derzeit die Regel, die durch die Balladur-Reform von 1993 (damals nur für die Privatbeschäftigten, aufgrund der leichteren politischen Durchsetzbarkeit und auch mit der Absicht, einen Keil zwischen öffentlich Bedienstete und Privatbeschäftigte zu treiben) durchgesetzt worden ist, dass 40 Beitragsjahre einbezahlt haben muss, wer einen vollen Rentensatz beziehen möchte. Infolge der « Fillon-Reform » von 2003 wird diese Zahl der erforderlichen Beitragsjahr nunmehr im Laufe des kommenden Jahrzehnts schrittweise auf 42 Jahre angehoben werden. 

Vor diesem Hintergrund entfaltet die bürgerliche Rechte einen immer stärkeren « Neiddiskurs », der mit dem Finger darauf hinweist, dass es da doch « ungerecht » sei, wenn die Angehörigen der bisherigen « Sonderkassen » nach wie vor n u r 37,5 volle Beitragsjahre einbezahlt haben müssen. (Diese 37,5 Beitragsjahre waren vor der konservativen « Reform » von 1993 die Regel für a l l e Beschäftigten im Lande. Historisch hatten die arbeits- und sozialrechtlichen Normen in den öffentlichen Diensten und Unternehmen einmal dazu gedient, schrittweise auch die Bedingungen für die Privatbeschäftigten « nach oben zu ziehen ». Jetzt wird genau die gegenteilige Bewegung unternommen: Der Hinweis darauf, dass man die Bedingungen für die Privatbeschäftigten bereits erfolgreich nach unten drücken konnte, wird dazu benutzt, um mit Fingern auf die « Privilegierten » und Faulen in den öffentlichen Diensten zu zeigen.) ‘Le Parisien’ hat, auf die Seite neben dem Interview mit François Fillon ihrer Ausgabe vom 12. September 06 gestellt, gleich passend dazu auch eine Leserumfrage parat. Die Mehrheit der Befragten – muss man dies noch extra betonen ? - äubert dabei, es sei unnormal und ungerecht, wenn die von den « Sonderkassen » Betroffenen früher in Rente gehen dürften... Die Zeitbombe, die durch die « Reform » von 1993 gelegt worden ist, beginnt also offenbar zu ticken. 

Trotz allem finden viele Protagonisten der konservativ-liberalen Politik (oder demonstrieren es zumindest nach auben hin), es sei gewagt und riskant, dass François Fillon nunmehr eine solche Debatte in Vorwahlzeiten eröffne. Die Parteisprecherin der UMP, Valérie Pécresse, etwa erklärte (laut ‘La Tribune’ vom 13. September) die Äuberungen ihres Parteikollegen erst einmal zur « Privatmeinung ».  

Allerdings hat Nicolas Sarkozy inzwischen persönlich nachgelegt, und öffentlich erklärt, es sei nicht « normal, dass die Einen 40 Beitragsjahre einzahlen und die anderen nur 37,5 Jahre bezahlen » (laut ‘Le Monde’ vom 16. September). Offenkundig hat man also nunmehr damit begonnen, zwei oder drei Testballons steigen zu lassen, um noch vor Beginn der « heiben Phase » des Wahlkampfs -– wo das Hereinplatzen einer Polemik schädlich sein könnte --  die Reaktionen auszutesten. 

Die Gewerkschaften sind derzeit eher vorsichtig, da sie befürchten, aufgrund ihrer Präsentation als Verteidigten von « überkommenen Privilegien » in der öffentlichen Meinung potenziell einen schweren Stand zu haben. Der Chef der CGT-Eisenbahner, Didier Le Reste, erklärte zwar, es sei nicht einzusehen, warum man « 2006 hinnehmen solle, was man 2003 mit der Fillon-Reform oder 1995 mit der Juppé-Reform » (erfolgreich) bekämpft habe. Aber die Gewerkschaften in den öffentlichen Diensten planen bisher keine spezifische Protestbewegung zu dieser Frage, um nicht anhand der Ungleichheits-Debatte in die Defensive gedrängt werden zu können. Im Oktober war ohnehin ein Aktionstag (und wohl 24stündiger Streik) zu einem Bündel von Themen geplant, das u.a. die Liberalisierung des Gütertransports und den Erhalt von Arbeitsplätzen beinhaltet. Ein Treffen zwischen Gewerkschaften bei der SNCF hat dazu am 6. September stattgefunden. Nun könnte die Frage der Verteidigung der Rentensysteme auch darin aufgenommen werden.

Und die öffentliche Meinung ?  

Laut einer ersten Umfrage, die in ‘Le Parisien’ (vom 15. September) publiziert wurde, stünden 59 % der Befragten einer « Reformierung » der Rentensysteme nach den bisherigen Sonderkassen positiv gegenüber. Das riecht nach einem eher ungünstigen Stand. 

Hingegen ist die Privatisierung von GDF durchaus unpopulär. Laut einer Umfrage, die in der Wirtschaftszeitung ‘Les Echos’ vom 12. September erschien, sind nur 12 % der Befragten ohne weitere Zusätze « für eine Privatisierung ». Dagegen befürworten 43 % eine Teilprivatisierung dann, « wenn die öffentliche Hand die Mehrheitsanteile behält » (das entspricht dem derzeitigen Stand, wie er seit 2004 eingetreten ist -- während der öffentliche Anteil nunmehr aber auf ein Drittel gesenkt werden soll, nach dieser Variante war aber nicht spezifisch gefragt worden). 38  Prozent erklären sich demnach « gegen jede Privatisierung ».

 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 3.10.06 vom Autor zur Veröffentlichung.